Pekka Pitkänen: A Commentary on Numbers
Pekka Pitkänen: A Commentary on Numbers. Narrative, Ritual, and Colonialism, Routledge Studies in the Biblical World, London / New York: Routledge, 2018, Pb., xiv+253 S., £ 36.99, ISBN 978-1-138-70657-6
Pekka Pitkänen, Senior Lecturer an der University of Gloucestershire, weckt mit dem Titel seines Numeri-Kommentars hohe Erwartungen. Vor allem das Stichwort „Colonialism“ lässt auf einen Entwurf hoffen, der die als problematisch empfundenen Landnahmetexte angemessen behandelt und für die Lebenswelt heutiger Leser auslegt.
In der gut 50 Seiten umfassenden Einleitung zeichnet P. zunächst kurz die Forschungsgeschichte zur Entstehung des Pentateuch bzw. Hexateuch nach, wobei auch Überlegungen zur Historizität der „Landnahme“ einfließen (3–7). Ein Problem der seit Wellhausen etablierten Entstehungstheorien sieht P. darin, dass den Texten Kohärenz und Autorenintention abgesprochen werden. Im Anschluss an Kuhn (The Structure of Scientific Revolutions, 1962) hält er fest, dass die heute zu beobachtende Aufsplitterung in immer komplizierter werdende redaktionsgeschichtliche Theorien ein Anzeichen für den Niedergang des gesamten Paradigmas sein kann. Mit Kilchör (Mosetora und Jahwetora, 2015) stellt er eine Diskrepanz fest zwischen der postulierten Entstehungsreihenfolge der Gesetzestexte und ihrer Anordnung in der finalen Pentateuchredaktion. Im Anschluss an Kitchen und Lawrence (Treaty, Law and Covenant, 2012) hält P. die von Wellhausen propagierte Auffassung einer religionsgeschichtlichen Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen für überholt (8–10).
Der von P. vertretene Ansatz lässt sich wie folgt zusammenfassen: 1. Annahme von Kohärenz im Hexateuch-Gesamtwerk unter der Voraussetzung, dass verschiedene Quellen verarbeitet wurden (für die Komposition setzt P. zwei verschiedene „Autoren“ für Gen-Num und Dtn-Jos voraus); 2. kein Anspruch, im Kommentar alle mutmaßlichen Redaktionsschichten zu isolieren; 3. Annahme eines hohen Alters der Texte (spätes 2. Jahrtausend), aber nicht einer mosaischen Verfasserschaft, dabei Zugeständnis möglicher partieller Fiktionalität (14–15, 18, 21, 37–38, 47). Die Annahme des hohen Alters wird im Kommentarteil immer wieder durch archäologische Daten plausibel gemacht.
Das Besondere dieses Kommentars ist der Anspruch, sozialwissenschaftliche Theorien in die Auslegung zu integrieren, speziell „migration studies“ und „settler colonial studies“ (40–48), was den Kommentar im Bereich des „postcolonial criticism“ verortet (15). Damit kommen Themen wie „Gewalt“ und „Genozid“ in den Vordergrund, die ja gerade bei Texten des Numeribuches – neben solchen aus Deuteronomium und Josua – als besonders problematisch empfunden werden. Die Texte des Hexateuch stimmen nach P. mit den Forschungen über „settler colonialism“ darin überein, dass die einheimische Gesellschaft beseitigt und durch Institutionen der Siedler ersetzt wird. P. betrachtet die Darstellung Israels in diesen Texten als eine programmatische Darstellung der Schreiber, die zeigen soll, wie die neu gegründete israelitische Gesellschaft sein sollte (45–47). Diese These ist anregend und scheint anzudeuten, dass ein Genozid der einheimischen Bevölkerung Kanaans nur in den Texten erwähnt wird, aber nicht tatsächlich stattfand. Leider sind die Ausführungen in dieser Hinsicht nicht eindeutig genug. Dass Texte, die zu Gewalt aufrufen, aus ethischer Sicht problematisch sind (auch mit der eben vorgetragenen These zur Textentstehung), räumt P. mehrfach ein. Ein angemessener Umgang mit diesen Texten werde durch den Ansatz des „reader response criticism“ ermöglicht, der es erlaubt, etwa Num 31 als Negativmodell für die heutige Praxis anzusehen (48, 189). Daraus ergeben sich dann deutliche politische Statements, die die Besiedlung des amerikanischen und des australischen Kontinents in der Vergangenheit und die israelische Besiedlung des von Palästinensern bewohnten Landes in der Gegenwart kritisieren (200, 204). Bei aller Sympathie für das Anliegen stellt sich die Frage, ob diese Art der Auslegung den Texten angemessen ist.
Nach diesen Vorbemerkungen ist man gespannt auf die eigentliche Kommentierung. Diese soll allgemeinverständlich sein und hat nicht den Anspruch, alle Details in den Texten zu klären. Dafür wird auf den Kommentar von Milgrom (JPS, 1990) verwiesen (14), der P.s Ausführungen deutlich sichtbar geprägt hat. Die Kommentierung der einzelnen Perikopen ist jeweils in die Abschnitte „Context“, „Comment“ und „Meaning“ gegliedert. Fragen, die der Bibeltext aufwirft, werden am ehesten im Abschnitt „Context“ aufgegriffen, während unter „Comment“ der Text nicht selten lediglich nacherzählt wird. Die mit „Meaning“ überschriebenen Abschnitte versuchen, eine Brücke in die heutige Lebenswelt zu schlagen, erschöpfen sich aber gelegentlich in der knappen Bemerkung, dass eine direkte Übertragung ethisch problematisch wäre (79, 150), oder in Hinweisen auf das Vorkommen mancher Motive im Alten und Neuen Testament (63, 73–74).
Leider bleiben bei der Kommentierung viele Fragen offen, wobei eine Auseinandersetzung mit anderen Meinungen meist fehlt. Einige Beispiele: Die hohen Zahlen in Num 1 und 26 werden ohne Begründung als „intentional exaggeration“ bezeichnet, ohne dass die unterschiedlichen Erklärungsversuche der letzten 120 Jahre (Petrie, Mendenhall etc.) auch nur erwähnt werden (57). Warum nach Num 5,31 den Ehemann unter dem Einfluss des „Eifersuchtsgeistes“ keine Schuld trifft, wenn er das in Num 5,10–31 beschriebene Ritual durchführen lässt, wird aus feministischer Perspektive kritisiert, ohne nach einer Erklärung zu suchen (79), auch wird nicht diskutiert, ob es sich tatsächlich um ein „Ordal“ handelt, wie oft behauptet wird (76). Ist bei der prophetischen Aktivität der Ältesten in Num 11,25 „sie taten es nicht wieder“ (MT, LXX) oder „sie hörten nicht auf“ (Tg) zu übersetzen (109–110)? Überhaupt fragt man sich, welchen Text P. kommentiert. Die verwendete Verszählung, die sich in Num 16–17 ohne Hinweis an englischen Bibelübersetzungen statt an der BHS orientiert (128), legt nahe, dass auch der englische Text kommentiert wird. Was sind die sārāf-Schlangen in Num 21,6 und wie genau „wirkt“ die Bronzeschlange (151)? Ist im dritten und vierten Bileam-Orkal (Num 24,3–9.15–19) ein messianischer Herrscher im Blick (161–163)? Auch strukturelle Fragen wie die, warum in der Endfassung des Numeribuches legislative Texte mit narrativen Texten vermischt sind, werden nicht befriedigend geklärt. P.s Deutung, dass die legislativen Texte keinen kohärenten Block bilden und deshalb nicht als solcher präsentiert werden sollten (27), überzeugt nicht angesichts der Komposition von Num 27–36 (die kaum theologisch ausgewertet wird [210–211]) und der Stellung von Num 15 hinter Num 13–14.
Positiv ist zu würdigen, dass P. auch deutsche Forschungsbeiträge wahrnimmt (R. Achenbach, E. Otto). Allerdings begegnen die umfangreichen Kommentare von Seebass (BKAT, 2003/2007/2012) und Ashley (NICOT, 1993) nur im Literaturverzeichnis. Überraschend ist, dass der wichtige Kommentar von Olson (Int, 1996) nicht einmal dort Erwähnung findet. Dass „migration studies“ die Numeri-Auslegung nachhaltig bereichern können, erscheint dem Rez. fraglich. Dennoch bietet der Kommentar hilfreiche Anregungen.
Prof. Dr. Carsten Ziegert, Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen