Matthias Ederer: Identitätsstiftende Begegnung
Matthias Ederer: Identitätsstiftende Begegnung. Die theologische Deutung des regelmäßigen Kultes Israels in der Tora, FAT 121, Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, Leinen, XVI+609 S., € 154,–, ISBN 978-3-16-155414-8
Eine Habilitationsschrift, die sich auf über 600 Seiten mit den einschlägigen Tamid-Texten beschäftigt, fällt auch einem Alttestamentler nicht alle Tage in die Hände. Nach einer Einleitung (1–14) begrenzt der Verfasser seine Untersuchung auf Tora-Texte, behandelt zunächst die „Tamid-Vollzüge in der Heiligtumstora (Ex 25–31)“ (15–347), dann „Tamid und Kultinauguration“ (348–402) und die „Neukontextualisierung und ‚halachische‘ Entfaltung“ (403–550), bevor er die Ergebnisse zusammenfasst (551–573). Wer dieses Buch in die Hand nimmt, wird wohl nicht nur von diesem ersten Eindruck überrascht. Das Fazit der Untersuchung mag ebenso unerwartet kommen:
„allen in der Tora behandelten Tamid-Vollzügen [ist] gemeinsam …, dass sie – auf je eigene Art und Weise – darstellen und erinnern, was Israel vor JHWH ist bzw. sein soll. Sie erweisen sich gleichsam als ‚Reservoire‘ einer theologisch fundierten Israel-Identität, die in einem regelmäßigen Rhythmus, der zugleich eine spezifische Zeit Israels generiert, im Heiligtum, dem ‚Zentrum‘ Israels, (re-)inszeniert wird und auf diese Weise in der regelmäßigen Begegnung Israels mit JHWH zugleich auch dem Absichern eines ‚Kanons‘ zentraler Elemente dieser Israel-Identität dient.“ (570–571)
Das Unerwartete liegt wohl nicht nur darin begründet, dass die Textzusammenstellung von diesem scheinbar beiläufigen Wort tamid (also von „regelmäßigen“ Kultvollzügen) ausgeht, sondern auch darin, wo eine zentrale Kategorie wie die Identität Israels damit verortet wird: „Interessant – und für moderne Lesende wohl auch befremdlich – ist, dass dies im Rahmen eines kultischen Vollzugs geschieht bzw. geschehen soll.“ (571). Dem kann ich nur zustimmen. Allerdings lädt diese Bemerkung dazu ein, einen Moment innezuhalten und dem nachzugehen, warum das interessant oder gar befremdlich ist. Man kann diesen Gedanken auch auf den Kopf stellen. Das Befremdliche ist, dass es befremdlich wirkt, weil diese Bemerkung wohl mehr über die Lesenden aus als über das Gelesene aussagt.
Der Gedanke von einem kultischen Vollzug ist für viele fremd geworden. Die Aussage, dass in solch einem Vollzug vielleicht Wesentliches über Identität ausgesagt wird oder ausgesagt werden kann, sprengt die Vorstellungskraft vieler Menschen. Man kann hoffen, dass dies nur für Nicht-Theologen gilt. Mein Verdacht ist aber, dass Nicht-Theologen hier kein Monopol innehaben. Wie es auch immer sei, Ederers Arbeit kann helfen, nicht nur wichtige, faszinierende und weichenstellende Aspekte für eine alttestamentliche Beschreibung einer Identität Israel wahrzunehmen. Viele Aspekte sagen vielleicht sogar mehr über Menschsein im Allgemeinen aus, als Ederer explizit mit seiner Arbeit beansprucht. Gerade deswegen sollten alle, die sich für alttestamentliche Texte interessieren – aber eben nicht nur diese – wenigstens wesentliche Teile dieser Arbeit lesen und reflektieren. Es mag für manche so wirken, als ob sie in eine andere Welt eintauchen. Es kann einem aber auch die Augen dafür öffnen, wie eng Fragen von regelmäßigen (kultischen) Vollzügen mit Fragen von der Identität eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen verbunden sein kann, ob es nun im explizit religiösen Kontext geschieht oder sich im areligiösen bzw. säkularen Mantel präsentiert.
Ein erster Eindruck von der Textauswahl und dem Umfang dieser Habilitationsschrift sollte also niemand davon abhalten, diese bemerkenswerte Studie in die Hand zu nehmen. Sie besticht immer wieder durch die aufmerksame Lektüre der einschlägigen Texte, die nicht zuletzt die Verbindung zu anderen Texten herausarbeitet, die vorausgesetzt oder eingespielt werden. Der explizit literaturwissenschaftliche Zugang erhebt dabei keine Ansprüche auf eine „(historische) Rekonstruktion eines tatsächlich im Zweiten Jerusalemer Tempel bzw. in nachexilischer Zeit vollzogenen Rituals“ (5). Vielmehr werden die einzelnen Texte differenziert und aufmerksam betrachtet ebenso wie ihre „kompositionelle Einbindung in die jeweiligen literarischen Kontexte (bzw. in das Gesamt der Tora), um ein „,Gesamtbild‘ der Tamid-Vollzüge zu gewinnen“ (5). Wer mit diesen Texten also schon gut vertraut ist, wird in Ederer einen anregenden Gesprächspartner finden. Ansonsten leitet der Verfasser zu einer genauen Lektüre eben dieser Texte an und führt in wichtige Fragestellungen ein, die für das Verständnis unerlässlich sind, was beispielsweise mit dem Exkurs zur Raumsoziologie geschieht (201–218). Es wird dabei eindrücklich die Relevanz einer Beschäftigung mit den Tamid-Texten dargelegt.
Die zentrale These hat an sich einen großen Wert, dem es gilt, exegetisch, theologisch und hermeneutisch mit den sich daran anschließenden Fragestellungen weiter nachzugehen. In exegetischer Hinsicht kommen einem dabei Texte aus den Chronikbüchern, beispielsweise 1Chr 16, in den Sinn. Bei der Beschäftigung mit den Chronikbüchern könnte auch die Frage nach dem Verhältnis zu Anweisungen der Tora in exegetischer und hermeneutischer Sicht betrachtet werden. Die Tamid-Vollzüge als Reservoir für eine Israel-Identität könnten theologisch auch mit anderen Möglichkeiten und Wegen in der Tora (und darüber hinaus) ins Gespräch gebracht werden. Ebenso wäre es sicherlich fruchtbar, im Licht der Beobachtungen und Ergebnisse dieser Studie die These zu diskutieren, dass Ex 25–31 mit seinen sieben Gottesreden eine Verbindung zu Gen 1,1–2,3 herstellt. Dies könnte zu einer Erweiterung der einen oder anderen exegetischen Beobachtung, einer Reflexion von theologischen Aspekten oder vertiefenden Formulierungen von Ergebnissen führen. Mit diesen Bemerkungen wird offensichtlich, wie viele wertvolle Ausgangs- und Anknüpfungspunkte die vorliegende Studie bietet.
Nicht zuletzt fördert Ederer viele Aspekte zutage, die hermeneutisch weiterzudenken und vertiefend zu diskutieren wären. Eine bemerkenswerte Beobachtung, die sich immer wieder einstellt und am Ende der Arbeit in einer grundsätzlichen Aussage festgehalten wird, besteht darin, dass die Texte nicht leisten können, was sie scheinbar auf den ersten Blick leisten wollen: „Was also genau zu tun ist und wie die geforderten Rituale zu vollziehen sind, ist aus den Texten selbst nicht erhebbar und – wenn überhaupt – nur beim Brandopfer-Tamid über die Anweisungen in anderen Texten (vgl. Ex 29,15–18; Lev 1) herzuleiten. Lediglich die wesentlichsten Handlungsschritte werden angedeutet, präzisere Angaben aber fehlen.“ (571). Ederer verbindet diese „Unterbestimmung“ der Texte in theologischer Hinsicht mit einer exegetischen Beobachtung: „Dem markanten Zurücktreten der Ritualbeschreibungen steht jedoch eine deutliche Schwerpunktsetzung zugunsten der theologischen Deutung und Interpretation gegenüber.“ (571). So spielen die intertextuellen Bezüge in seiner Auslegung eine weichenstellende Rolle. Diese Bezüge mögen im Einzelfall diskutierbar sein, aber ihre Vielzahl und einige sehr überzeugende Beispiele rechtfertigen diese Perspektive. Er wertet diese „Unterbestimmung“ auch hermeneutisch aus, wenn er die untersuchten Texte als „Literatur“ beschreibt: „Es sind Texte, die darauf hin angelegt sind, gelesen und studiert zu werden, und die die Lesenden zum Nachvollziehen der intertextuellen Bezüge und der in diesen aufscheinenden theologischen Sinnlinien animieren wollen.“ (572). Eine aufmerksame Lektüre der biblischen Texte und dieser Habilitationsschrift kann sich dieser Schlussfolgerung kaum entziehen. Die Texte sind nicht einfach nur „konkrete Handlungsanweisungen“. Es überrascht allerdings, dass der Verfasser jenseits der beiden Alternativen „konkrete Handlungsanweisungen“ und seiner Bestimmung der Texte als Literatur, die gelesen und studiert werden wollen, keine weiteren Möglichkeiten der Verhältnisbestimmung weiterführend diskutiert. Schließlich stellt er selbst fest, dass die Texte als Befehle JHWHs einen Duktus vorgeben und „die Kultpraxis der wesentliche Bezugspunkt … Ausgangs- und Haftpunkt der komplexen theologischen Reflexion“ (572) ist. Aber wahrscheinlich ist das schlicht zu viel verlangt, nachdem diese umfangreiche und gründliche Arbeit mit vielen wertvollen Beobachtungen und Überlegungen auf der vorletzten Textseite angekommen ist. Es ist zu hoffen, dass dieser Faden einer Verhältnisbestimmung an anderer Stelle noch einmal aufgenommen wird.
Wahrscheinlich muss man die Arbeit nicht in einem Stück und/oder vollständig lesen, um wertvolle Anregungen zu empfangen und wichtige Impulse beim Lesen der einschlägigen Texte sowie zum weiteren Nachdenken über exegetische, theologische oder hermeneutische Aspekte dieser Studie zu entdecken. Wer es aber tut, wird sicherlich nicht enttäuscht werden.
Heiko Wenzel, Ph. D. (Wheaton College), Akkreditierungsprojekt Campus Danubia, Wien