Altes Testament

Petra Schmidtkunz: Das Moselied des Deuteronomiums

Petra Schmidtkunz: Das Moselied des Deuteronomiums. Untersuchungen zu Text und Theologie von Dtn 32,1–43, FAT II/124, Tübingen: Mohr Siebeck, 2020, kart., XVIII+451 S., € 109,–, ISBN 978-3-16-158293-6


Bei der vorliegenden Monografie handelt es sich um eine von Reinhard Müller begleitete Münsteraner Dissertation. Das Moselied (Dtn 32,1–43) ist neben dem Schilfmeerlied (Ex 15,1–18) nicht nur eines der beiden poetisch geformten Stücke im ersten Kanonteil (Tora/Pentateuch), sondern zugleich ein eminent wichtiger wie wirkmächtiger Text innerhalb des Alten Testaments. Dies ergibt sich wesentlich aufgrund der Einbettung (Dtn 31; 32,44–47) und äußert sich auch an der beträchtlichen Zahl an Bezügen zu anderen Texten, die Rezeption und damit Bedeutung aufzeigen. Nun ist in der Forschung nicht nur die Einschätzung dieser beiden Sachverhalte strittig, sondern bei nahezu allen Parametern (Herkunft, Datierung, Einheitlichkeit, Gattung, Funktion, Traditionsgeschichte, Intertextualität und Textabhängigkeiten) liegen teils weit divergierende Vorschläge zu diesem Lied vor. Dtn 32 ist geradezu ein Paradebeispiel für das Wechselspiel von Vorannahmen innerhalb von Verstehensparadigmen und Texterfassung samt deren Gewichtung – und verweist damit auf ein methodisches Grundproblem der Alttestamentlichen Wissenschaft. In besonderer Weise zeigt sich dies in der Einschätzung und Auswertung von Beeinflussungen und Abhängigkeitsrichtung zwischen Texten.

Nach dieser Skizzierung der Problemlage nun zur Studie von Schmidtkunz. Ihr Hauptanliegen besteht darin, den Werdegang des später so bezeichneten „Moselieds“ zu rekonstruieren, seine eingestifteten Aussageabsichten (Textpragmatik) zu erheben und mit späteren Zeithorizonten und Kontexten zu verbinden. Am Anfang steht mit der Grundgestalt Dtn 32,1–43* ein in der mittleren Perserzeit (5. Jh. v.Chr.) geschriebener „religiöser“ Programmtext. Im Zuge einer komplizierten Text-, Literar- und Redaktionsgeschichte erfährt der poetische Grundtext nicht nur Erweiterungen bzw. Veränderungen, sondern zugleich Autoritätsgewinn. Dieser reflektiert sich in der Einfügung des Lieds ins Deuteronomium gegen Ende der Perserzeit (4. Jh. v.Chr.) und damit in der Zuschreibung an Mose (Abschiedslied) als „Destillat der Tora“.

Die Studie richtet ihr Augenmerk entsprechend zunächst allein auf den Textbestand Dtn 32,1–43 und folgt bei der Erarbeitung weithin den Schritten des diachronen Methodensets. Nach der Forschungsgeschichte folgt die Darbietung des Texts in eigener Übersetzung unter Markierung der Textvarianten (Abweichungen vom MT in V. 8f.22f.35.43) und späteren Zusätzen (in V. 5.14f.30–33.43). Danach werden die Textzeugen angeführt (neben MT, SP und LXX vor allem Mss der Qumran-Höhlen 1 und 4), die Differenzen (in V. 5.8f.43) erörtert und die Textgeschichte nachgezeichnet. Es folgen unter Beiziehung der Textvarianten und Einfügung von Exkursen (Hörerschaft, Gottesvorstellungen, Feinde) literarkritische Erörterungen zu den als spät eingestuften Aussagen. Die intendierte Hörerschaft ist JHWHs Volk („Israel“ ist sekundär), der Sprechende ist Teil des Volks, steht diesem mehrheitlich gegenüber und beruft sich – identitätsstiftend – auf eine gemeinsame Geschichte (keine Mittlerfigur, Mose nicht erwähnt); ein Götterpantheon ist vorausgesetzt. Der Form nach handelt es sich um eine (weisheitliche) „Unterweisung“, welche die Geschichtslenkung JHWHs akzentuiert. V. 30–33 sind sekundär zur Gottesrede (V. 20–35) dazugekommen.

Im umfangreichsten Teil (über 250 S.) geht es um die in Dtn 32 vorfindlichen Motive und ihre weiteren Belege innerhalb des ATs. Dabei werden Motivparallelen als „wiedererkennbare Wortverbindungen“ bestimmt, welche formale und inhaltliche Übereinstimmungen mit dem Moselied aufweisen (von „Intertextualität“ zu reden wird vermieden). Für die Annahme absichtsvoller Bezugnahmen zwischen Dtn 32 und einem anderen Text und die Bestimmung des Vektors der Abhängigkeit richtung bedarf es gemäß Schmidtkunz ein hohes Maß an Übereinstimmung. Für die Evaluierung und Erörterung der Vielzahl von Aussagen, die sich mit Dtn 32 berühren, muss auf die Monografie selbst verwiesen werden. Eine literarische Abhängigkeit mit Dtn 32 als Empfängertext nimmt die Vf. für Aussagen in den Büchern Dtn (4,19f.24f.; 6,11f.; 7,10; 8,8.10–12.14f.; 9,12) und Jes (1,2; 2,27f.; 17,10; 30,2; 34,3.5.6.8; 43,10–13.19f.?; 44,2; 58,14) an; darüber hinaus greift das Lied vereinzelte Aussagen aus weiteren Büchern auf (Gen?; 2Kön; Jer – andere Schriften werden nicht genannt). Die umgekehrte Abhängigkeitsrichtung mit Dtn 32 als Spendertext wird postuliert für prophetische (Jes 64,7?; Jer 14,21?; 15,14; 17,4; Ez 5; 14; Mal 2,10f.) sowie nachexilische und psalmische Aussagen (Ps 81,10.17; 135,14; Klgl 1,20; Neh 9,25).

Daran schließt sich ein Vergleich von Dtn 32 insgesamt mit formgeschichtlich verwandten Kompositionen an, die ebenfalls Geschichte einbeziehen und deuten (Ps 78; 81; 106; Neh 9; Jes 63f., dazu akkadisches Erra-Epos). Gemeinsam ist ihnen ein Bezug auf die Geschichte des Volkes; sie teilen ein geistiges Milieu und wollen zum Lernen aus der Geschichte motivieren. Es geht um die Vergewisserung der „kollektiven Identität als Gottesvolk“ und um die Auslotung von künftigem „Wohlergehen im direkten Gegenüber zu JHWH“. Diese Reflexionen haben ihren Ort im perserzeitlichen Juda und stammen von einem „Zirkel schriftgelehrter Personen mit hoher Bildung und einem gesellschaftlichen Führungsanspruch“ (ein Exkurs über archaisierende Imperfekt-Formen beschließt das Kapitel).

Im letzten Hauptkapitel kommt die Vf. schließlich auf das Moselied im Rahmen von Dtn 31–32 zu sprechen. Die vielen konzeptionellen Unterschiede zwischen Rahmen und Lied lassen nicht annehmen, dass beide gleichzeitig ins Dtn eingefügt wurden. Aufgrund der Spannungen, ja teils „Widersprüchlichkeiten“ wird vielmehr deutlich, dass „sehr verschiedene paränetische Konzeptionen“ vorliegen und die beiden Teile nicht von einer Hand stammen. Vielmehr scheint der Rahmen „unter bewusster Bezugnahme auf das Lied, jedoch mit einer ganz anderen Agenda geschrieben worden zu sein“ (344). Zum Schluss werden die wesentlichen Ergebnisse der Studie rekapituliert. Beigegeben sind zwei Anhänge (Textentwicklung zu Dtn 32,8f.43), ein Literaturverzeichnis sowie drei Register (Stellen, Personen, Sachthemen).

Schmidtkunz ist eine gute Kenntnis der Diskussionslage und eine breite Sichtung der Literatur zu attestieren. Auch der sorgfältige Einbezug der Textzeugen zu Dtn 32 und die Diskussion der Abweichungen in den Überlieferungen sind zu begrüßen. Am Wertvollsten jedoch erscheint dem Rezensenten die umfangreiche Zusammenstellung der in Dtn 32 greifbaren Motive und Traditionen und deren Parallelbelege innerhalb des ATs (und darüber hinaus). Dies ist für die weitere Forschung auch dann dienlich, wenn man die davon ausgehenden Beurteilungen über inneraltestamentlichen Abhängigkeitslagen nicht oder nur teilweise teilt.

Methodisch problematisch wie auch unzeitgemäß erscheint die einseitige Präferierung diachroner Schritte im Methodenset. Bereits der Titel ist eher der sprachlichen Verständigung als dem Inhalt geschuldet: Eigentlich ist das untersuchte poetische Stück weder ein „Moselied“ noch eines des Deuteronomiums. Zwar kommt dieser „Kontext“ in den letzten vierzig Seiten noch zur Sprache, aber die Relationen zwischen Dtn 31 und 32 erweisen sich als sperrig, ja widersprüchlich. Selbst bei einem derartigen Befund wäre der Vf. zuzumuten, Dtn 32,1–43 in seinem Buchkontext (über Dtn 31 hinaus) als „Moselied des Deuteronomiums“ inhaltlich und funktional verständlich zu machen – einem Kontext also, den nun einmal die Leser vor sich haben (Synchronie). Ja, eigentlich müsste die vorliegende Eintextung und ihr Verständnis methodisch der Ausgangs- und nicht der Schlusspunkt der Studie sein. Dass eine mögliche Eigenständigkeit des Lieds diachron evaluiert und Sinnverschiebungen aufgrund unterschiedlicher Zeit- und Verwendungshorizonte erörtert werden, soll nicht bestritten werden. Unverständlich aber ist, dass man meint, Sinn und Bedeutung fast nur aufgrund diachroner Überlegungen und Rekonstruktionen erschließen zu können. Die Textpragmatik eines „herausgeschnittenen“ Textes bleibt so vage wie die angestellten Vermutungen, dass dieser „freischwebende“ poetische Text seinen Ort in der mittleren Perserzeit hatte (4Q44; 4Q141 werden kaum als Indizien für ein ursprünglich vom Buch Dtn unabhängiges „Moselied“ in Anschlag gebracht werden können). Immerhin wird Dtn 32 anderen, von der Vf. als ebenso nachexilisch eingestuften Geschichtsreflexionen zugeordnet (wie u. a. Ps 78). Die Bezüge sind durchaus bedenkenswert, die Differenzen allerdings auch. Die Fülle an Textbezügen zu Dtn 32 (mit Gottesreden) in den Nebi’im (vor allem Jes und Jer) wie Ketubim (vor allem Ps), die fast einen „kanonischen“ Horizont erkennen lassen, sind schwer mit einem anonymen Lied vereinbar, das später eine „Mose-Legitimierung“ erfahren und als eines von zwei poetischen Stücken mit hervorgehobener Platzierung in die Tora (Dtn) Eingang gefunden hat.

Fazit: Die Monografie bietet eine wertvolle exegetische Detailerarbeitung des schwierigen Textes und seiner Motivverbindungen. Die Einzeichnung des Lieds in seinen literarischen und kanonisch gewordenen Kontext kommt dagegen zu kurz.


Beat Weber, Pfr. Dr. theol., Basel; Research Associate am Department of Ancient and Modern Languages and Cultures, Universität Pretoria, Südafrika.