Christoph Heilig: Paulus als Erzähler?
Christoph Heilig: Paulus als Erzähler? Eine narratologische Perspektive auf die Paulusbriefe, BZNW 237, Berlin: de Gruyter, 2020, geb., 1097 S., € 129,95, ISBN 978-3-11-066979-4
Christoph Heilig bietet in diesem Werk einen umfangreichen Einblick in die Narratologie, um somit narratologische Ansätze in der paulinischen Theologie, die insbesondere im Angelsächsischen an Einfluss gewinnen, zu beleuchten. Das Werk ist in sechs Teile gegliedert. Im ersten Teil nimmt Heilig eine Bewertung des Forschungsstandes vor. Kapitel 1 widmet sich der Kategorie der „Erzählung“ in der neutestamentlichen Wissenschaft und stellt gegenüber dieser Kategorie eine Skepsis in der (vor allem deutschen) Forschung fest. Diese beruht laut Heilig auf einer fragwürdigen Unterscheidung zwischen „Narrativtexten“ und „Briefen“, die diese als Textsorten auffasst und „Erzählung“ fälschlicherweise nur Ersterem zuordnet. Das zweite Kapitel untersucht die Kategorie der „Erzählung“ im „narrative approach“ und stellt überraschend bei den Hauptverfechtern dieses Ansatzes (R. B. Hays und N. T. Wright) ein mangelndes Interesse an expliziter Erzählung in paulinischen Briefen fest. Teil II analysiert „explizite Erzählungen“. Er bietet zunächst eine Einführung in die Erzähltheorie (Kap. 3) und untersucht ausführlich verschiedene Aspekte erzählerischer Texte: Textgrammatische Überlegungen werden in Kap. 4 angestellt, diskursanalytische (d. h. satzverknüpfende) Elemente werden in Kap. 5 untersucht und eine beinahe erschöpfende Untersuchung der Syntax des griechischen Verbs in Bezug auf ihre Relevanz für Erzähltexte wird in Kap. 6 geboten. Die daraus gewonnenen Einsichten werden in den folgenden zwei Kapiteln auf Paulustexte angewandt, wobei sich Kap. 7 der Frage der temporalen Ordnung der erzählten Ereignisse in den Paulusbriefen widmet, während Kap. 8 etwaige Erzählelemente auf ihre kommunikative Funktion in ausgewählten Texten untersucht. Teil III befasst sich mit impliziten Erzählungen bzw. mit der Rolle, die Protoerzählungen (Kap. 9), „Diserzähltes“ (Kap. 10) – eine breite Kategorie von Alternativvorstellungen, falschen Einschätzungen etc., die eben nicht in Erfüllung gehen und deswegen nicht erzählt werden, aber mitbeeinflussen, welchen Verlauf eine Erzählung nimmt – und Zukünftiges (Kap. 11) dabei spielen. Die daraus gewonnenen Ansichten werden in Teil IV auf „paulinische Erzählfragmente“ angewandt, indem der Ertrag „diserzählter Ereignisse“ (Kap. 12), „angekündigter Ereignisse“ (Kap. 13) und „zukunftsungewisser Vorausdeutungen“ (Kap. 14) für paulinische Texte eruiert wird. Teil V analysiert die Entwürfe von Hays und Wright. Kap. 15 fragt nach dem Stellenwert implizierter Erzählungen in ihren jeweiligen „narrative approaches“. Kap. 16 geht der Frage „narrativer Substrukturen“ in paulinischen Texten nach. Kap. 17 setzt sich kritisch mit (insbesondere) Wrights These eines umfassendes Protonarrativ hinter den paulinischen Texten auseinander. Schließlich wird in Teil VI ein Gesamtfazit gezogen. Eine ausführliche Bibliografie sowie Quellen-, Autoren- und Stichwortverzeichnisse runden das Werk ab.
Heilig hat sich mit dieser Studie einem Thema gewidmet, das in der deutschen Forschung bisher eher auf schwaches Interesse gestoßen und in der angelsächsischen Forschung bisher keiner stringenten methodischen Reflexion unterzogen worden ist. Somit hat Heilig beiden Gruppen, bei denen man manchmal den Eindruck bekommt, dass sie aneinander vorbeireden, einen wichtigen Dienst geleistet. Insbesondere gelingt es Heilig zu zeigen, dass die einflussreichen „narrative approaches“ von Hays und Wright explizite Erzähltexte und -elemente in den Paulusbriefen unberechtigterweise ausblenden, und einen Weg zu skizzieren, der diese besser in einen narrativen Ansatz integrieren könnte.
Es ist allerdings zu befürchten, dass Heiligs Projekt wegen seines Umfangs und seines über weite Strecken abstrakten Inhalts nur von ein paar wenigen Theologen, die sich in der Narratologie auskennen und sich dafür interessieren, wahrgenommen wird. Denn ihm gelingt es nicht, die zum Teil komplizierten Konzepte und das für Nichteingeweihte abstruse Vokabular der Erzähltheorie auf eine Ebene herunterzubrechen, die das wirklich Wesentliche für die neutestamentliche Wissenschaft bzw. die paulinische Theologie zugänglich macht. Heilig hätte mindestens drei Bücher von jeweils respektablem Umfang statt eines jeden Nichtspezialisten abschreckenden Bands von über tausend Seiten schreiben können: eine Einführung in die Erzähltheorie, eine Untersuchung syntaktischer und textpragmatischer Aspekte von Erzähltexten bei Paulus und eine kritische Auseinandersetzung mit den narrativen Ansätzen von Richard Hays und N. T. Wright. Damit wäre dem Duktus des Arguments Heiligs wesentlich leichter zu folgen gewesen. Denn jedes dieser Themen ist an sich komplex, und ihre Komplexität wird in die dritte Potenz erhoben, weil sie miteinander verwoben werden. Dennoch lohnt es sich für Neutestamentler, zumindest Teile I und V etwas genauer zu lesen, denn Heilig hat Recht, wenn er auf den merkwürdigen Zustand hinweist, dass die Verfechter narrativer Ansätze in der paulinischen Theologie oft wenig Interesse für Erzähltexte und -elemente in paulinischen Texten aufbringen. Zudem stößt sein impliziter Aufruf zu größerer methodischer Stringenz bei der Identifizierung meta- oder protonarrativer Erzählungen hinter den paulinischen Texten bei mir auf offene Ohren, habe ich doch bei grundsätzlicher Zustimmung zu Wrights These eines frühjüdischen Metanarrativs bei Paulus als Desiderat genannt, dass dies viel stärker einzelnen Texten entnommen werden muss (vgl. Joel White, „N. T. Wright’s Narrative Approach“, God and the Faithfulness of Paul: A Critical Examination of the Pauline Theology of N. T. Wright, Hg. C. Heilig, J. T. Hewitt und M. F. Bird, WUNT II/413, Tübingen, 2016, 181–204).
Weil Heiligs Analyse der Ansätze von Hays und Wright meine eigenen Forschungsinteressen tangiert, befasse ich mich im Folgenden mit diesem dritten „Buch“ ausführlicher. Heilig findet Wrights Ansatz aus narratologischer Perspektive problematischer als Hays’. Darin stimme ich ihm zu. Das hat, wie Heilig konstatiert, zum Teil damit zu tun, dass Hays sich der bescheideneren Aufgabe stellt, einzelne Erzählstränge hinter spezifischen paulinischen Texten zu identifizieren, während es Wright darum geht, hinter allen paulinischen Texten ein übergreifendes frühjüdisches Metanarrativ aufzudecken. Das ist ein Unterfangen von atemberaubenden Dimensionen, das Kritikern eine große Angriffsfläche bietet, und Heilig geht mit seiner Kritik an Wright nicht sonderlich sparsam um. Das ist an sich völlig in Ordnung und auch zum Teil angebracht, aber sie ist meines Erachtens nicht ganz zutreffend.
Heiligs Kritik setzt bei Wrights Anwendung von Norman Petersons Methode zur Beschreibung der „narrative world“ des Paulus durch die Rekonstruierung der „referential sequence“ des Textes (vgl. Rediscovering Paul: Philemon and the Sociology of Paul’s Narrative World, Philadelphia, 1985) an. Peterson meint, damit die „Erzählung des Senders des untersuchten Briefes“ – im Falle des Philemonbriefes Paulus – erfassen und den Brief als kohärentes Schreiben erschließen zu können. Der Philemonbrief ist auch für Wright von großem Interesse – die ersten siebzig Seiten seines Paul and the Faithfulness of God (COQG 4, London, 2013) sind ihm gewidmet. Ich kenne kein Paulusbuch, das sich auch nur annähernd so intensiv damit befasst. Das hat damit zu tun, dass der Philemonbrief nach der Einschätzung Wrights den idealen Zugang zur Theologie des Apostels bietet. Ausgehend von seinem Ansatz des „critical realism“ (vgl. seine methodischen Überlegungen in The New Testament and People of God, COQG 1, London, 1992, 31–80) versucht er zu erheben, wie nah das dem Philemonbrief zugrundeliegende und von Paulus konstruierte Narrativ der Wirklichkeit bzw. dem Narrativ der Gemeinde in Kolossä entspricht. Denn nur in diesem Fall konnte es die Veränderung in der Weltanschauung der Kolosser bewirken, auf die Paulus zielt.
Doch liefert Peterson – so Heilig – „keinen Grund für die Annahme, dass die Konstruktion der Ordnung, welche der Exeget vornimmt, eine Rekonstruktion dessen darstellt, wie Paulus den Zusammenhang ursprünglich konstruierte“ (kursiv bei Heilig, 942). So ist es „letztlich der Exeget[, der] als Erzähler auftritt“ (944). Diese Überzeugung begründet Heiligs Vorwurf, dass Wright im Umgang mit paulinischen Texten nicht die Geschichte des Paulus nacherzählt, sondern seine eigene Geschichte konstruiert. Aber damit disqualifiziert Heilig nicht nur Peterson und Wright, sondern auch seine eigene Nacherzählung paulinischer Texte, und somit stellt er den Wert narratologischer Ansätze grundsätzlich in Frage. Denn wenn diese nur dazu dienen, dass Exegeten mithilfe biblischer Texte ihre eigenen Geschichten erzählen, statt jene Texte zu erschließen, ist das vielleicht für die Literaturwissenschaft von Interesse, aber nicht für die biblische Exegese (bzw. nur für eine radikal leserorientierte Hermeneutik, die – wie es mir scheint – Heilig gerade nicht befürwortet).
Zudem kommt hinzu, dass Heilig meines Erachtens das Anliegen Petersons falsch auffasst bzw. aus einer eher banalen Ansicht Petersons zu viel Kapital für seine These schlagen will. Peterson ist zum Teil selbst dafür verantwortlich, weil er etwas salopp von „fictions“ des Paulus spricht, aber das, worauf er hinaus zu wollen scheint und worin ihm Wright auf jeden Fall zustimmen würde, ist nichts anderes als die inzwischen allseits akzeptierte Einsicht, dass historische Entwürfe (zu denen wiederhergestellte referenzielle Sequenzen selbstverständlich gehören) immer nur Konstrukte sind und keine umfassenden Darstellungen dessen, was tatsächlich geschehen ist. Insofern spiegeln sie die „erzählte Welt“ ihrer Schreiber wider, egal, ob diese Paulus, Wright, Peterson oder Heilig heißen. Dennoch will keiner dieser Autoren bloß seine eigene Geschichte erzählen, sondern die Geschichte anderer nacherzählen, auch wenn es auf der Hand liegt, dass sie dies aus ihrer eigenen, keineswegs objektiven Perspektive tun.
Jedenfalls behaupten sowohl Peterson als auch Wright implizit, dass man durch ihre Ansätze eine zuverlässigere Nacherzählung der Geschichten hinter paulinischen Texten und somit eine bessere Auslegung dieser Texte erzielen kann. Ob sich narratologische Analyse eignet, darüber ein Urteil zu fällen, scheint mir fraglich. Heilig wäre meines Erachtens viel besser mit der Methode bedient, die er in seiner Monografie Hidden Criticism? The Methodology and Plausibility of the Search for a Counter-Imperial Subtext in Paul, WUNT II/392, Tübingen, 2015, entwickelt hat. Dort ist es ihm gelungen, wissenschafts- und geschichtsphilosophische Überlegungen im Hinblick auf die Hintergrundwahrscheinlichkeit und das Erklärungspotential einer Hypothese für die Entdeckung vermeintlicher „anti-imperial Subtexts“ hinter paulinischen Texten brauchbar zu machen. Mir entgeht, warum dieser Ansatz nicht ausreicht, um allgemeinere Protonarrative oder auch umfassende Metanarrative in den gleichen Texten aufzudecken.
Genau darum sind Hays und Wright bemüht. Deswegen scheint mir Heiligs kritische Stellungnahme zu den beiden nach 800 Seiten, die sich der Erzähltheorie mit großer Gelehrsamkeit und beeindruckender Detailliertheit widmen, etwas fehl am Platz. Insbesondere Wright will vor allem untersuchen, inwiefern sich die Ausführungen des Paulus in seinen Briefen in ein übergreifendes frühjüdisches Metanarrativ einklinken und aufgrund dessen verständlicher werden. Das stellt Heilig vor ein methodisches Problem, wenn es darum gehen soll, Wrights Entwurf aus narratologischer Perspektive zu beurteilen. Denn ein Metanarrativ kann man nicht (jedenfalls nicht ausschließlich) aus einer Analyse einzelner paulinischer Texte erheben, und Wright versucht es gar nicht. Stattdessen führt er – meines Erachtens völlig nachvollziehbar, weil seinem Forschungsobjekt und -ziel angemessen – eine vergleichende literaturwissenschaftliche Untersuchung frühjüdischer Quellen von beeindruckendem Umfang durch. Dass Heilig dafür überhaupt kein Interesse aufbringt – jedenfalls gibt es in seinem Quellenverzeichnis keinen einzigen Verweis auf eine frühjüdische Quelle –, ist auch nachvollziehbar. Denn narratologische Ansätze greifen nur auf der Ebene des Textes und eignen sich weniger für die Analyse von Metanarrativen, die per definitionem „hinter“ dem Text liegen. Hier lässt sich Heilig von Wright, der selbst diese methodische Einschränkung immer wieder aus den Augen verliert und weltanschauliche und narrative Kategorien miteinander immer wieder vermischt, auf einen mühsamen Weg in eine Sackgasse verleiten. Dennoch bleibt Heiligs Ansatz von Nutzen, denn eine methodische Skepsis gegenüber vermeintlichen Proto- und Metanarrativen, die keine Spuren in einzelnen Texten hinterlassen, ist durchaus angebracht. Insofern es narratologischer Analyse möglich ist, solche Spuren aufzudecken (und Wright bemüht sich herzlich wenig darum), darf und soll sie kritische Fragen an solche Entwürfe stellen.
Fazit: Heilig ermutigt dazu, die paulinische Briefliteratur aus einer narratologischen Perspektive zu analysieren, und stellt in Aussicht, dass die Erhebung ihres erzählerischen Gehalts gewinnbringend sein könnte. Sowohl der Umfang als auch der Komplexität seines Arguments werden jedoch verhindern, dass seine Einsichten von Nichtspezialisten wahrgenommen werden. Zudem müsste noch klarer herausgestellt werden, welchen Beitrag narratologische Ansätze in der Analyse von vermeintlichen Proto- und Metanarrativen hinter neutestamentlichen Texten leisten können.
Dr. Joel White, Hochschuldozent für Neues Testament, Freie Theologische Hochschule Gießen