Abdul Adhim Kamouss: Wem gehört der Islam?
Abdul Adhim Kamouss: Wem gehört der Islam? Plädoyer eines Imams gegen das Schwarz-Weiß-Denken, München: dtv premium, 2018, Pb., 223 S., € 16,90, ISBN 978-3-423-26212-5
„Jede zweite Woche eröffnet in Frankreich eine neue Moschee, während wir jedes Jahr 40 bis 50 katholische Kirchen verlieren“, sagte der Vorsitzende der französischen Organisation „Observatoire du patrimoine religieux“ Anfang September 2020 in einem Interview mit der Zeitung Die Welt. Die Zahl der Kirchen und ihrer Besucher nimmt ab, die der Moscheen zu. Neben der Gruppe der religiös Indifferenten begegnen wir unter den Andersreligiösen auch in Deutschland am ehesten Muslimen. Grund genug, dass wir uns ein fundiertes Basiswissen über den Islam aneignen. Was kann dazu besser geeignet sein, als einem echten Muslim zuzuhören? So hatte ich den Imam Abdul Adhim Kamouss zur Vorstellung seines Buches in meinen Ort eingeladen.
Dieses ist einerseits gefühlvoll-empathisch, andererseits vernünftig argumentierend, einerseits persönlich berichtend, andererseits theologische Einsichten vermittelnd, einerseits grundsätzliche Überlegungen anstellend, andererseits konkrete Handlungsempfehlungen gebend. Viele Sätze kann ich als Christ voll unterschreiben: Gott ist der alleinige Schöpfer des Universums. Er ist der Erste ohne Anfang und der Letzte ohne Ende. Gott erschuf den Menschen und hauchte ihm von seinem Geist ein. Der Mensch ist Gottes Treuhänder auf der Erde. Zu Gott kehrt der Mensch zurück. Gott sandte auserwählte Personen wie Abraham oder Mose, um den Menschen den Weg zu zeigen. Wer Gottes Ruf Folge leistet, wird am Tag der Auferstehung Freude erleben. Und wer sich von Gott abwendet, wird Bedauern und Traurigkeit erfahren. Die täglichen Gebete sind kurze Auszeiten mit Gott. Und hinter den Geboten Gottes steckt Weisheit (73f).
Interessanterweise beansprucht Kamouss für sich gemäß Kant, „sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ und „Mündigkeit“ zu praktizieren. Dementsprechend wird er von seinem Verlag als „Aufklärer“ bezeichnet. Ein anderer Philosoph, Odo Marquard, sagte einmal: „Mündigkeit ist vor allem Einsamkeitsfähigkeit.“ Auch Kamouss hat sein Mündigsein mit Einsamkeit bezahlt. In den Berliner Moscheen, in denen er ein gefragter Redner gewesen war, wurde er vom Predigtdienst ausgeschlossen. Frühere Freunde distanzierten sich von ihm. Islamische Gelehrte verabschiedeten Fatwas (Rechtsgutachten) gegen ihn, weil er „irregeleitet“ sei (87). Von einzelnen erhielt er Todesdrohungen. Der islamischen Community gilt er als Abtrünniger.
Aber auch Islamkritiker mögen Kamouss kaum. Diese bevorzugen in der Regel ehemalige Muslime, die sich zum Atheismus bekennen und mit ihrer früheren Religion vernichtend ins Gericht gehen. Leute wie Ayaan Hirsi Ali („Ich klage an“, 2005), Necla Kelek („Chaos der Kulturen“, 2012) oder Hamed Abdel-Samad („Der islamische Faschismus“, 2014).
Von den verschiedenen Lagern abgelehnt, ist Kamouss nichts anderes übrig geblieben, als eine eigene Organisation zu gründen, die „Stiftung Islam in Deutschland“ (Website: https://stiftung-iid.de/). Dort vertritt er einen Islam, der mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vereinbar sein soll.
Positiv gesagt, kann ich Kamouss mit einem Reformator vergleichen. Er will den Islam nicht abschaffen, sondern reformieren. Dabei bedient er sich einer Art „Sola Scriptura“-Prinzip, wie es auch die christlichen Reformatoren taten. Das bedeutet bei einem Muslim: Nur der Koran habe autoritative Bedeutung, nicht die Auslegungen der späteren Jahrhunderte. Kamouss ist der Überzeugung, dass sich Terroristen und Gewalttätige nur deshalb auf den Koran berufen, weil sie ihn durch die Brille späterer Interpretationen lesen. Wenn man den Koran aus seiner Zeit heraus versteht, könnten brutal klingende Sätze auch ganz anders aufgefasst werden. Kamouss macht das an einem Satz aus Sure 9,5 deutlich: „Tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet.“ Radikale Muslime meinen hier eine Legitimation für Terror gefunden zu haben (48). Kamouss betont, dass man auf den konkreten „Offenbarungsanlass“ der Sure zu achten habe. Demnach beziehe sich die Sure auf bestimmte heidnische Stämme des 7. Jahrhunderts, die den bestehenden Bündnisvertrag mit Mohammed gebrochen hätten. Den Muslimen werde hier nur die Verteidigung in einem speziellen Angriffsfall erlaubt. Diese Auslegung erinnert in gewisser Weise daran, wie Christen und Juden die Bibel interpretieren. Aus der biblischen Erzählung, dass das Volk Israel im Auftrag Gottes die Einwohner Jerichos vernichtet (Josua 6), wird heute kaum mehr der Schluss gezogen, dass Menschen umgebracht werden sollen. Kamouss begeht dabei jedoch nicht den Fehler, der uns in Teilen des modernen Protestantismus begegnet, seine Heilige Schrift so überkritisch zu lesen, dass sie ihre Bedeutung als Wort Gottes zu verlieren droht.
Kamouss hat also einen Islam vor Augen, vor dem wir seiner Ansicht nach keine Angst zu haben brauchen. Kann Kamouss dazu beitragen, dass Juden, Christen, Muslime, Atheisten und sonstige Gläubige friedlich in unserm Land zusammenleben?
Freilich darf uns der Bezug auf Kant und das Stichwort „Aufklärer“ im Klappentext nicht dazu verleiten, einen modern-rationalistisch-liberalen und vielleicht sogar linken Muslim in Kamouss zu sehen. Vielmehr habe ich in Charakter und Theologie von Kamouss sehr viel aus der evangelikal-missionarischen Bewegung der letzten Jahrzehnte wiederentdeckt: Persönliches Charisma, freundliches Wesen, voll und ganz von seiner Mission überzeugt. Er redet besser als er anderen zuhört, findet Freunde und Anhänger, kann Kompliziertes in verständliche Worte herunterbrechen, glaubt an die Autorität seiner Heiligen Schrift, kurz: Er vertritt trotz modern anmutender Elemente eine „konservative“ Theologie und Frömmigkeitspraxis. Das ist keineswegs abwertend gemeint; wir werden Kamouss so viel eher gerecht, als wenn wir in ihm einen modernen Liberalen sehen.
Ich halte Kamouss darin für authentisch, dass er einen friedlichen Islam möchte, ähnlich wie sich die Evangelikalen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehr und mehr von restriktiven Vorstellungen früherer Generationen lösten.
In der Begegnung mit Kamouss wird deutlich: Christentum und Islam vertreten beide einen Anspruch auf Wahrheit. Kamouss vertritt einen islamischen Wahrheitsanspruch, wonach sich Gott im Koran offenbart habe. Christen vertreten einen Wahrheitsanspruch, wonach sich Gott in Jesus Christus offenbart hat. Der sich daraus ergebende Konflikt lässt sich nicht dadurch lösen, dass wir sagen: alle Religionen wollen Dasselbe. Denn wer das behauptet, beansprucht für sich den Standpunkt des Allwissenden und wertet diejenigen ab, die an einer spezifischen religiösen Wahrheit festhalten. Auch wenn aus religionsgeschichtlicher Perspektive schnell der Eindruck entsteht, als ob Christen und Muslime an den gleichen Gott glauben, so glauben sie dennoch anders an Gott – worin sich Christen und Muslime erstaunlich einig sind. Denn die jeweilige Bedeutung, die Jesus bei Christen und Muslime hat, trennt beide Religionen voneinander. Wenn das anerkannt wird, ist interreligiöse Begegnung am ehrlichsten.
Dr. Gerhard Gronauer ist Pfarrer der bayerischen Landeskirche und lebt in Dinkelsbühl. Er ist zudem Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte am CVJM-Kolleg Kassel und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Synagogenprojekt an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau.