Systematische Theologie

Klaus-Rüdiger Mai: Geht der Kirche der Glaube aus?

Klaus-Rüdiger Mai: Geht der Kirche der Glaube aus? Eine Streitschrift, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2018, Pb., 184 S., € 15, –, ISBN 978-3-374-05305-6


Das Buch ist als „Streitschrift“ eine „Kirchenkritik“ – ein Genre, das sich in den zurückliegenden 25 Jahren großer Beliebtheit erfreut hat. Aber wirkungsgeschichtlich hat es selten Konstruktives erreicht. Leserinnen und Leser bleiben vielmehr ratlos, desillusioniert oder gar verbittert zurück. Das ist bei dem Buch des Schriftstellers und promovierten Germanisten Klaus-Rüdiger Mai nicht anders.

Innerhalb des Kanons neuerer kirchenkritischer Literatur reicht Mai nicht an die „Qualität“ seiner Vorgänger heran: Bissigere Polemik wies Gerhard Besier in „Konzern Kirche“ (1997) auf. Mit leidenschaftlicherer Bosheit konnte Hans Apel in „Volkskirche ohne Volk“ (2003) aufwarten. Sprachlich eloquenter waren Peter Hahnes Schriften „Schluss mit lustig“ (2004) und „Finger weg von unserem Bargeld“ (2016). Und mehr intellektuellen Witz hatte Friedrich Wilhelm Grafs „Kirchendämmerung“ (2011).

Mais Buch gibt die Wahrnehmung eines Christen wieder, der nicht zur innerkirchlichen „Filterblase“ (123) gehören will, wie sie dem ‚rot-grünen‘ Mainstream entspreche. Diesen macht er exemplarisch an der Theologin Ellen Ueberschär fest, die 2017 nach ihrer Zeit als Generalsekretärin der Deutschen Evangelischen Kirchentage bruchlos zum Vorstandsmitglied der GRÜNEN-nahen Heinrich-Böll-Stiftung berufen wurde. Ueberschär stehe für Immanenz statt Transzendenz, Gesinnung statt Glaube, Moral statt Mission. Mai jedoch wolle keine Kirche, „die nur aus Mitgliedern der Grünen oder der SPD besteht“ (56). Mai plädiert für das Gegenteil der aufgeführten Alliterationen: er will Transzendenz statt Immanenz, Glaube statt Gesinnung, Mission statt Moral.

So wendet er sich gegen die von ihm konstatierte Verabsolutierung der politischen Moral in der Kirche, wie sie sich in dem unausgesprochenen Grundsatz manifestiere: „Was als moralisch deklariert wird, darf nicht hinterfragt werden“ (25). Die „moralischen Dogmen“ (26) würden sich dem öffentlichen Diskurs entziehen „wie die Sentenzen der Hochscholastik“ (25). Daraus folge eine „Entrationalisierung von politischen Entscheidungsprozessen“ (58).

Das meint der Autor an den kirchlichen Voten zur Migrationsthematik seit 2015 ablesen zu können. Seine Ausführungen dazu nehmen einen derart breiten Raum ein, dass ich wage anzunehmen: Die Verärgerung über die Flüchtlingspolitik der Regierung und über die kirchliche Unterstützung derselben mag die Motivation dafür gewesen sein, dass Mai zum Genre Polemik gewechselt ist. Früher schrieb er Sachbücher über Luther, Gutenberg, Johann Sebastian Bach, Mutter Teresa und Papst Benedikt XVI. sowie einige historische Romane.

Mais argumentativer Angelpunkt ist die klassisch-konservative Lesart der Luther’schen Zwei-Regimenten-Lehre. Wo diese im Protestantismus nicht mehr gelte, würden Kirchenvertreter dazu beitragen, den Rechtsstaat zu untergraben. Daran schließt sich Mais Auslegung des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter an (Lk 10). Dem Gleichnis zufolge sei christliche Nächstenliebe eine individuelle Pflicht und kein gesellschaftlicher Imperativ. Der Samariter habe nicht unzähligen, sondern nur einem Bedürftigen geholfen, was seinen Möglichkeiten entsprochen habe.

Es versteht sich von selbst, dass der bloße Rekurs auf Luthers Regimentenlehre ohne eine Auseinandersetzung mit ihrer Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert das im Raum stehende moralische Problem nicht adäquat anspricht. Und neben der Überlegung, was für eine Bedeutung das besagte Gleichnis im historisch-literarischen Kontext des Lukasevangeliums hat, ist die Eruierung von Anwendungsmöglichkeiten der Jesusbotschaft in zeitgenössischer politischer Ethik eine ganz andere Frage.

Ausgehend von seiner Kritik an der kirchlichen Unterstützung der Flüchtlingspolitik bekennt sich Mai zu einer renitenten Haltung: Ein Christ solle nicht mehr jedes „politische Wort der Kirchenleitung in Demut“ annehmen (57). Denn Kirche sei heute keine Opposition mehr, sondern zu einem Teil des ‚Establishments‘ geworden.

In diesem Duktus sind die weiteren Abschnitte des 184 Seiten umfassenden Büchleins gehalten. Die Gegenüberstellungen Immanenz vs. Transzendenz, Gesinnung vs. Glaube, Moral vs. Mission sind zwar griffig formuliert. Aber indem Mai das jeweils erste Worte der Kirche zuschreibt und für sich selbst die zweite Bezeichnung in Anspruch nimmt, reißt er unnötigerweise eine tiefe Kluft in die von ihm nur dualistisch-binär wahrgenommene Debattenkultur des Protestantismus.

Natürlich beinhaltet jede Kirchenkritik, und sei sie noch so polemisch, ein Wahrheitsmoment: Christliches Leben, das sich gleichzeitig an der Bibel rückversichert und nach aktueller Anwendung der Frömmigkeit fragt, steht immer in der Gefahr einer einseitigen Zuspitzung: Mal überwiegt Immanenz, dann wieder Transzendenz, mal dominiert Gesinnung, dann wieder Glaube, mal herrscht Moral vor, dann wieder Mission. Deshalb braucht es Diskussionen, in denen Einseitigkeiten zurechtgerückt werden können. Nur im Kontext solcher Debatten kann ein polemisches kirchenkritisches Buch wie das von Mai eine Hilfe sein. In Abwandlung von Schleiermachers berühmtem Diktum, dass Religion „weder Metaphysik noch Moral“ sei, müsste man heute betonen: Eine lebendige Religion beinhaltet sowohl Metaphysik als auch Moral (und freilich auch Spiritualität, Schleiermachers „Anschauung“). Sofern der Eindruck zutrifft, dass gängiges Christsein heute mehr durch die Moral, also durch die politische Ethik bestimmt wird, ist es legitim oder gar notwendig, daran zu erinnern, dass der Glaube auch durch die theologische Lehre, die Dogmatik (= Metaphysik), konstituiert sein will.


Dr. Gerhard Gronauer, Pfarrer der bayerischen Landeskirche in Dinkelsbühl, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Synagogengedenkband Bayern in Neuendettelsau und Lehrbeauftragter für Kirchengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der CVJM-Hochschule Kassel.