Systematische Theologie

Bernhard Meuser: Freie Liebe

Bernhard Meuser: Freie Liebe. Über neue Sexualmoral, Basel: Fontis-Verlag, 2020, Pb., 429 S., € 20,–, ISBN 978-3-03848-203-1


Während die Ev. Kirche (sexual)ethisch weitestgehend Schiffbruch erlitten hat, steuert die Kath. Kirche nach Meuser wie einst Jona mit voller Kraft voraus Richtung Tarschisch. Und das, obwohl sie einen Rettungsauftrag in Ninive hat. Klare Worte, die der Verleger des Jugendkatechismus „Youcat“ (München 2011) findet – doch der Reihe nach.

Bernhard Meuser beschäftigt sich schon lange mit Sexualmoral. Im Jugendalter wurde er selbst Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Priester.
In „Freie Liebe. Über neue Sexualmoral“ analysiert er, schaut hin und nimmt kein Blatt vor den Mund – weder inhaltlich noch sprachlich. Zunächst geht es überwiegend um gesellschaftliche Beobachtungen. Moral werde oft als Spaßbremsenreglement empfunden, dabei ist sie „ein Artenschutzprogramm für die gefährdete Gattung Menschen“ (32), Flankenschutz für gutes Leben. Nach Meuser sind folgende Werte der Sexualität schützenswert: das Leben, die Liebe, die Freiheit und die Lust (Kapitel 5), und zwar ausschließlich in dieser Reihenfolge. In unserer individualisierten Gesellschaft, in der scheinbar jeder nur um sich kreist, haben wir die Rangfolge der Werte bunt neu gemischt, statt in Verbindung zu unserem Schöpfer zu leben. Die dadurch geschlagenen Wunden sind tief: Missbrauch, verlassene Väter, Mütter und Kinder, Prostitution und Pornografie, technische Reproduktion, gebrochene Menschen. Wem die Ewigkeitsperspektive abhandenkommt, dem wird die Lust übermächtig. Man muss in den wenigen Lebensjahren alles rausholen, was irgend möglich – ohne Rücksicht auf Verluste. Moral wird so lange entleert, bis es nicht mehr „Gut und Böse“ – sondern nur noch „Gut und Besser“ gibt (Beispiele anhand 68er-Bewegung, Sieg der „Selbstbestimmung“ bis zu Genderideologie und der Pädagogik sexueller Vielfalt). Längst gibt es diese neue Zivilmoral. Christen haben nach Meuser vier Reaktionsmöglichkeiten: Kapitulation, Kampf, Anpassung oder bewusst anders leben. Letztem prophezeit der Katholik – auch im Blick auf die ersten Christen – die meiste Kraft. Sieht er in die Kirche(n), ist er jedoch ernüchtert: Entweder sie redet über anderes oder sie buhlt um ihre weglaufenden Schäfchen nach dem Motto: Bleibt, wir sehen das jetzt auch lockerer.

Im zweiten Teil nimmt der Theologe Bibel und Kirche ins Augenmerk, beginnend mit einer fundierten Skizze über biblische Aussagen von Liebe und Sexualität von Schöpfung bis Paulus. Er erklärt Begriffe, wie „Unzucht“ oder „Fleisch“ und wie Leib und Seele in sich, aber auch im Blick auf Gott zusammenhängen. Auch exegetischen Versuchen, brenzlige Bibelstellen zu entschärfen, verpasst Meuser begründete Absagen. Intensiv analysiert er den Synodalen Weg und die angestrebte neue Sexualmoral, um welche sich die Katholische Kirche bemüht. Eine Vordenkerrolle kam hier dem 2020 verstorbenen Freiburger (Moral)Theologen Eberhard Schockenhoff zu. Meuser kritisiert dessen Ansatz deutlich und begründet. Er entferne sich von biblischen Aussagen wie von christlicher Anthropologie. Nach Schockenhoff – vereinfacht gesagt – hänge die Kirche noch in der sexualpessimistischen Lehre des Augustinus. Es brauche nun eine Beziehungsethik auf Grundlage sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse. Das Ergebnis ist: Solange man verantwortlich miteinander umgeht, ist unter dem Motto Selbst- und Nächstenliebe (sexuell) alles erlaubt. Ehe ist nicht mehr exklusiv, wenn auch immerhin noch höchste Beziehungsform. Meuser mutet auch der Zeitpunkt des Rufs nach neuer Sexualmoral seltsam, ja taktisch an. Er sieht darin den Versuch, den noch nicht aufgearbeiteten Missbrauchsskandal abzutun, und stattdessen die Segel einer liberalen Sexualethik zu hissen. Dadurch, dass man Homosexualität akzeptiert und das Zölibat als vermeintliche Ursache des Missbrauchs abschafft, erledige sich dann schon das Problem. Meuser zeigt auf, dass dies „Unsinn“ (199) ist. Wie soll die Kirche aber nun beispielsweise mit Homosexualität umgehen? Er gibt im Wesentlichen zwei Ansätze: 1. Man solle sich nicht so sehr auf den sexuellen Akt fixieren, sondern auch auf Besserung des Lebens (Freundschaft ist besser als Einsamkeit). 2. Kirche müsse den Menschen begegnen, wie Jesus der Ehebrecherin (Joh 8): Keine Verurteilung, eine offene Tür, aber auch „sündige nicht mehr“. Die Grundherausforderung ist klar. Doch auch wenn Meuser später nochmals auf Klarheit, Barmherzigkeit und Perspektiven im Umgang mit Betroffenen zurückkommt, behalten manche Formulierungen für mich an dieser Stelle einen leicht missverständlichen Deutungsspielraum.

Im letzten Buchteil geht Meuser der Frage nach, wie eine neue Sexualmoral aussehen kann. Drei Rück-Schritte könnten zum Fort-Schritt werden:
1. Biblische Weisungen nicht ent-moralisieren, sondern als Weg-Weiser guten Lebens verständlich machen (wozu sie gedacht waren/sind, mit eschatologischer Tragweite, s. z. B. Bergpredigt). 2. Statt Pflichtenethik die Kardinaltugenden wiederentdecken (und in gnaden-volle Theologie integrieren). 3. Begriffe wie Vertrauen, Autonomie oder Freiheit an Gott zurückbinden (statt um sich selbst zu kreisen). Immer wieder spricht er von flankierenden Schutzmaßnahmen für die Liebe. Dazu gehöre auch, Sexualität und Ehe vom „Masterplan Gottes“ (293) her zu lesen und nicht von mehrheitsfähigen Modellen. Man muss jungen Menschen erklären – und sie darin begleiten –, dass die Verbindung von Mann und Frau als Ebenbilder Gottes eben genau etwas mit diesem Gott zu tun hat, und dass wir im Blick auf die Treue Gottes eingeladen sind, in der Treue von Mann und Frau zu „Franchisenehmern Gottes zu werden“ (304). Kirche sei gut beraten, mehr „Humanae vitae“ (Papst Paul VI.) und „Theologie des Leibes“ (Papst Johannes Paul II) zu lesen, als Schockenhoffs Ansatz. Statt ständig am sechsten Gebot und seiner Bedeutung „herumzudoktern“, könnte man sich auf die anderen Gebote konzentrieren. Sie enthalten alles, was eine neue Sexualmoral braucht. Am stärksten fokussiert sich Meuser auf das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten: Leben fördern als Grundlage neuer Sexualmoral. Konkreter: Eine neue Sexualmoral vom Skandalon der Abreibung her denken. Hier liege alles beieinander: Der unauflösbare Zusammenhang von Leben, Liebe, Sexualität und Lust. Hier ist das größte Potenzial, flankierende Maßnahmen für den Menschen und die Liebe abzuleiten und damit auch Antworten auf Nöte unserer Zeit zu geben (Missbrauch, Pornografie, Dekonstruktion der Familie…).

Meuser zitiert historische wie zeitgenössische Personen unterschiedlicher Couleur. In dem rund 40-seitigen Abschnitt mit Fußnoten und Literaturverzeichnis wird auf weiterführende Informationen verwiesen.

Ein herausforderndes Buch, dass sich zwar viel mit der katholischen Kirche beschäftigt, aber überkonfessionelle Bedeutung hat und verdient. Auch wenn manche Frage offenbleibt, fordert es zum (neu)Denken heraus. Und immer wieder kommt Meuser auf die Grundvoraussetzung für Kirche und Menschen zurück: Die persönliche Beziehung zu Jesus Christus.

Es ist zu wünschen, dass kirchliche Verantwortungsträger umkehren: Nach Ninive und nicht nach Tarschisch – volle Kraft voraus!


Michael Schwantge, Gemeinschaftspastor in Oppenheim