Christel E. A. Weber: Prophetisches Predigen als Sichtwechsel
Christel E. A. Weber: Prophetisches Predigen als Sichtwechsel. Eine interkulturelle Studie, Arbeiten zur Praktischen Theologie 77, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2019, WGS 1543, 432 S., € 58,–, ISBN 978-3-374-06258-4
„Was macht das Predigen prophetisch?“ (293) und „Where have all the prophets gone?“ (23f.) – diesen beiden (Leit-)Fragen geht Christel E. A. Weber in ihrer interkulturell angelegten Studie zum prophetischen Predigen nach. Mit Hilfe eines sowohl induktiven als auch deduktiven Zugangs kommt es in Webers Werk zu einem stimmigen und in sich verwobenen Zusammenfinden vom Phänomen und dem vielfältigen Begriff des prophetischen Predigens. Das in Südafrika und in den USA bereits breit anerkannte Predigtgenre der prophetischen Predigt wird in Webers Dissertation, die von Alexander Deeg (Leipzig) begleitet und mit der Bestnote „summa cum laude“ ausgezeichnet wurde, für die deutschsprachige Homiletik furchtbar gemacht.
Das Buch umfasst fünf Kapitel, die in einem sich wiederholenden Wechselschritt von Predigtwahrnehmung und homiletischer Reflexion voranschreiten. Neben exemplarischen Untersuchungen zum Thema „Prophetisches Predigen“ finden sich auch immer wieder systematisierte Darstellungen zu verschiedenen Prophetenbildern und in sich stringente Ausführungen zu den unterschiedlichen Predigtkontexten.
Einen besonderen Eindruck hinterlässt das erste Kapitel (I, 17–56): Neben einer kurzen (zu kurzen?) Übersicht über die Belege prophetischer Rede im biblischen Kanon am Ende des Kapitels, legt Weber ihren Schwerpunkt auf die Analyse einer (prophetischen) Predigt des südafrikanischen Bischofs Desmond Tutu und ihrer Rezeption durch Jim Wallis. Die Analyse des Predigtbeispiels, auf das Weber im weiteren Verlauf ihrer Abhandlung immer wieder zu sprechen kommt, bringt erste Hypothesen zum Phänomen prophetischer Predigt zum Vorschein. Die Thesen zum krisenhaften Kontext, zum visionären Inhalt (Imagination des göttlichen Handelns), der antizipierenden Form, dem prophetischen Embodiment und der transformierenden Funktion (subversiv oder seelsorgerlich) prophetischer Predigt werden in den darauffolgenden Kapiteln auf den Prüfstand gestellt und größtenteils bestätigt. Diese hier von Weber dargestellten Phänomene können als die wesentlichen Charakteristika des prophetic preaching ausgemacht werden – gerade auch in Abgrenzung zu anderen Predigtgenres: Die prophetische Predigt zieht ihre Hörer und Hörerinnen in einen Sichtwechsel hinein, der ihre Situation in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Im zweiten Kapitel (II, 57–162) legt Weber eine begriffliche Bestimmung zum durchaus weiten Bedeutungsspektrum des Prophetischen anhand eines soziologischen (Max Weber: der Prophet als Idealist), dogmatischen (Karl Barth: der Prophet als Zeuge) und exegetisch-homiletischen (Walter Brueggemann: der Prophet als Poet) Zugangs dar. Hierbei stellt Weber differenziert und durchaus gelungen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei dargestellten Prophetenbilder heraus. Insbesondere dieses Kapitel macht deutlich, dass die unterschiedlich gefüllten Begriffe des Prophetischen auf unterschiedliche Prophetenbilder zurückzuführen sind.
Starke interkulturelle Bezüge weisen die Kapitel drei (III, 163–292) und vier (IV, 293–366) auf. Dabei steht schwerpunktmüßig der südafrikanische Kontext im Vordergrund. Dort werden die diversen Phänomene des prophetischen Predigens in ihren jeweiligen gesellschaftlichen, theologischen und homiletischen Kontexten wahrgenommen. Im Fokus steht hier die Untersuchung der Vielfalt prophetischer Predigten und Dokumente aus der südafrikanischen Zeitperiode der Apartheid. Umrahmt wird diese Untersuchung von der Frage, ob prophetisches Predigen in demokratischen Staaten, gerade auch mit Blick auf die prophetische Predigt der Gegenwart, obsolet wurde. Im Grundsatz wird diese Annahme verneint: Prophetische Predigt bleibt auch in Demokratien, insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, notwendig, wenngleich ein Verlust des Reichtums der prophetischen Rede erkennbar ist.
Kapitel vier beantwortet die Frage nach den Merkmalen prophetischer Predigten aus dem Blickfeld der Predigtrezipienten und -rezipientinnen. Die interkulturell angelegten empirischen Befragungen (25 Interviews) bestätigen dabei die bisherigen Ausführungen zu den Phänomenen und Begriffen des Prophetischen und machen sichtbar, dass die Wahrnehmung des (krisenhaften) Kontextes den wohl stärksten Einfluss auf die Wahrnehmung einer Predigt als „prophetisch“ hat. Trotz interkultureller Differenzen zeigt sich in Webers Studie eine Vielzahl von Übereinstimmungen zwischen den Rezeptionen in Südafrika, USA und Deutschland, obwohl in Deutschland die prophetische Predigt stärker als politische Predigt wahrgenommen wird.
Weber beendet ihre Ausführungen (V, 367–398) mit dem durchaus beeindruckenden Ergebnis, dass sich prophetisches Predigen mit seinen unterschiedlichen Funktionalitäten lernen lässt und womöglich auch zum Modell allen Predigens werden kann und soll, ohne dass der distinkte Prophetiebegriff verwässert.
Webers Darstellung eröffnet frische Zugänge zur prophetischen Predigt und ein neues Verständnis fürs Predigen insgesamt; das macht ihr Werk äußerst hilfreich und ausgesprochen lesenswert.
Manuel Gräßlin, MTh, Doktorand Praktische Theologie, STH Basel