Stefan Schweyer: Freikirchliche Gottesdienste
Stefan Schweyer: Freikirchliche Gottesdienste. Empirische Analysen und theologische Reflexionen, Arbeiten zur Praktischen Theologie 80, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2020, Pb., 608 S., € 58, –, ISBN 978-3-374-06710-7
Stefan Schweyer, Professor für Praktische Theologie an der STH Basel, beschäftigt sich in seiner 2019 von der theologischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz) angenommenen Habilitationsschrift mit einem bedeutsamen liturgiewissenschaftlichen Thema, das eine wichtige Forschungslücke der scientia liturgica schließt. Im Zentrum dieser empirischen Studie stehen essenzielle Aspekte freikirchlicher Gottesdienste in der deutschsprachigen Schweiz, die von Schweyer kritisch und konstruktiv diskutiert, theologisch reflektiert und im Blick auf eine verbesserte freikirchliche Praxis fruchtbar gemacht werden.
Das hervorragend konzipierte Buch bietet dem Leser zunächst eine knappe Einführung in die Thematik (Kapitel 1), sowie Begriffsklärungen und den aktuellen Forschungsstand (Kapitel 2). Anschließend werden die zentrale Forschungsfrage und die methodologische Vorgehensweise eingeführt, wobei die Gütekriterien einer zuverlässigen qualitativen Forschung dokumentiert werden (Kapitel 3 und 4). Einerseits beweist dieser Teil in seinem Gesamtentwurf eine methodische wie inhaltliche Stringenz und Klarheit, andererseits wird dem Leser die Bedeutung des Untersuchungsziels deutlich, denn: „freikirchliche Gottesdienste sind gut besucht, aber schlecht erforscht“ (17). Nicht nur innerhalb der liturgiewissenschaftlichen Forschung wird das dialogische Potenzial der empirischen Wahrnehmung freikirchlicher Gottesdienste als eine reichhaltige Quelle für liturgische Reflexionen und Lernprozesse häufig vernachlässigt und unterschätzt. Auch in Freikirchen selbst herrscht oft eine mangelnde theologische Reflexionskultur im Blick auf die eigene Gottesdienstgestaltung. Selten werden liturgische Fragestellungen thematisiert, positive Aspekte aus der ökumenischen Tradition gewürdigt und ihr liturgietheologisches Verständnis praxisrelevant und stimmig umgesetzt.
Aus diesen Gründen bedarf es einer genaueren empirischen Untersuchung gottesdienstlicher Ausdrucksformen, die als legitime Primärquellen für liturgiewissenschaftliche Erkenntnisse dienen können, wie auch die Erkundung der theologischen Beweggründe, die solche spezifische Gottesdienstformen und implizite Logiken motivieren. Genau hier setzt Schweyer an, indem er ausführlich die freikirchliche Gottesdienstpraxis in all ihren Facetten analysiert, wie z. B. die Musik, Gebete, Bibelgebrauch, die Rolle der Predigt, das Abendmahl und die Kollekte (Kapitel 5). Schweyer erweist sich als ein umsichtiger Kartograph der evangelikalen Gottesdienstkultur und überzeugt mit einer detaillierten empirischen Wahrnehmungskompetenz. Ausgehend von einer Arbeitshypothese werden wesentliche Aspekte der freikirchlichen Gottesdienstpraxis, wie die antiliturgische Haltung, Niederschwelligkeit und Alltagsnähe, Spontanität und Freiheit, klar artikulierte Glaubensüberzeugungen und eine Betonung von Freude und Gemeinschaft, durch stringente Beobachtungen geprüft und ergänzt. In einem nächsten Schritt widmet sich Schweyer durch den Einbezug von Fokusinterviews einer gründlichen Analyse der Stärken und Schwächen freikirchlicher Gottesdiensttheologie (Kapitel 6), die das Gottesdienstverständnis und dessen kulturell und lokal verordnete Praxis unmittelbar prägt. Die gewonnenen Einsichten und die dabei entstehenden Spannungsfelder werden dann themendifferenziert entfaltet (Kapitel 7), und unter Einbezug des ökumenischen liturgischen Diskurses als Gesprächspartner theologisch bedacht und verortet.
Dabei plädiert Schweyer dafür, die häufige freikirchliche Neigung zur Einseitigkeit nicht durch eine pauschale Abwendung von der eigenen bewährten Tradition zu überwinden, sondern durch deren konstruktive konfessionsübergreifende Erweiterung „aus dem großen Schatz liturgischen Reichtums [zu] schöpfen“ (540). Abschließend sind Schweyers konkrete Anregungen zur Weiterentwicklung des gottesdienstlichen Handlungsspektrums (Kapitel 8), wie z. B. die Aufwertung der vertikalen Dimension und des Abendmahls, die Erweiterung der Gebetspraxis, der Bibelnutzung und der Lobpreiskultur, positiv zu würdigen. So eine Erweiterung liturgischer Handlungsformen würde zu einer vertieften theologischen Reflexion führen, die sich dann wiederum „zu einer kritischen Würdigung und Weiterentwicklung der Handlungsformen“ (554) entwickeln würde. Es wäre wünschenswert, dass gerade Verantwortungsträger aus der freikirchlichen Praxis sich nicht vom Umfang dieser akademischen Studie abschrecken lassen. Denn die vertiefte Beschäftigung mit den hier gebotenen liturgischen Reflexionen verspricht wertvolle Impulse für neue liturgische Handlungsformen, die zu einer Qualitätserhöhung der lokalen Gottesdienstkultur führen würden.
Dr. Dejan Aždajić, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Freien Theologischen Hochschule Gießen