Altes Testament

Sarah Riegert: Die „Ich-Sphäre“ des Beters

Sarah Riegert: Die „Ich-Sphäre“ des Beters. Eine anthropologische Untersuchung zur Selbstreflexion des Beters am Beispiel von Ps 42/43, FRLANT 275, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, geb., 276 S., € 70,–, ISBN 978-3-525-57136-1

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In der alttestamentlichen Anthropologie wird zunehmend danach gefragt, wie in den biblischen Texten die über das Körperliche hinausgehenden Konzepte Personalität und Individualität (oder, um mit C. Taylor zu sprechen, das „Selbst“) ausgedrückt und beschrieben werden. Die Studie von Sarah Riegert, die die leicht überarbeitete Fassung ihrer bei Reinhard Achenbach (Münster) erstellten Dissertation darstellt, untersucht diese Frage anhand des Doppelpsalms Ps 42/43.

In dem knapp 50 Seiten umfassenden ersten Kapitel (11–57) bietet R. eine sorgfältige anthropologische Grundlegung für ihre Studie. Zunächst konkretisiert sie die Fragestellung daraufhin, wie in den Psalmen des Einzelnen das „Ich“ ausgedrückt wird (Selbstreflexion bzw. -reflexivität), wobei der Mensch im AT grundsätzlich als „konnektiv“, d. h. bestehend aus einer Leib- und einer Sozialsphäre im Rahmen einer Gottesbeziehung, dargestellt wird („konstellativer Personbegriff“ nach B. Janowski). Darüber hinausgehend führt R. den Begriff der „Ich-Sphäre“ ein und integriert damit die neueren Forschungsansätze zur Selbstreflexivität (C. Frevel u. a.) in Janowskis Modell. Den neuen Begriff definiert sie folgendermaßen: „Die Ich-Sphäre manifestiert sich literarisch in der selbstbeschreibenden Ich-Betonung, die implizit eine reflexive Bezugnahme auf das eigene Selbst des Beters zum Ausdruck bringt“ (41), womit sie die „Ich-Sphäre“ von den Begriffen der Authentizität und der Biographie abgrenzt (42).

Ihren Ausgangspunkt nimmt R. bei H. W. Wolff, wobei sie zunächst dessen Ergebnisse zu den Körperteillexemen לֵב („Herz, Inneres“) und vor allem נֶפֶשׁ („Kehle“ sowie „Leben [-skraft]“) aufnimmt, dann aber feststellt, dass diese nicht ausreichen, um die Reflexivität betender Menschen im AT darzustellen. Insgesamt zeigt sich das Desiderat, „die Innerlichkeit des atl. Menschen angemessen methodisch und sprachlich zu erfassen“ (32). Für eine konkrete Methodik ist zu fragen, wie in Psalmtexten eine Selbstreflexion ausgedrückt wird. R. schlägt vor, die Aufmerksamkeit auf die Personalpronomina (selbstständig sowie als Suffix) zu richten, wenn diese die betende Person referenzieren, insbesondere dann, wenn ein Pronomen die Subjektrolle im Verbalsatz einnimmt und somit betont auftritt. Selbstreflexion kann aber auch durch Stellvertreterausdrücke (mit A. Wagner) wie etwa נֶפֶשׁ (mit Suffix) ausgedrückt werden, wenn sich der Stellvertreterausdruck im Psalmtext auf den Beter bezieht.

Die folgenden drei Kapitel enthalten eine ausführliche Exegese des Doppelpsalms Ps 42/43. Dieser erscheint vor allem aufgrund des Kehrverses („Was betrübst du dich, meine נֶפֶשׁ , und bist so unruhig in mir?“), der den Charakter eines Selbstgespräches aufweist, dafür geeignet. Kap. 2 (58–97) bietet zunächst eine Arbeitsübersetzung mit ausführlichen textkritischen, semantischen und grammatischen Anmerkungen sowie einen Abschnitt über Formbeobachtungen. Danach wird Ps 42/43 in der Gruppe der Korachpsalmen verortet, wodurch sinnvollerweise der Schritt von der Psalmen- zur Psalterexegese beschritten wird. Allerdings bleibt der Ertrag der redaktionskritischen Überlegungen zur Fragestellung unklar.

Das dritte Kapitel (98–163) besteht in einer Vers-für-Vers-Exegese und fragt speziell nach der „sprachliche[n] Manifestation der Ich-Sphäre“. Dabei werden die exegetischen Ausführungen zu den einzelnen (Teil-) Versen jeweils mit einer „anthropologischen Fokussierung“ abgeschlossen. Das ist methodisch sinnvoll, allerdings lässt sich nicht immer ein Ertrag feststellen. Als Ergebnis dieses Kapitels kann festgehalten werden, dass die „Ich-Sphäre“ vor allem „über die Leibsphäre anschaulich wird“ (154).

Im vierten Kapitel (164–224) untersucht R. die Strukturmerkmale von Ps 42/43 daraufhin, ob dadurch eine Selbstreflexion ausgedrückt wird, aus der sich möglicherweise ein Stimmungsumschwung erklären lässt. Dieses Vorgehen hat das Ziel, „tiefere Einblicke in das Prozessgeschehen des Gebets und seine selbstreflexive Dimension zu gewinnen“ (173–174). Das Vorkommen von Klage, Bitte und Lob in Ps 42/43 deutet R. als „einen planvollen Wechsel dieser Gebetsmodi, die die Beziehungsveränderung zwischen Beter und Gott ausdrücken“ (218). Im Anschluss an U. Rechbergers Studie zum „Stimmungsumschwung“ in den Psalmen (WMANT 133, 2012) plädiert R. dafür, Ps 42/43 auch als ein Gebetsformular und damit als einen Gebrauchstext zu sehen, geht aber explizit über Rechberger hinaus, indem sie versucht, „die Erfahrungswelt, auf die sich das Psalmgedicht ursprünglich bezieht […] mit einzubeziehen“ (218). Maßgeblich ist für sie der kultische Verstehenshorizont mit seinem Symbolsystem, der in Ps 42/43 durch die „motivlichen Zusammenhänge zwischen Wasser, Gerechtigkeit und Tempel“ dargestellt sei (218). Daher könne der Stimmungsumschwung nicht „das Ergebnis einer individuellen, psychologischen Entwicklung“ sein. Die durch den Stimmungsumschwung ausgedrückte Selbstreflexion „stellt daher kein Zeugnis der Individualität dar, sondern vielmehr eine Ritualvorlage, in die das Individuum sich (durch das Nachbeten [C.Z.]) hineinintegriert“ (219).

Kapitel 5 (225–248) untersucht zur Erhärtung der bisherigen Ergebnisse weitere Psalmtexte, und Kapitel 6 (249–253) reflektiert kurz über die Frage, ob Ps 42/43 speziell Frauenperspektiven anspricht, was mittels einer „rezeptionsorientiert intertextuellen“ Lesart (M. Grohmann) bejaht wird (253). Das abschließende siebte Kapitel (254–259) fasst die Ergebnisse zusammen und nennt das Ergebnis für eine Anthropologie des Alten Testaments: Das bisherige Modell, das den alttestamentlichen Menschen durch die drei Konstituenten Leibsphäre, Sozialsphäre und Gottesbeziehung beschreibt, sollte um eine vierte Komponente, die „Ich-Sphäre“, erweitert werden (258–259).

Dies ist ohne Zweifel eine für die alttestamentliche Anthropologie wichtige Studie. Am wichtigsten fand ich das erste Kapitel, das den aktuellen Forschungsstand gut (wenn auch sprachlich viel zu kompakt) wiedergibt, das Konzept der „Ich-Sphäre“ einführt und die These formuliert, dass diese zur Beschreibung des Menschen im Alten Testament notwendig dazugehört. Die folgenden exegetischen Kapitel verifizierenden dann lediglich die These. Ich frage mich allerdings, ob die ausführliche Exegese eines einzelnen Psalms (bei der nicht alle Schlussfolgerungen gleichermaßen überzeugen) der beste Weg dazu ist. Die Ausführungen über weitere Psalmen in Kapitel 5 zeigen bereits, dass für eine überzeugende Argumentation eine breitere Textbasis nötig wäre. Natürlich ist der Verfasserin zugute zu halten, dass dies im Rahmen einer Dissertation leicht zu umfangreich hätte geraten können. So haben die Kapitel 2 bis 4 eher den Charakter einer Pilotstudie, die um weitere Untersuchungen zur Verifikation der „Ich-Sphäre“ ergänzt werden sollte. Die These selbst ist ansprechend und wird sicher die kommenden Diskussionen innerhalb der alttestamentlichen Anthropologie befruchten. Auf einen Wermutstropfen sei zum Schluss noch hingewiesen: Die meist langen Sätze und die Häufung von Nominalgruppen erschweren die Lektüre unnötigerweise – selbst für gewohnheitsmäßige Konsumenten von Fachliteratur. Auch die Menge der Druckfehler zeigt, dass der Band nicht gut lektoriert wurde.


Prof. Dr. Carsten Ziegert, Professor für Altes Testament an der Freien Theologischen Hochschule in Gießen.