Jason Gile: Ezekiel and the World of Deuteronomy
Jason Gile: Ezekiel and the World of Deuteronomy, LHBOTS 703, London: T&T Clark, 2021, geb., 280 S., £ 85,–, ISBN 978-0-567-69430-0
Nach Risa Levitt Kohns Studie zur Rezeption der Tora im Ezechielbuch (A New Heart and a New Soul: Ezekiel, the Exile and the Torah, 2002) und Michael Lyons Studie zum Gebrauch des Heiligkeitsgesetzes bei Ezechiel (From Law to Prophecy: Ezekiel’s Use of the Holiness Code, 2009) legt Jason Gile mit dieser Studie, die aus einer von Daniel I. Block betreuten Dissertation hervorgegangen ist, eine weitere Untersuchung zum Verhältnis zwischen Ezechiel und der Tora vor, diesmal mit einem besonderen Fokus auf dem Deuteronomium. Alle drei Studien kommen zum Ergebnis, dass Ez aus allen Teilen der Tora schöpft und dass er damit nicht als religionsgeschichtliches Bindeglied zwischen dem Deuteronomium und der Priesterschrift gesehen werden kann, wie Julius Wellhausen meinte.
Im ersten Kapitel verortet Gile seine Studie in der bisherigen Forschung, wobei Studien zu Ezechiels Gebrauch älterer Traditionen im Allgemeinen und spezifische Beiträge zur Rezeption des Dtn bei Ez referiert werden und auch die Fragen nach der Buchkomposition und der Möglichkeit einer deuteronomistischen Redaktion des Ez angesprochen werden. Das zweite Kapitel befasst sich mit der vieldiskutierten methodischen Frage nach der Feststellung von Beeinflussung eines Textes durch einen anderen, wobei Gile mit vier Erklärungskategorien für wörtliche Parallelen zwischen Dtn und Ez arbeitet: Zufall, indirekter Gebrauch, literarische Anleihe und literarische Referenz. Zu Letzterem zählt er Zitate und Anspielungen. Für das Verständnis des Ez sei es ein Verlust, wenn Dtn als eine seiner Quellen nicht berücksichtigt werde.
Im dritten Kapitel wendet sich Gile als erstem Thema der Idolatrie zu. Er folgt insbesondere Tova Ganzel, die argumentiert, dass Ez in diesem Thema terminologisch und konzeptuell fast ausschließlich Dtn folge, auch da, wo priesterliche Alternativen bestünden. Eine wichtige Rolle nimmt Dtn 4 ein, wobei insbesondere zwischen Dtn 4,16–19 und dem für die Idolatrie-Thematik in Ez grundlegenden Kapitel Ez 8 mehrere spezifische Parallelen bestehen. Da Dtn 4,25–28 Idolatrie als das Vergehen benennt, das dazu führen wird, dass Jahwe sein Volk ins Exil bringen lässt, macht es Sinn, Dtn 4 als Deutungskategorie in Ez zu verstehen: „Ezekiel transforms Deuteronomy’s laws into prophetic accusation“ (79).
Das vierte Kapitel geht dem Zusammenhang von Ez 16 und dem Moselied Dtn 32 nach. Ez 16, so die These, übernehme die Plotstruktur des Aufstiegs und Falles Israels aus Dtn 32 und verbinde sie mit der prophetischen (bes. Hos) Metapher der Hurerei. Die thematischen Bezüge sind in der Tat auffällig, die spezifischen wörtlichen Übereinstimmungen eher limitiert, die deutlichste Verbindung besteht zwischen Dtn 32,10b–14 und Ez 16,7–13a, wo Gottes Ausbreiten seiner Flügel (Dtn 32,11) bzw. seines Gewandes (Ez 16,8) über Israel mit der Formulierung פרש כנף beschrieben wird und Israel Honig (דבש) und Öl (שמן) isst (אכל) (Dtn 32,13; Ez 16,13). Einige weitere Stichwortverbindung lassen eine bewusste Bezugnahme auf das Moselied plausibel erscheinen. Unter der Annahme, dass das Lied sehr bekannt war, würde damit die Anwendung des darin benannten Gerichts auf die Situation in Ezechiels Zeit eine starke rhetorische Kraft entfalten.
Ez 20 ist der Gegenstand des fünften Kapitels, das mit einer Auslegeordnung der Bezüge zwischen Ez 20 und dem Deuteronomium beginnt, angefangen mit der Erwählung (בחר) Israels. Nach Gile benutzt Ez deuteronomische Sprache, um in einem Rückblick Israels Geschichte nachzuzeichnen. Ein großer Teil des Kapitels widmet sich Thesen, denen zufolge Ez sich deuteronomischer Sprache bediene, um sich von Dtn zugunsten priesterlicher Theologie zu distanzieren, u. a. indem Ez 20,25–26 deuteronomische Gesetze als „nicht gut“ bezeichne. Mit guten Gründen lehnt Gile diese Thesen ab.
Das sechste Kapitel widmet sich der Zerstreuung Israels, ausgehend von Ez 20,23, wo Gott im Rahmen des Geschichtsrückblicks sagt, er habe in der Wüste seine Hand erhoben und geschworen, Israel „unter die Heiden zu zerstreuen und in die Völker zu versprengen“. Diese Formulierung findet sich insgesamt siebenmal in Ez. Dass Lev 26 für Ez ein Schlüsselkapitel ist, wurde schon oft gesehen, entsprechend auch, dass sie sich auf Lev 26,33a bezieht („euch aber will ich unter die Heiden versprengen“). Gile argumentiert schlüssig, dass Ez Lev 26,33a mit Dtn 4,27 (vgl. 28,64) kombiniert („und der HERR wird euch zerstreuen unter die Völker“). Ez 20,23 bezieht sich auf die zweite Generation der Wüstenwanderung, so dass sich die Rede von einem Schwur Gottes in der Wüste auf das Deuteronomium beziehen muss. Den Referenztext sieht Gile entsprechend in Dtn 4,25–28. Dass diese Passage aus Dtn 4 ohne Probleme auch vorexilisch datiert werden kann, zeigen altorientalische Vergleichstexte.
Auf die Zerstreuung Israels folgt im siebten Kapitel die Sammlung. Hier lehnt sich Ez nach Gile sogar stärker an Dtn an als an Lev 26, besonders an Dtn 30,1–5. Als teils auch in gekürzten Variationen vorkommende Grundform benennt Gile (Hossfeld folgend) die Sammlungsformel mit drei Elementen: 1. Die Sammlung (קבץ) aus den Völkern; 2. Anschließender Relativsatz mit dem Verb פוץ; 3. Jahwe bringt (meist הביא) Israel zurück in (אל) ihr Land. In ihrer Grundform findet sich diese in Ez 11,17; 20,34–35.41–42 und in Dtn 30,3–5. Gile argumentiert anschließend, dass Ez hier näher an Dtn ist als an vergleichbaren Formulierungen in anderen Schriftpropheten, dass die Abhängigkeitsrichtung vom Dtn 30 zu Ez nach den eingangs benannten Kriterien plausibler ist als die umgekehrte und dass es keinen hinreichenden Grund gibt, warum Dtn 30,1–5 nicht vorexilisch sein kann. In einem Exkurs fragt er, ob sich die Sammlungsformel in Ez an allen Stellen als redaktioneller Zusatz plausibel machen lässt, was er nur in einzelnen Fällen bejaht, die er als Weiterführung von Ezechiels Sammlungsmotiv deutet. Ein abschließendes Kapitel bündelt die Ergebnisse der Studie. Diese ist insgesamt handwerklich gut und sauber gearbeitet und bietet einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Ezechielbuches, das Exil und Wiederherstellung theologisch von der Tora her deutet und reflektiert. Mit Blick auf Dtn liegt eine gewisse Brisanz in der Studie, da gerade Passagen aus Dtn 4 und 30, die in der Regel exilisch-nachexilisch datiert werden, sich als Schlüsseltexte für Ez erweisen, und zwar auch in Texten, die nicht ohne Weiteres späteren Redaktionen des Ez zugeschrieben werden können. Mit Blick auf Ez erweist sich das Dtn in zentralen Themen des Buches als wichtiger Referenztext neben Texten aus P und besonders H. Hier hätte ich mir gewünscht, dass die Spezifika der „Welt des Deuteronomiums“, die im Titel der Studie thematisiert wird, noch etwas präziser herausgearbeitet werden und noch stärker reflektiert wird, warum an bestimmten Stellen (z. B. Sammlung Israels aus der Zerstreuung) Ez als wichtigsten Bezugstext bestimmten deuteronomische Passagen den Vorzug vor z. B. Lev 26 gibt. Über Ezechiels Hermeneutik der Tora ließe sich ausgehend von dieser und den eingangs genannten Studien noch weiter nachdenken.
Prof. Dr. Benjamin Kilchör, Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel