Praktische Theologie

Alexander Deeg / Christian Lehnert (Hg.): Stille

Alexander Deeg / Christian Lehnert (Hg.): Stille. Liturgie als Unterbrechung, Beiträge zu Liturgie und Spiritualität 33, 2. Aufl. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2021, Pb., 175 S., € 24,–, ISBN 978-3-374-06652-0

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„Stille“ – der Titel lockt und wird gegenwärtig von zahlreichen Publikationen aufgegriffen. In den „Kirchen des Wortes“ wird durch die beschleunigten Sprachwelten, die sie umgeben, ebenfalls mit verstärkter Aufmerksamkeit nach einem Gegengewicht, nach Verinnerlichung und Ruhe gesucht. Aber wie soll man diesen „Nicht-Ort“ wissenschaftlich erkunden und für die evangelische Liturgie gewinnen?

Die Beiträge des Bandes gehen zurück auf eine liturgiewissenschaftliche Tagung vom 18.–20. März 2019. Alexander Deegs Beitrag eröffnet den Band. Ausgehend von Elias Wüstenerfahrung am Horeb leitet er theologische Grundaspekte für ein neues Hören auf Gott ab. Dem Blick auf die Stille im evangelischen und katholischen Gottesdienst folgt eine liturgietheologische Reflexion, verbunden mit der liturgiepragmatischen Konsequenz, Stille als nichtintentionale Haltung einzuüben.

Oswald Bayer setzt in einer systematisch-theologischen Besinnung grundlegend beim epikletischen Schweigen der Liturgie ein. Er kontrastiert die Leere und das Vielreden des Menschen mit Gottes Fülle und seinem Tiefschweigen und hält fest, dass dem Menschen im Sabbat geboten ist, sich dem Wort Gottes zuallererst aufmerksam schweigend zuzuwenden.

Daniel Benga führt in das Verhältnis von Schweigen, Stille und Singen der orthodoxen Karsamstagsliturgie ein. Anstatt zu schweigen besingt sie den großen Einzug des Leibes Christi in Brot und Wein. Nicht äußeres Schweigen, sondern Stille des Herzens und Ruhe der Gedanken angesichts des göttlichen Mysteriums sei Ziel der göttlichen Liturgie.

Maike Schult fragt nach der Stille als seelsorgerlicher Dimension des Gottesdienstes auf dem Hintergrund von Trauma-Erfahrungen. Sie weist auf stille Behandlungsmöglichkeiten wie dem Lesen als safe place und regt schließlich an, die gottesdienstliche Gemeinschaft weniger als holy community, sondern mehr als holding communityzu verstehen.

Peter Zimmerling wendet sich der Stille durch Leben und Spiritualität der Mystiker Gerhard Tersteegen und Dag Hammarskjöld zu. Stille korrigiere eine narzisstische evangelische Spiritualität durch die Konzentration auf die liebende Hingabe. Ihr Ziel ist die unio mystica, die ewige Vereinigung und Gemeinschaft mit Jesus Christus.

Der Beitrag Katharina Wiefel-Jenners stellt die Gedanken Rudolf Ottos, der Berneuchener und Odo Casels dar. Wiefel-Jenner hält fest, dass gemeinsame Stille im Gottesdienst gerade in Zeiten des Umbruchs als kraftvoll und als Ausgangspunkt einer Erneuerung erfahren werden kann, da sie die Sehnsucht nach dem Hören des Wortes Gottes und nach der Erfahrung seiner Gegenwart ausdrückt.

Der Musiker und Musikwissenschaftler Uwe Steinmetz plädiert dafür, die Stille in der Liturgie im Zusammenspiel mit Wort und Musik zu sehen. Er unterscheidet die induzierte Stille, die aufmerksam auf das Selbst in der Gegenwart macht, die reflexive Stille, die rückbezüglich und wortdominant ist, und die schöpferische Stille, die emotional und imaginativ die Vorstellungswelt hoffnungsvoll stimuliert. Hörempfehlungen für Musik, die Stille induziert, runden seinen Aufsatz ab.

Hanns Kerner erhebt von empirischen Untersuchungen ausgehend Erwartungen an die Stille im Gottesdienst. Er widmet sich daraufhin den im Evangelischen Gottesdienstbuch vorgesehenen sechs Orten für Stille und nennt Kriterien eines verantwortlichen Umgangs mit diesem liturgischen Element.

Mitherausgeber Christian Lehnert beschließt den Band als Dichter und Theologe mit Ausführungen zum Sprechen von der Stille. Mit Hilfe Wittgensteins geht er auf die Stille im Gottesdienst als Ausdruck des Unsagbaren ein und zieht Vergleiche zur Glossolalie und dem Jubilieren. „Stille“ ist eine gelungene Aufsatzsammlung, die vor allem durch ihre Multiperspektivität besticht. Sie erweist sich als hilfreiche Materialsammlung und anregende Lektüre für Theologen und Pfarrer, die eine „Liturgie als Unterbrechung“, eine gottesdienstliche Gegenwirklichkeit, zu den beschleunigten Sprachwelten zu verwirklichen suchen.


Pfr. Tobias Dietze, Dipl.-Theol., Doktorand bei Peter Zimmerling an der Universität Leipzig