Thomas Schlegel / Martin Reppenhagen (Hg.): Kirche in der Diaspora
Thomas Schlegel / Martin Reppenhagen (Hg.): Kirche in der Diaspora. Bilder für die Zukunft der Kirche. Festschrift zu Ehren von Michael Herbst, Leipzig: Ev. Verlagsanstalt, 2021, Pb., 212 S., € 38,–, ISBN 978-3-374-06827-2
Die Herausgeber, zwei frühere Mitarbeiter am „Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung“ (IEEG), wollen in der Festschrift unterschiedliche Kirchenbilder versammeln und „damit den Diskursraum über die Bilder einer künftigen Diaspora-Kirche eröffnen“ (12).
Johannes Zimmermann (früher IEEG, jetzt EH Tabor in Marburg) skizziert unter dem Titel „Mission bringt Gemeinde in Form“ (17–37) das theologische Werk von Michael Herbst. Er beschreibt den „missionarischen Gemeindeaufbau“ als das Lebensthema von Herbst (17), das sich auch in anderen Feldern der Praktischen Theologie widerspiegelt und durchaus wichtige Veränderungen (23f) seit der Erlanger Dissertation von 1987 erfahren hat. Zimmermann beschreibt Herbst als „lutherischen Pietisten“ (32), der die konkrete Jesusnachfolge mit dem Pietismus, die Rechtfertigungslehre gegen jeden Perfektionismus (34) mit Luther teilt.
Der stellvertretende Direktor des IEEG, Patrick Todjeras, beschreibt das Programm des Instituts (39–49), das Herbst zusammen mit Jörg Ohlemacher 2004 gegründet hat, und berichtet von aktuellen Konkretionen, die heute stärker durch institutionelle und internationale Partnerschaften geprägt seien (44.46).
Herbsts Kieler Kollegin Uta Pohl-Patalong will „missionarische Gemeinden“ (gemeint sind „Fresh Expressions of Church, 55) im Rückgriff auf ihre mit E. Hauschild entwickelte Unterscheidung von Gruppe, Bewegung, Organisation und Institution analytisch schärfen (56). Sie sieht in der Logik der „Bewegung“ den Kern des kirchentheoretischen Ansatzes von Herbst (75).
Der Züricher Praktische Theologe Ralph Kunz betrachtet „Gottes transformative Mission als Leitbild der Kirche“ (79–98). Den Begriff der Mission will er in „missionaler“ (81) Weise neu profilieren und interpretiert ihn als Gottes die gesamte (auch außermenschliche) Schöpfung heilvoll transformierendes Handeln (93–97), dem die Kirche in ihrem Handeln hoffnungsvoll und ökologisch tätig entspricht (97).
Der englischsprachige Beitrag von Stefan Paas, Missiologe in Amsterdam und Kampen, beschreibt „the Church as a Restaurant in a Consumer Culture“ (115–128). Paas sieht sich zwischen den Positionen einer postmodernen Bedürfnisorientierung und einem gegenkulturellen Kirchenmodell, wenn er die Kirche der Gegenwart (unter anderem! 119) mit einem Restaurant (117) vergleicht, in dem elementare Bedürfnisse gestillt werden. Diese Orientierung an „Consumption“ ist für Paas das Ergebnis gesellschaftlicher Veränderungen: Kein postmoderner Mensch nimmt am Gottesdienst teil, weil es Vorschrift oder Tradition ist, sondern nur als Ergebnis eigener Wahl (123f.). Diesen Entwurf verteidigt er gegen den Vorwurf der prinzipiellen Oberflächlichkeit und der Zerstörung von Gemeinschaft (124–126).
Der emeritierte Hallenser Praktische Theologe Eberhard Winkler beschreibt „die Suche nach ekklesiologischen Leitbergriffen im Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR“ (129–144). Im Rückgriff auf Erfahrungen und Debatten der DDR-Zeit hält Winkler wichtige Aspekte fest: Kein Konzept darf die „Dringlichkeit, Menschen zum persönlichen Glauben zu führen und in die Gemeinde einzugliedern“ vernachlässigen (132). Und: Der „Übergang von der Volkskirche zur Freiwilligkeitskirche“ (134) ist auch ein Weg „von der Versorgungs- zur Beteiligungskirche“ (139) gegen die „Verachtung der Gemeinden“ (Wegner 143).
„Jede/r hörte sie in seiner Sprache reden“ (Apg 2,6b). Unter diesem Titel beschreibt Heinzpeter Hempelmann „Verheißungen für eine milieusensible, lebensweltorientierte Kirche“ (145–168). Der von ihm konstatierten Milieuverengung der Kirche hält Hempelmann in 21 Thesen gegenüber, wie „evangelische Kirche Zukunft gewinnen kann“ (Anm. 1), indem sie konsequent „bei den Menschen ist“ (155). Ekklesiologisch geht es um die Akzeptanz der Milieugrenzen und den Aufbau von vielfältigen „Milieukirchen“ (155).
Im letzten Beitrag äußert sich der frühere Leiter des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Gerhard Wegner, „zur Inszenierung des Christlichen im Sozialraum“ (192–210). Darin interpretiert er den Sozialraum als Ort, an dem sozialwissenschaftlich, aber auch religiös definierte Geistesmächte miteinander ringen, die als solche dem Erleben unmittelbar zugänglich sind (200–206, 209). Hier inszeniert Kirche den „Geist der Liebe“ (206) in ihrem prosozialen Handeln als eigenständigem Ort der Gotteserfahrung (209). Insgesamt bietet die vorliegende Festschrift für Michael Herbst zum Teil spannende Darstellungen von sehr unterschiedlichen „Kirchenbildern“ in allerdings auch sehr unterschiedlicher Nähe zu missionarisch-theologischen Grundüberzeugungen von Herbst. Da sich die Verfasser aber um einen Anschluss an ihn bemühen, werden mögliche Folgen oder Fortsetzungen aus dessen Vorstellungen erkennbar und für die im engeren Sinne missionarische Debatte fruchtbar.
Dr. Wolfgang Becker, Vorstand der Stiftung Hensoltshöhe, Gunzenhausen[Eine ausführliche Fassung der Rezension ist beim Autor erhältlich:
wolfgang.becker@ekir.de]