Praktische Theologie

Patrick Todjeras: „Emerging Church“

Patrick Todjeras: „Emerging Church“ – Ein dekonversiver Konversationsraum: Eine praktisch-theologische Untersuchung über ein anglo-amerikanisches Phänomen gelebter Religiosität, Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung 28, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, Pb., 774 S., € 120,–, ISBN 978-3-7887-3465-7

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Bei dieser von Michael Herbst betreuten Dissertation handelt es sich um die erste, umfangreiche, deutschsprachige wissenschaftliche Untersuchung zur Emerging Church (EC)-Bewegung. Für seine Charakterisierung dieser vornehmlich englischsprachigen, aus der „evangelical community“ hervorgegangenen Bewegung hat der Vf. eine beeindruckende Menge an Primär- und Sekundärliteratur verarbeitet und dabei vor allem im Umgang mit einer Vielzahl von digital publizierten Blog- und Podcastbeiträgen Maßstäbe gesetzt (vgl. die allein 8-seitige Aufstellung von Internetquellen, 767–774). Die Arbeit ist übersichtlich gegliedert; der durchaus vielgestaltige Forschungsgegenstand wird ausgewogen und dennoch in seinen typischen Merkmalen pointiert und nachvollziehbar dargestellt.

Der EC-Diskurs lässt sich grundsätzlich als „Konversation“ beschreiben – ein Begriff, der von EC-Vertretern selbst häufig benutzt wird und „auf etwas Dynamisches, Flexibles, Kreatives aber auch Inhomogenes“ hinweist (vgl. 121–123). Als wesenhafte Motive der EC-Konversation expliziert der Vf. dabei „fünf Themencluster“: 1. Veränderungen in der religiösen Orientierung (271–286); 2. Die Neuentdeckung einer scheinbar verloren gegangenen Relationalität im gemeindlichen Leben (287–345); 3. Theologische Schlüsselthemen (unter denen Fragen des Schriftverständnisses, der Bedeutung des Kreuzestodes Jesu, des „Reich Gottes“-Verständnisses und spezifische missionstheologische Ansätze hervorstechen, 346–402); 4. Die Implikationen eines postmodernen bzw. postchristentümlichen Kontextes für die persönliche Orientierung und das gemeindliche Handeln (403–427); 5. Die Bedeutung bestimmter Werte, Haltungen und Praktiken (wie bspw. Spiritualität, Authentizität oder Worship-Formen; 428–449).

Der Vf. vertritt dabei die überzeugend vorgetragene These, dass sich der Forschungsgegenstand EC im Kern als Phänomen der Dekonversion deuten lasse. So zeige ein Vergleich mit Erkenntnissen der Dekonversionsforschung, dass es augenfällige Entsprechungen zwischen dekonversiven Phasen bzw. Merkmalen und den für die EC charakteristischen Prozessen gebe (477–536). In der EC-Konversation „prägen Abwehr- und Loslösungsdynamiken den Diskurscharakter aller festgestellten Themencluster“ und es sei deutlich, dass emergente Protagonisten vorwiegend auf ihre als dysfunktional und eng empfundenen kirchlichen (meist evangelikalen) Herkunftskontexte reagierten (515). Aus missionarischer Perspektive stellt sich die EC somit kaum als konstruktive Option für den Gemeindeaufbau unter säkular-postmodernen Bedingungen dar, sondern scheint eher als Anlaufstation für kirchennahe Zeitgenossen zu dienen, die sich desillusioniert und zweifelnd in einem dekonstruierenden Abbauprozess bisheriger kirchlich-christlicher Orientierungen befinden.

Erfreulich ist, dass der Vf. die dargestellten Facetten gelebter Religiosität schließlich nicht im Sinne einer „normativen Faktizität“ unkritisch auf sich beruhen lässt (wie bspw. innerhalb eines religionshermeneutischen Paradigmas der PT üblich). Vielmehr unterzieht er die EC einer äußerst umsichtigen theologischen Beurteilung und exemplifiziert damit am Beispiel seines Forschungsgegenstands eine der bleibenden Aufgaben Praktischer Theologie, die darin besteht, „in Anknüpfung und Widerspruch […] normatives theologisches Gedankengut zu empirisch Vorfindlichem“ in Beziehung zu setzen (676). Dazu wird der Begriff des „Zweifels“ als theologisches Pendant der genannten dekonversiven Merkmale herangezogen (539–570), wobei berechtigte Anliegen der EC durchweg positiv gewürdigt, allerdings auch in ihren Einseitigkeiten entlarvt werden (571–676). So kritisiert der Vf. etwa prägnant, dass „Protagonisten, die dem Zweifel und der Ungewissheit ausgesetzt sind, nicht mehr zur Klärung ihrer Anfrage ermutigt und angeleitet werden, sondern Ungewissheit zu einer notwendigen Haltung christlichen Glaubens stilisiert wird“ (573). Letztlich hält er – aus guten Gründen – „eine Zukunft der christlichen Existenz wie sie in der ,Emerging Church‘-Konversation vor Augen geführt wird, [für] höchst problematisch und mit reformatorischen Bestimmungen nicht in Einklang zu bringen“ (675). Die Relevanz dieses Buches liegt nicht primär in den knapp gehaltenen Handlungsorientierungen, mit denen der Vf. kirchliche Verantwortungsträger zu einem sensiblen Umgang mit Zweifelnden und zur Förderung mündigen Christeins ermutigt (691–694). Vielmehr hilft die Studie auch – wie der Autor selbst auf der letzten Seite bemerkt (695) – zum Verständnis von und kritischen Auseinandersetzung mit deutschsprachigen Strömungen „progressiv- oder post-evangelikaler“ Prägung, die zwar kaum die Begriffe „emerging“ oder „emergent“ verwenden, deren Ansätze und Betonungen aber theologisch wie strukturell mit der EC-Konversation korrespondieren.


Prof. Dr. Philipp Bartholomä, Professor für Praktische Theologie an der FTH Gießen