Matthias Haudel: Theologie und Naturwissenschaft
Matthias Haudel: Theologie und Naturwissenschaft. Zur Überwindung von Vorurteilen und zu ganzheitlicher Wirklichkeitserkenntnis, UTB 5561, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, Pb., 486 S., € 24,90, ISBN 978-3-8385-5561-4
Die Monografie von Matthias Haudel „Theologie und Naturwissenschaft“ gehört ausdrücklich zur Kategorie „unbedingt studierenswert“. Auf 486 Seiten, in dreizehn Kapitel gegliedert, vollgepackt mit wertvollen Erörterungen und Diskussionen rund um das notwendige Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft, werden sehr anschaulich aktuelle Themenfelder beider Erkenntnisbereiche diskutiert und einem sich gegenseitig inspirierenden Dialog zugeführt.
Das Problem, das Haudel zu Beginn adressiert, lautet: Vermeintlich naturwissenschaftliches „Faktenwissen“ auf der einen Seite steht – dem allgemein verbreiteten, negativ konnotierten Vorurteil entsprechend – der Theologie als einer vermeintlich eher nicht faktischen, „spekulative[n] Wissenschaft“ gegenüber. Da diese Vorurteile jedoch überholt seien, beschreibt Haudel die Notwendigkeit eines erneuerten Dialogs beider Erkenntnisbereiche als gewinnbringende Chance – sowohl für die Naturwissenschaft(en) als auch für die Theologie. Dabei benennt er wesentliche Aufgaben, die dieses Dialogziel der Überwindung der gegenseitigen Vorurteile erreichen sollen (mit der Philosophie als Brücke, 245), um zu einer ganzheitlichen Wirklichkeitserkenntnis zu gelangen, die naturwissenschaftliche Einsichten mit der Relevanz des christlichen Glaubens für die gesamte Wirklichkeit und ihre Sinndeutung als Denkmöglichkeit zusammenzubringen vermag. Dabei orientiert er sich an den für die gesamte Untersuchung leitenden Grundkategorien der einen Wirklichkeit: Natur [Schöpfung, Zeit], Kosmos, Mensch und Gott (Kap. II bis IV).
Die Kapitel V und VI widmen sich einer historischen Analyse, wie es jeweils zu den abwertenden Vorverurteilungen gekommen ist (Kap. V) und welche denkerischen und methodischen Umbrüche im 20. Jahrhundert schließlich zu einem Umdenken geführt haben (Kap. VI). Kap. V erörtert naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus der Antike, skizziert den Paradigmenwechsel unter Galilei und erörtert die Einflüsse der Aufklärung und der Evolutionstheorie Darwins, wie zugleich auch die des naturwissenschaftlichen Dogmatismus im 19. Jahrhundert sowie der verhängnisvollen Selbstisolation der Theologie. Daran anschließend stellt Kap. VI die naturwissenschaftlichen und mathematischen Umbrüche vor, die die verkrustete Distanzierung zwischen Naturwissenschaft und Theologie wieder durchlässiger werden ließen (Relativitätstheorie, Quantenphysik, Thermodynamik, „Mehrdimensionalität der Wirklichkeit“ auf S. 93, physikalische Erkenntnisse der Potenzialität, chaostheoretischen Überlegungen u. a.). Forscher wie I.Newton, A. Einstein, A. Friedmann, G. Lemaitre, M. Planck, E. Schrödinger, W. Heisenberg, I. Prigogine, K. Gödel u. a. werden mit ihren jeweiligen Beiträgen zu ihrem Wissenschaftsgebiet nachvollziehbar und sachgerecht eingeführt. Plausibel münden diese Überlegungen in Kap. VI, 6 ein, in dem aufgrund der genannten Forschungserträge das „neue naturwissenschaftliche Weltbild und die theologischen Implikationen“ benannt werden (228–233), anhand der neuen naturwissenschaftlichen Einsichten, die nach den Zeiten des sich abschottenden naturalistisch-materialistischen Dogmatismus und der Selbstisolation der Theologie erneut Möglichkeiten eines echten Gesprächs auf Augenhöhe eröffnet haben.
Kap. VII beschäftigt sich mit ‚hochspekulativen‘ Ansätzen wie der Stringtheorie (mikrophysikalisch) und mit unterschiedlichen Multiversumstheorien etc. (makrophysikalisch), während Kap. VIII vertiefend die wesentlichen Grundlagen des Dialogs hervorhebt. Kap. IX führt Beispiele an, wie der konstruktive Neubeginn des Dialogs zwischen Theologie und Naturwissenschaft im 20. Jahrhundert beispielhaft ausgesehen hat (K. Heim, P. Teilhard de Chardin, C. F. v. Weizsäcker), um anschließend in Kap. X Beispiele zu nennen, wie der Dialog erneut durch einen fragwürdigen und bedauerlichen „materialistisch-atheistischen Reduktionismus“ in Frage gestellt wird, der dem Wesen der Theologie und den neueren Einsichten der Naturwissenschaften und der Mathematik nicht gerecht wird (R. Dawkins, U. Kutschera, S. Hawking u. a.).
Kap. XI kanalisiert die Erörterungen, Diskussionen, Debatten und die Überwindungsbemühungen von gegenseitigen Vorurteilen der Kapitel II bis X in einem auch systematisch-theologisch zutiefst spannenden und aussagekräftigen „Brain-Pool“ unter der Überschrift „Der dreieinige Gott als Schöpfer vor dem Hintergrund aktueller Naturwissenschaft“ (288–386). Dabei werden die in Kap. II bis IV eingeführten und seitdem vielfältig im Buch diskutierten Grundkategorien Kosmos, Mensch und Gott theologisch miteinander in Beziehung gesetzt, auch aus kosmologischer, evolutionstheoretischer und neurowissenschaftlicher Perspektive. Bemerkenswert bei Haudel ist, dass er zu den Theologen gehört, die bewusst und absichtlich die christliche Trinität als Gottesverständnis in diesen mit der Naturwissenschaft zu führenden Dialog integrieren (so bereits 102ff u. ö.) und gerade nicht ein oftmals populäres, aber weitgehend nichtssagendes deistisches oder a-personales Gottesbild verwenden.
Haudels grundlegende Prämisse für die gesamte Untersuchung besteht darin, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese oben erwähnten paradigmatischen naturwissenschaftlichen und mathematischen Umbrüche gegeben habe, die (a) ein statisch geschlossenes physikalisches Weltbild überwunden hätten und die (b) dadurch den Dialog mit der (Schöpfungs‑)Theologie innovativ und konstruktiv möglich gemacht hätten. Dieser bedeutende Umbruch samt dem Potential der Annäherung an theologische Erkenntnisse und den Gottesglauben sei bisher noch kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen („Informationsdefizite“, 19 u. ö.) und müsse – so die Zielsetzung des Buches – durch aufklärende Information öffentlich gemacht und verbreitet werden. Zudem erweise sich eine „rein naturalistisch-technische Weltbetrachtung und -beherrschung … als ambivalent und als Gefährdung“ (26), da der Mensch in seiner vorfindlichen Weltbewältigung darin noch gar nicht adressiert sei.
Auch gewisse Fehlorientierungen der Theologie, sich als lediglich auf Sittlichkeit und Ethik reduzierte Disziplin festlegen zu lassen (u. a. Neukantianismus etc.) oder sich in eine ‚schlechthinnige Abhängigkeit‘ der Innerlichkeit zurückzuziehen (u. a. Schleiermacher etc.), würden einer ganzheitlichen Wirklichkeitsverantwortung nicht gerecht. Das Verständnis der Wirklichkeit gerade aus der Perspektive des (Schöpfungs‑)Glaubens als „Antwort auf die Frage nach dem letzten Grund der Wirklichkeit“ (31) könne einen maßgeblichen Beitrag im Gespräch mit den neuen naturwissenschaftlichen Einsichten liefern (z. B. „höhere Kompatibilität mit der theologischen bzw. biblischen Sicht eines Anfangs und eines Endes der Welt bzw. des Kosmos“, 228f). Wie ein naturwissenschaftlich propagierter methodischer Atheismus mit dennoch quasi-religiösen Ambitionen oder wie eine sich in die Innerlichkeit des religiösen Subjekts zurückgezogene Theologie mit je ihren sich gegenseitig ablehnenden Vorurteilen überwunden werden und stattdessen zum gemeinsamen Dialog motiviert werden könnten, dazu leistet Haudels Monografie einen ausgezeichneten und wegweisen Beitrag.
Die Plausibilisierung der Überwindung konträrer Einsichten von (Schöpfungs-)Theologie und Naturwissenschaft im Blick auf das Menschsein stellt faszinierende Einzelbeobachtungen zur Diskussion (288–386). Die auch naturwissenschaftlich wahrnehmbaren Aporien und offensichtlichen Unvollkommenheiten oder ‚Defizite‘ des biologisch-natürlichen Menschseins (im Sozialen, Formen des Bösen [Theodizee], samt den neueren Erkenntnisses in der Erforschung von Geist oder Bewusstsein, inkl. der Neurowissenschaften usw.) werden durch die heilsgeschichtlich-trinitarische Deutung in Anlehnung an das biblische Zeugnis von Schöpfung, Erlösung und Vollendung, aus der Perspektive der Theologie und des Evangeliums einer theologischen Sinngebung zugeführt (vgl. z. B. 316–346 u. ö.). Der Mensch als Homo Sapiens als Produkt scheinbar selektiv zufallsgesteuerter biologisch-evolutiver Prozesse, die neuerdings etliche Überlegungen hinsichtlich der ausgezeichneten Besonderheit des Menschen in Natur und Kosmos zulassen (so die Naturwissenschaft), bekommt eine denkerisch plausibilisierte Würde als Ebenbild des drei-einen Schöpfer-Gottes zugesprochen, seine vorhandenen individuellen und sozialen Defizite (theologisch quasi im ‚de statu corruptionis‘) werden dem Erlösungshandeln Gottes als zumindest „denkwürdige“ Deutungs- und Antwortmöglichkeit im Dialog gegenübergestellt (so die christliche Theologie).
Die klugen, sachkundigen Diskussionen beider Erkenntnisbereiche (Naturwissenschaft und Theologie), samt den guten Hinweisen, wie der christliche Glaube Antworten zur Sinngebung anbieten könnte, sind ebenso nachvollziehbar wie die kosmologischen und anthropologischen Dialogbemühungen (Anfang und Ende bzw. Zukunft der Welt, anthropisches Prinzip, Komplexität des Lebens, die Besonderheit des Menschen in der Natur, Geist und Bewusstsein des Menschen auf S. 346–374 usw.). Auch die differenzierten und gut abgewogen durchdachten Antworten der Theologie auf das natürlich-biologische Menschsein (z. B. hinsichtlich der evolutiven Anagenese usw.) eröffnen neue Dialoghorizonte.
Haudels Antworten faszinieren in vieler Hinsicht aufgrund ihres Kenntnisreichtums und der dargelegten gelungenen Argumentation (Kap. XI u. ö.). In diese vorgestellte Richtung müsste der von Haudel eingeschlagene Weg weitergegangen werden, um zu vertiefen, wie ggfs. noch präziser der anagenetisch entwickelte Homo Sapiens (Naturwissenschaft) mit den theologischen Sinngebungen beispielsweise der schöpfungsmäßigen Gott-Ebenbildlichkeit, des Sünderseins, der Erlösung durch das Christusevangelium oder die Vollendung im Sinne des ewigen Lebens (Theologie) dialogisch in einer „höheren Kompatibilität“ verknüpft und ausgesagt werden könnte. Haudel hat diesbezüglich Beachtliches als theologische Deutungs- und Antwortmöglichkeiten dargelegt (z. B. 295f, 305f, 316–346, 374ff, 391f u. ö.). Darauf kann künftig gut im Dialog von Vertretern der unterschiedlichen Erkenntnisbereiche aufgebaut werden. Das Buch, das die Wirklichkeitsrelevanz des Glaubens ebenso aufweist wie die ganzheitliche Einbindung und Sinndeutung naturwissenschaftlicher Einsichten, ist durchgehend lesenswert, faszinierend, tiefgreifend und mehr als informativ. Es eröffnet wichtige und aktuell sehr notwendige Gesprächsräume zwischen Theologie und Naturwissenschaft, die um des Menschen als eines ganzheitlichen Wesens Willen geboten sind. Der in der trinitarischen Gottesbeziehung erkennbare Sinn der kreatürlichen Existenz im Kosmos wird nicht ignoriert, sondern bewusst integriert. Die Untersuchung ist für Interessierte vieler universitärer Disziplinen sowie für alle am Thema Interessierten zu empfehlen, insbesondere zur Horizonterweiterung auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Wirklichkeitserkenntnis.
Dr. Berthold Schwarz, Hochschuldozent für Systematische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen