Systematische Theologie

Hans-Martin Rieger: Leiblichkeit in theologischer Perspektive

Hans-Martin Rieger: Leiblichkeit in theologischer Perspektive, Stuttgart: Kohlhammer, 2019, kt., 317 S., € 34,–, ISBN 978-3-17-037450-8

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Der Vf. ist Pfarrer einer reformierten Gemeinde in der Schweiz und apl. Professor für Systematische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Das vorliegende Buch vereint thematisch einander verwandte Vorarbeiten, darunter einige, die „an anderer Stelle und in anderen Zusammenhängen bereits veröffentlicht wurden“ (17). Leider werden die Erstveröffentlichungsorte nicht nachgewiesen. Die Konzeption des Buches erlaubt es, die Kapitel als einzelne Essays zu lesen, zumal das Spektrum der angesprochenen Fragen sehr breit ist.

Die Einleitung plausibiliert die Relevanz einer Theologie der Leiblichkeit, indem eine Reihe lebensweltlicher Wahrnehmungen analysiert wird. Spannend ist die Beobachtung, dass der heute verbreitete Körperkult als eine Variante der Leibverachtung aufgefasst werden kann, was dem Vf. als Hinweis darauf dient, dass zwischen Körper und Leib semantisch zu unterscheiden ist. Die Beobachtungen münden in die These, „dass der Körper zum zentralen Gegenstand einer diesseitsreligiösen Sinn- und Identitätsbildung geworden ist“ (12). Im Anschluss an Dietrich Bonhoeffer möchte der Verfasser theologische und nichttheologische Perspektiven differenzhermeneutisch einander zuordnen und in ihrer wechselseitigen Bezogenheit füreinander fruchtbar machen. Dabei soll die Leibphilosophie wichtige Impulse liefern, für die Bildung theologischer Urteile aber auch die biblische Exegese herangezogen werden. Meines Erachtens wird die hier angedeutete Methodik im Buch allerdings nicht durchgängig greifbar. Vielmehr gibt es Kapitel, in denen leibphilosophische Einsichten aufgenommen werden, und andere, in denen primär biblische Texte theologisch ausgewertet werden. So verweist die Einleitung eher auf das, was die Kapitel additiv leisten.

Kapitel 1 ist von methodischem Charakter und soll zeigen, inwiefern wir vermögen, uns vom Leib betreffen und belehren zu lassen. Dabei geht es um Wahrnehmungen, in denen die Leiblichkeit als Gabe Gottes und der Mensch als bedürftig, d. h. auf andere angewiesen, verstanden wird. Damit markiert der Vf. sogleich eine Grundentscheidung, die quer liegt zur Tendenz neuzeitlicher Anthropologien, die den Menschen oft ganz von seiner Selbstbestimmung her zu erfassen suchen.

Im zweiten Kapitel wird eine Wahrnehmung der Leiblichkeit in der ersten und zweiten (im Kontrast zur den Menschen verdinglichenden dritten) Person stark gemacht. Im Durchgang durch zahlreiche leibphilosophische Konzeptionen wird die Bedeutung des gelebten und erlebten, des wahrnehmenden, des gespürten und praktischen, des gegebenen und sedimentierten, des lebendigen und beseelten, sowie des vernünftigen und belehrenden Leibes herausgearbeitet. Die philosophischen Erörterungen sollen zeigen, dass dem den Menschen objektivierenden, naturwissenschaftlichen Zugang zum Leib nicht eine neue Monopolstellung des eigenen leiblichen und praktischen Selbsterlebens entgegengesetzt werden darf, sondern eine „gewisse Mitte“ zu wahren ist (70), Leiblichkeit also „situationssensibel und lebenslaufsensibel zu begreifen“ (70) sei. Auch wenn der am Ende dieses Kapitels stehende Ertrag, gemessen am zuvor betriebenen philosophischen Aufwand, überschaubar erscheint, ist zu würdigen ist, dass der Zugang zum Leib über dessen Lebendigkeit und Verletzbarkeit nicht in ein Konkurrenzverhältnis zum objektivierenden Zugang der Naturwissenschaften gerückt, sondern das respektive Recht beider Zugangsweisen anerkannt wird.

In Kapitel 3 wird die Leibwahrnehmung im Horizont des Alten und Neuen Testaments thematisiert. Hier greift der Verfasser die exegetische Diskussion um das Verständnis des menschlichen Leibes auf. Markant ist die sprachliche Fassung biblisch bezeugter Leibphänomene, und hier insbesondere der Ausdruck des „gottesdienstlichen Leibes“ (88). Wer mit der Fachdiskussion zur biblischen Anthropologie vertraut ist, wird hier jedoch kaum neue Entdeckungen machen. Das vierte Kapitel stellt eine in sechs Punkten gegliederte „Zusammenschau“ der an den biblischen Texten gewonnenen Wahrnehmung der Leiblichkeit dar (wobei die Ziffer 5 in der Nummerierung irrtümlich zweimal vergeben ist).

Das meines Erachtens stärkste Kapitel des Buches trägt den Titel „Leibliches Erkennen“. Hier will der Vf., der 2010 mit einer Monografie zur Bedeutung Blaise Pascals im Kontext religionsphilosophischer Begründungsmodelle der Moderne hervorgetreten ist, zeigen, welche Bedeutung und Reichweite einer teilnehmenden Wirklichkeitserfassung im Gegenüber zu einer diskursiv-rationalen Vernunftstätigkeit zukommen. Ausgehend von Max Scheler und Martin Heidegger wird zunächst die Möglichkeit einer Fundierung der Erkenntnis in einer partizipativen Weltbeziehung aufgezeigt. Wichtiger jedoch ist, dass der Vf. die Kontextabhängigkeit der erkennenden Vernunft bereits bei Pascal vorgebildet sieht, demzufolge „leibliche Gewohnheiten so etwas wie die zweite Natur des Menschen darstellen und seinen Erkenntnisprozess präfigurieren“ (120). Anders gesagt: „Der Mensch findet die Bedingungen der Möglichkeit seines Denkens und Erkennens als leiblich gegeben vor“ (121). Die menschliche Vernunft ist somit immer schon eingebettet in eine habitualisierte Leiblichkeit. Der Vf. erweist sich als versiert in der Diskussion zur Bedeutung von Gefühlen bzw. Emotionen für das Erkennen, wenn auch nicht deutlich wird, warum die Arbeiten der US-amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum hier unberücksichtigt bleiben.

Das sechste Kapitel eruiert, kurz gesagt, die Bedeutung der Menschlichkeit Christi für das Gottesverständnis, die darin liege, dass Gott sich in Jesus Christus selbst dazu bestimmt habe, „körperlich-leiblich zu werden und sich vom körperlich-leiblichen Leben berühren zu lassen“ (161). Kapitel 7 entfaltet die theologischen Grundstrukturen einer Ethik des Leibseins, die sich zwischen den Fehlformen einer Instrumentalisierung des Leibes einerseits und einer Vergötterung des Leibes andererseits bewegt. Der Vf. arbeitet heraus, dass der „leibliche Gottesdienst“ in der Bejahung bzw. Annahme der Gabe des Leibes sowie der Aufgabe besteht, verantwortlich mit dem eigenen Leib umzugehen. Die kritischen Einlassungen zur Gesundheit als Lebensziel sind überzeugend, wenn es u. a. heißt, dass das Verhältnis des modernen Menschen zur Gesundheit der Formel folge: „Depotenzierung des Schicksals, Potenzierung der Machbarkeit“ (202). Den Ausführungen zur leiblichen Gemeinschaft in der geschlechtlichen Liebe fehlt jedoch die erotische Dynamik, die in der Zweigeschlechtlichkeit von Mann und Frau wurzelt. Hier möchte der Vf. offensichtlich in den aktuellen kirchlichen und theologischen Debatten nicht „anecken“.

Explizit ethischer Natur ist dann die Auseinandersetzung mit dem Verständnis der leiblichen Würde anhand des Testfalls Demenz. Der Vf. sieht die Menschenwürde als ein Prinzip mittlerer Reichweite, das für unterschiedliche Begründungen offen ist und seiner Funktion nach als Platzhalter für die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens durch den Menschen steht. Konkret wird die Bedeutung der menschlichen Würde bezogen auf die Pflegepraxis in der Achtung der Scham, an der hier noch einmal unterschieden wird nach Intimitätsscham, Konformitätsscham, und Gewissensscham (52). Den insgesamt neun Kapiteln des Buches, denen eine in Thesenform gehaltene Zusammenfassung (Kapitel 10) folgt, ist neben dem Literaturverzeichnis dankbarerweise auch ein Personenregister beigegeben. Der Vf. hat ein sehr gelehrtes Buch vorgelegt, dessen Inhalt sich nicht in einer einzigen Leitaussage zusammenfassen lässt. Den größten Gewinn dürften Leser haben, die im Blick auf sie interessierende Fragestellungen das bzw. die jeweiligen Kapitel dazu lesen, insofern sie hier umsichtig und kenntnisreich an die Fachdiskussion herangeführt werden. Angesichts der Tatsache, dass einer Theologie der Leiblichkeit eine hohe lebensweltliche Relevanz zukommt, hat sich der Vf. jedoch keinen Gefallen damit getan, durch seine außerordentlich komplexe und gelegentlich schwergängige Ausdrucksweise den Leserkreis von vornherein auf ein Fachpublikum zu beschränken. Dennoch ist diese Arbeit verdienstvoll, insofern sie sich neuzeitlichen Tendenzen einer Mentalisierung im Verständnis des Menschen widersetzt und einer in der Perspektive der Gottesbeziehung gegründeten Wahrnehmung der Leiblichkeit des Menschen ein hohes Maß an Plausibilität verleiht.


Prof. Dr. Christoph Raedel, Professor für Systematische Theologie und Theologiegeschichte an der Freien Theologischen Hochschule Gießen