Altes Testament

Rainer Albertz: Die Josephsgeschichte im Pentateuch

Rainer Albertz: Die Josephsgeschichte im Pentateuch. Ein Beitrag zur Überwindung einer anhaltenden Forschungskontroverse, FAT 153, Tübingen: Mohr Siebeck, 2021, Ln., XII+178 S., € 104,–, ISBN 978-3-16-160099-9


In diesem Werk erfüllt Rainer Albertz, langjähriger Ordinarius für Altes Testament in Münster, ein aus dem Jahre 2009 ausstehendes Versprechen, nachdem er eine ausführlichere Darstellung seines Ansatzes für ein angemessenes Verständnis der Josephsgeschichte der Genesis in Aussicht gestellt hat (VIII). Dieser Verpflichtung ist Albertz in dem Ende 2021 erschienenen Beitrag in den „Forschungen zum Alten Testament“ in monografischer Länge nachgekommen. Sein Ziel: Den langjährigen Streit um Thematik und Datierung der Josephsgeschichte, „diese[m] Juwel unserer Bibel“ (VIII), durch konsequente Anwendung literar- und redaktionskritischer Methodik beizulegen. Dieser Streit lässt sich laut Albertz in zwei Auslegungstypen einordnen: Typ 1 sieht in der Josephsgeschichte „im Rahmen der familiär konzipierten Ursprungsgeschichte Israels die Problematik und Legitimation politischer Herrschaft, speziell die des Nordreich-Königtums über ganz Israel, abgehandelt.“ Die Datierung erfolgt vorexilisch auf das 10.–8. Jh. v. Chr. Typ 2 versteht die Josephsgeschichte als Diasporanovelle aus der exilischen oder eher nachexilischen Zeit (6.–2. Jh. v. Chr.), die Joseph als Exempel eines erfolgreichen Fremdlings unter Diaspora-Herrschaft stilisiere.

Um diesen diametral unterschiedlichen Lesarten zu begegnen, geht Albertz von einer strikten Unterteilung der Josephsgeschichte in (mind.) zwei Schichten und mehreren Glossen aus. Durch diese Trennung der Endgestalt des Textes würden sich zwei verschiedene Geschichten mit je eigenen Themen und Schwerpunkten isolieren lassen: die ursprüngliche Josephsgeschichte (JG), sodann die erweiterte Josephsgeschichte (EJG). So ergibt sich eine rekonstruierte, ursprüngliche Josephsgeschichte (30): „Gen 37…,3–27.28aα2–31.32–33*.34–35; 39,1*(ohne אישׁ מצרי); 40,2–3aα.4–5a.6–14.16–23; 41,1–11.12* (ohne נער עברי).13.14*(ohne מן הבור).15–34a.35–40aα.b.41–43.46b–49.53–54.57; 42,1–38; 43,1–32a.33–34; 44,1–34; 45,1–6.7–8*.9–28; 46,5b.6aα1.aβ.28–34bα; 47,1–10.11* (ohne ויתן להם אחזה und בארץ מצרים).12.27a“ und eine erweiterte Josephsgeschichte (37):  „Gen 41,34b.40aβ?.44–45a.55–56; 43,32b; 46,34bβ; 47,13–26.29–31+וימת ויאסף רגליו אל המטה (analog zu 49,33aβ); 50,1–11.14–22a.“ Texte, die besonders quer zu JG oder EJG zu stehen scheinen, werden redaktionskritisch als nachträglich ausgeschieden (Midianiter 37,28; Gen 39 in toto; die Staatsreform Gen 47,13–26 sei gänzlich „eine Erfindung des Verfassers“ (23)). Ausgehend von dieser Rekonstruktion des eigentlichen Textbestandes der beiden Bearbeitungsschichten erhebt Albertz nun eine je eigene Thematik der JG (39–67) und der EJG (69–84), die sich gleich mit den entsprechenden Datierungen (87–123) wie folgt erfassen lassen:

Die JG behandle die Großthematik innerfamiliärer Konflikte in Auseinandersetzung mit einer vornehmlich gut funktionierenden staatlichen Herrschaft. Ägypten an sich sei hier noch kaum im Blick als eigentliche Bedrohung oder Gegenüber für Israel, sondern eher als Staatsform an sich, die – in JG noch fast durchweg – positiv als Zufluchtsort und Heimat auf Zeit zu deuten ist. In der Zeit der Erzähler komme hier der realpolitische Hegemonieanspruch des Nordreichs über ganz Israel zur Sprache. Dazu passend sei der historische Entstehungsrahmen die Zeit der Omriden (881–845 v. Chr.).

Demgegenüber versteht Albertz die EJG als echte Erweiterung und damit starke Korrektur der JG aus der Zeit vor 722 v. Chr. Sie sehe Ägypten deutlich differenzierter (inklusive zahlreicher Ungenauigkeiten und Fehlinformationen zu Ägypten) und grenze Israel (und seinen König) stärker vom Rivalen Ägypten als eigenständige politische wie soziale Entität ab. Der Gedanke einer verlängerten Dauer des Aufenthaltes in Ägypten werde erst mit der Einbettung in den Hexateuch klarer, die zunehmend eigenständige Rolle Israels sei hingegen ein Proprium der EJG.

Es folgt eine längere Diskussion um die jeweiligen Datierungen, die völlig zu Ungunsten des 2. Auslegungstyps ausfallen und vor das Exil 722 v. Chr. deuten. Die Einbettung der Josephsgeschichte in ihren größeren literarischen Kontext ordnet Albertz abschließend ausführlich (125–151) in acht Überlieferungsstufen bis in den Anfang des 4. Jh.s ein.

Tritt man nach gut 170 Seiten dichter exegetischer und methodischer Einzel- und Sammelbemerkungen zurück, bietet sich ein ambivalentes Bild. Formal legt Albertz ein hervorragend gegliedertes, mit Zwischenresümees, Schlussbetrachtung und Indices abgerundetes und in sich schlüssig erarbeitetes Programm vor. Seine Sprache ist trotz mancher unnötigen Verabsolutierungen („eindeutig“ (6, 27, 37 u. ö.), „definitiv“ (9)) klar und präzise.

Inhaltlich bietet Albertz’ Entwurf jedoch viel Grund zur Skepsis. Grundsätzlich scheint in Albertz’ Arbeit von 2009 und der hier zu besprechenden ein literarisch äußerst enger Kohärenzbegriff vorzuliegen. Kleinste (absichtliche?) Spannungen müssen ausgeschieden werden, alternative Deutungen hinsichtlich der Lebensrealität und Freiheit eines Autors, wie sie beispielsweise in Jürgen Ebachs weitgehend synchronem Herder-Kommentar diskutiert werden, bleiben entweder unberücksichtigt oder werden – oftmals unbegründet – abgetan. Es stellt sich mancherorts auch die Frage, ob die fehlende Existenz des in der Josephsgeschichte Gesagten auch tatsächlich fehlende Evidenz bedingt (z. B. hinsichtlich der Steuerabgabe aus Gen 47,24.26). Andernorts, beispielsweise bei der Behauptung, ein reales Königtum sei unmöglich im Blick der Erzählzeit der Josephgeschichte (57), zeigt ein Blick in mögliche Umwelttexte des AVO (für eine Frühdatierung beispielsweise parallel die Königsmetaphorik im Kurzepos „Gilgamesch und Agga“, für eine vorexilisische Datierung vgl. auch weite Teile in TUAT.NF 2), dass die Vorstellung eines (wie auch immer institutionalisierten) Königtums problemlos in die Zeit passen könnte. Auch waren Josephs Brüder gewiss keine „Normalbürger“ (47), sondern Fremdlinge.

Besonders durch die oftmals recht eigenwillige Ausscheidung einzelner Halbverse oder ganzer Kapitel (Gen 39!) fiel es bei der Lektüre stellenweise schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass JG und EJG eben genau die thematischen Schwerpunkte innenwohnen, die durch die umfangreiche literar- und redaktionskritische Unterscheidung auch intendiert waren. Ob eine solche Methodik und Annahme des Wachstums von Texten überhaupt angesichts der hervorragenden Arbeit von Benjamin Ziemer (Kritik des Wachstumsmodells, 2020) für solche Texte angemessen ist, wäre dringend zu diskutieren. Nimmt man darüber hinaus mit neueren Arbeiten wie die von F. Ede (die ebenfalls stark diachron arbeitet) oder der schon erwähnten Kommentierung J. Ebachs durchaus große inhaltliche Bögen durch die ganze Josephsgeschichte hinweg synchron wahr, scheinen nach Albertz die endgestaltlichen thematischen Brücken wohl eher der (Kon-)Genialität der (End-)Redaktionsstufen zu entspringen als einer überwiegend kohärenten Josephsgeschichte, wie sie nicht selten in der neueren Forschung (wieder-)entdeckt wird. Vielleicht zeigt sich auch hier, wie stark sich Albertz in der deutschsprachig-deutschen Diskussion um diese Fragen aufhält. Eine Nennung oder gar Diskussion synchronerer Ansätze aus der angelsächsischen oder asiatischen alttestamentlichen Wissenschaft wird vollständig ausgelassen.

Leider – so scheint es – ist Albertz trotz größter Bemühungen keine Vermittlung zwischen der nach wie vor bestehenden Kontroverse um die Herkunft, Gestalt, Verortung und Datierung der Josephsgeschichte der Genesis gelungen. Es scheint vielmehr, dass Albertz’ Vorschlag eher eine Differenzierung des Typs 1 mit Zugeständnissen an eine veränderte Lage der EJG (bspw. hinsichtlich des Staats- und Ägyptenbildes) bietet, nicht jedoch eine Brücke zu Typ 2. Eine Diasporanovelle lehnt er, in Thematik teilweise und Datierung vehement, ab (85): „Dem zweiten Auslegungstyp […] wird durch sie [d. h. die diachrone Scheidung in JG und EJG] weithin die textliche Grundlage entzogen.“


Magnus Rabel, M.Th., Doktorand bei Prof. Dr. Jörg Frey am Lehrstuhl für neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Zürich