Benjamin Ziemer: Kritik des Wachstumsmodells
Benjamin Ziemer: Kritik des Wachstumsmodells. Die Grenzen alttestamentlicher Redaktionsgeschichte im Lichte empirischer Evidenz, Supplements to Vetus Testamentum 182, Leiden: Brill, 2020, geb., XVI+780 S., € 154,–, ISBN 978-90-04-41061-9
Eine Untersuchung, welche sich nicht innerhalb des klassischen redaktionskritischen Paradigmas an ausgewählten Texten abarbeitet, sondern zumindest einen Teil dieses Paradigmas methodisch hinterfragt, ist in der alttestamentlichen Forschung etwas Besonderes. Es handelt sich hier um die gekürzte und überarbeitete Fassung der 2018 in Halle angenommenen Habilitationsschrift, welche 2019 mit dem Christian-Wolff-Preis der Universität ausgezeichnet wurde und unter http://dx.doi.org/10.25673/6644 als Open-Access-Publikation zugänglich ist (gekürzt wurden u. a. die dort auf 85–100 demonstrierten – amüsanten, aber auch zum Nachdenken anregenden – hypothetischen Wachstumsmodelle der Zahlenfolge „Eins Zwei Drei Vier Fünf Sechs Sieben Acht Neun Zehn“, sowie der ersten zwei Sätze des Vorwortes der Grundinformation Altes Testament von Jan Christian Gertz). Die ersten 130 Seiten stellen das sog. Wachstumsmodell vor und hinterfragen dessen logische Grundlagen. Der Hauptteil untersucht dessen empirische Tragfähigkeit mit Hilfe ausgewählter „empirischer Modelle“ des Wachstums von antiken Texten. Den Begriff übernimmt Ziemer (4, Anm. 6) von Jeffrey Tigay, Empirical Models for Biblical Criticism (Philadelphia: UP, 1985). Wie dieser beginnt er mit dem Gilgamesch-Epos, stellt jedoch zusätzlich elf weitere Beispiele vor (ägyptisches Totenbuch; Chronik; MT und LXX in Jeremia; in Daniel; in Esther; 3Esra; Jubiläen, Genesis-Apokryphon und Liber Antiquitatum Biblicarum; 4Q175, 4Q174, 11QPsa, Tempelrolle und Papyrus Nash; 1QS, CD, 1QM und Henoch; Synoptische Evangelien; Evangelienharmonien). Dabei folgt er exakt der Liste von angeblichen Belegtexten für literarisches Wachstum (127f), welche Reinhard Kratz in seinem Artikel „Redaktionsgeschichte / Redaktionskritik 1. Altes Testament“ in der TRE 28 (1997): 367–378, hier 367f aufführt, fügt dieser dann noch drei weitere immer wieder genannte Belege hinzu (Lev 23 und Num 28; samaritanischer Pentateuch und MT; 1QJesa mit Vergleich mit MT und LXX). Leider kann in der Kürze dieser Rezension hier nicht auf Einzelheiten eingegangen werden.
Doch zunächst die Frage: „Worum es geht“ (3). Das Modell des literarischen Wachstums (literary growth) geht davon aus, dass ein Text über viele Jahre hinweg durch Redaktionen und Fortschreibungen sukzessive gewachsen ist. Als prominente Vertreter nennt Ziemer neben Gertz und Kratz u. a. Christoph Levin, Uwe Becker und Konrad Schmid (20–30). Er gesteht ein, dass auch er selbst dieser Vorstellung in seiner Dissertation zum Opfer fiel (14 Anm. 22; 85). Das Wachstumsmodell findet u. a. Anwendung in redaktionsgeschichtlichen Schichtenmodellen, in Fortschreibungsmodellen, bei der Annahme „sekundärer“ Textelemente, bei der Verteilung eines Textes auf „mehrere Hände“ (76–85). Das mächtige Bild des natürlichen Wachstums (eines Baums mit Jahresringen, eines Schneeballs [rolling corpus, William McKane], eines stratigraphisch zerlegbaren Tells) suggeriert die Möglichkeit der Altersbestimmung verschiedener Schichten durch Experten, sowie des Herausschälens eines ursprünglichen Kerns. Der Text wächst als autonomes Subjekt quasi von selbst (40). Dass jede Kopie ein neues Exemplar neben der Vorlage ist, tritt in den Hintergrund (38f), ebenso die Vorstellung eines master scribes (Sara Milstein) aus Fleisch und Blut.
Ziemer positioniert sich dabei keineswegs als Vertreter der kanonischen Vorstellung, die einzelnen biblischen Bücher stammten von einzelnen Autoren. Als Beweis nennt er Überschriften der Prophetenbücher, welche (warum eigentlich?) nicht von den Propheten stammen könnten (43), sowie das Buch Jesaja, welches „unzweifelhaft“ Informationen aus dem 8. Jh. und „mit derselben Sicherheit“ aus dem 6. Jh. enthalte (6f; vgl. 187). Diese Argumentation berührt die Frage der Legitimität von Redaktionskritik auf Basis eines Urteils über die (Un)Möglichkeit von echter Prophetie. Ziemer stimmt also der Idee ausdrücklich zu, dass die biblischen Bücher während ihrer Überlieferung verändert wurden und mehrere Personen an der Entstehung beteiligt waren (43). Was er jedoch ablehnt, ist die Möglichkeit, dies genau zu rekonstruieren.
Seine These lautet nun, dass es unmöglich ist, allein aus einem Bibeltext ohne externe Evidenz (schriftliche Textzeugen) mit Sicherheit eine Vorform zu rekonstruieren, geschweige denn mehrere Wachstumsstufen. In keinem seiner 15 Beispiele ist eine korrekte Rekonstruktion der älteren Fassung allein durch Analyse der jüngeren möglich (700). Ähnliches prognostizierte bereits Stephen Kaufman, „The Temple Scroll and Higher Criticism“, HUCA 54 (1982): 29–42 (zit. auf S. 99). Mit Hans-Jürgen Tertel, Text and Transmission. An Empirical Model for the Literary Development of Old Testament Narratives (BZAW 221, Berlin: De Gruyter, 1994), sieht Ziemer einen eklatanten logischen Fehler hinter dem bis heute vorherrschenden Optimismus hinsichtlich der Rekonstruierbarkeit von Vorstufen. Eine solche ist nämlich nur dann möglich, wenn folgende Vorbedingungen erfüllt sind: (a) Der Redaktor verzichtete vollständig auf Kürzungen, Ersetzungen oder Umstellungen (14, 32) seiner Vorlage, fügte ihr lediglich Text hinzu (Additives Prinzip). Durch Hinzufügungen versündigte er sich also immer nur einseitig an der doppelten Kanonformel in Dtn 4,2; 13,1 (46f). (b) Die Hinzufügungen setzen sich so stark von der Vorlage ab, dass sie erkennbar sind (Differenzprinzip). (c) Die „Updates“ der Bücher müssen als Unikate tradiert oder – ähnlich wie in Verschwörungstheorien behauptet – alle abweichenden Kopien systematisch vernichtet worden sein (28, Singularitätsprinzip).
Keines dieser drei Axiome ist beweisbar, im Gegenteil: die 15 Beispiele aus dem Alten Testament und seinem Umfeld zeigen, dass in der Antike nicht Wachstum, sondern Selektion der entscheidende Prozess bei einer kreativen Neuverschriftlichung war: in den meisten Fällen wurde bewusst ausgewählt (also auch: ausgelassen) und umformuliert. Sobald jedoch der Text einer Vorlage verändert wird oder sogar verschwindet, ist die Rekonstruktion dieser Vorlage reine Spekulation. Allenfalls kann gehofft werden, das zu identifizieren, was der Autor aus seiner Vorlage ausgewählt und in eigenen Worten integriert hat (699).
Schwäche und Stärke der Argumentation Ziemers ist der steile programmatische Einstieg in das Thema. Wenn er bereits auf S. 24 formulieren kann, dass es an der Zeit ist, „sich von den Axiomen des Wachstumsmodells unwiderruflich zu verabschieden“, unterstreicht dies nicht gerade den deduktiven Charakter der Untersuchung. Man gewinnt den Eindruck: Ziemer hat Glück, dass die empirischen Modelle im Nachhinein das bestätigen, was auf den ersten Seiten bereits bewiesen ist. Andererseits ist es ja oft die Einleitung eines Werks, welche als letztes verfasst wird und bereits das Ganze im Blick hat. Mit seinen konsequenten Forderungen eckt der Autor dort an, wo sich andere bisher mit Kompromissen (etwa mit der unvollständigen oder spekulativen Rekonstruktion einer Vorlage, 21) abgefunden haben. Auch die Aussage, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Argumenten für konkrete Schichten sinnlos ist, weil Fortschreibungen und Redaktoren alle Einwände immer in Luft auflösen (123), ist zwar schlüssig, stellt jedoch den Sinn tausender Forschungsprojekte in Frage. Trotz dieser schmerzhaften Nebeneffekte bedeutet die logisch stringente und beharrliche Infragestellung des additiven Prinzips einen enormen methodischen Fortschritt. Das eigentliche Problem der Redaktionskritik ist damit freilich nicht gelöst. Sieht man einmal von dem Streit um die Möglichkeit von vorausschauender Prophetie und Offenbarung ab: Die rein exegetischen Argumente dafür, dass überhaupt mit „heimlichen“ kreativen Neueditionen biblischer Bücher zu rechnen ist, bleiben äußerst dünn. Die moderne Beurteilung von Inkonsistenzen im Text hat sich als äußerst problematisch herausgestellt. Gerade dass Quellen (Num 21,14; Jos 10,13) und Fortschreibungen (Jer 51,64) sonst oftmals klar markiert werden, deutet darauf hin, dass verborgene Veränderungen der heiligen Texte auch in der Frühphase der Entstehung als illegitim angesehen wurden (Dtn 4,2; 13,1).
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Dr. Siegbert Riecker ist Lehrer an der Bibelschule Kirchberg und Affiliated Researcher an der Evangelischen Theologischen Faculteit in Leuven.