Neues Testament

Jens-Christian Maschmeier (Hg.) / Peter Wick: Schriftgelehrsamkeit und Toraethik

Jens-Christian Maschmeier (Hg.) / Peter Wick: Schriftgelehrsamkeit und Toraethik. Die Bergpredigt im Kontext des Matthäusevangeliums, Stuttgart: Kohlhammer, 2021, Pb., 174 S., € 39,−, ISBN 978-3-17-040040-5


Peter Wick ist Inhaber des Lehrstuhls für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Ruhr-Universität Bochum. Dieser Sammelband, der von Jens-Christian Maschmeier herausgegeben wurde, vereint elf Aufsätze Wicks aus den Jahren 1995 bis 2013. Maschmeier hat außer dem Vorwort eine instruktive Einführung geschrieben (9–19). In sieben der Beiträge Wicks geht es um die Auslegung der Bergpredigt, davon zwei in englischer Sprache. Außerdem enthält der Band folgende Aufsätze: „König Herodes: Messiasanwärter, Pharao, Antichrist“, „Verborgenes und Befohlenes: Schriftgelehrsamkeit und Jüngerschaft bei Matthäus“, „Judas als Prophet wider Willen. Mt 27,3–10 als Midrasch“ und „Matthäus und die Mission“. Im Rahmen der Rezension kann nur auf einzelne Aufsätze eingegangen werden.

In seinem ersten Aufsatz „Die Antithesen der Bergpredigt als paränetische Rhetorik. Durch scheinbaren Widerspruch zu einem neuen Verständnis“ (20–44) formuliert Wick programmatisch sein Verständnis der Antithesen. Sie widersprechen nicht der Tora und auch nicht prinzipiell der Halacha (35). Sie sind vielmehr eine rhetorische Figur, die sich auch in der prophetisch-paränetischen Tradition des frühen Judentums findet (34). Durch „ihren scharfen, scheinbaren Widerspruch zu den göttlichen Geboten“ sollen sie eine neue Verstehens­ebene sichtbar machen und den tiefsten Sinn der göttlichen Gebote aufdecken (40). Hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der Antithesen ist das doppelte Liebesgebot (Mt 22,34–40). Durch dieses gehen sie über die Halacha hinaus, die Wick im engen Sinn als Weisungen für den Gerichtshof versteht. Jesus überbietet die Halacha durch eine haggadische Auslegung vom Liebesgebot her, die nicht juristisch angewendet werden kann. „Jedes Gebot hat eine primäre, allgemeingültige, gesetzliche Ebene und dahinter eine weitergehende Handlungsaufforderung, die legal gar nicht eingefordert werden kann, ohne die zwischenmenschliche Gerechtigkeit zu zerstören. Doch der Mensch kann sich selbst mehr abverlangen als es dem Strafrichter möglich ist“ (38). Im jüdischen Kontext, in dem die Bergpredigt zuerst verstanden werden muss, zeigen die Antithesen, dass die Bergpredigt „keine Gesetzgebung und auch keine halachische Diskussion ist, sondern vor allem Predigt“ (40).

In einem weiteren Aufsatz „Die (sogenannte) erste Antithese (Mt 5,21–26): Eine Pilgerpredigt“ (45–53) sieht Wick Mt 5,21–26 nicht als Antithese, sondern als „eine weitgehende Auslegung des Mordverbots im Dekalog“ an. Er bezeichnet sie daher als „Auslegungswort“ (45) in einem Predigtkontext.

In seinem Aufsatz „Der historische Ort von Mt 6,1–18“ (64–87) sieht Wick diesen in einer Entwicklung des Synagogengottesdienstes in Palästina. Dieser wurde durch eine andere Praxis in der Diaspora beeinflusst, wo zunehmend Privatgebete Raum im Gottesdienst einnahmen. Nach Wick wehre sich Jesus „nach Matthäus dagegen, dass der öffentliche Gottesdienst zur Verrichtung von privaten Gebeten gebraucht wird“ (85). Mt 6,1–18 sei ursprünglich eine Reformpredigt für den synagogalen Gottesdienst gewesen. Jesus biete als progressive Lösung an, dass das Unservater als „kurzes, festgefügtes Gemeinschaftsgebet“ an die Stelle aller öffentlich gesprochenen Privatgebete trete. Ziel sei, „die Schriftlesung und deren Erklärung und Auslegung … als Hauptzweck jedes Gottesdienstes“ zu schützen (86). Wick meint, auch wenn diese Hypothese kühn sei, werde „sie nicht nur den Quellen eher gerecht als andere Hypothesen“, sondern könne „auch die differenzierten Aussagen des Evangeliumstextes besser wahrnehmen“ (87).

Den Abschluss bildet der Aufsatz „Matthäus und die Mission“ (155–168). Während der Stammbaum im Matthäusevangelium auf das erwählte Volk Israel ausgerichtet ist, zeigt die Nennung der vier ausländischen Frauen in ihm, dass „die Brücken zwischen dem erwählten Volk und den Völkern nie ganz abgebrochen worden ist“ (156). Gegen die Mitte des Evangeliums hin verdichtet sich alles allein auf Israel. Im Zusammenhang der letzten Auseinandersetzung Jesu in Jerusalem wird dann – unter anderem mit dem Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mt 21,33–46) – die Perspektive gewechselt zur Hinwendung zu den „Nichterwählten“ (159). Nach der Auferweckung Jesu „hat sich die Auslieferung des Messias an die Heiden ins Positive gewendet: Die Völker sollen und können nun durch die jüdischen Jünger zu Jüngern gemacht werden“ (161). Die Mission sieht Wick als das letzte Ziel des Matthäusevangeliums. Der Missionsauftrag sei insbesondere ein Lehrauftrag, denn die Völker sollen die Gebote Jesu in ethische Praxis umsetzen (Mt 28,20). „Völkermission ist also für Matthäus auch ein universales Schulungsprogramm. Gott und der Christus sind die Lehrer. Die Jünger werden von lernenden zu lehrenden Schülern“ (167). Zu Recht versteht Wick in Mt 28,20 das Taufen und Lehren als inhaltliche Näherbestimmung (modaler Gebrauch der Partizipien) des Zu-Jünger-Machens. Zu kurz kommt mir dabei, dass im Neuen Testament nur Menschen getauft wurden, die durch die Verkündigung des Evangeliums zum Glauben gekommen waren. Im apokalyptischen „Zwischen-Zeit-Raum“ zwischen der Auferstehung Christi und seiner Wiederkunft „sollen die Jünger hingehen und alle Völker an den dreieinigen Gott binden und das praktische Handeln der Völker nach dem Willen seines Christus verändern“ (167f).

Wick stellt in seinen Aufsätzen manche bisherigen Einsichten in Frage und überrascht mit seinen exegetischen Ergebnissen. So hilft er dazu, Worte Jesu von ihrem historischen Hintergrund her noch einmal neu und tiefer zu verstehen. Auch wenn ich nicht allen Argumenten und Auslegungen zustimme, motiviert Wick dazu, neu über die neutestamentlichen Texte nachzudenken. Zu würdigen ist auch seine profunde Kenntnis des zeitgenössischen jüdischen Hintergrunds, der für das Verstehen des Matthäusevangeliums und für die Auslegung grundlegend ist. Insgesamt ist der anregende Sammelband zur Lektüre zu empfehlen.


Dr. Wilfrid Haubeck, Professor em. für Neues Testament und Griechisch an der Theologischen Hochschule Ewersbach in Dietzhölztal