Altes Testament

Dieter Böhler: Psalmen 1–50

Dieter Böhler: Psalmen 1–50, HThKAT, Freiburg i. Br.: Herder, 2021, Ln., 960 S., € 150,–, ISBN 978-3-451-26825-0


Die Psalmenkommentierungen von Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger in dt. Originalausgabe und engl. Übersetzung (in der Reihe „Hermeneia“) dürfen als die derzeit profiliertesten angesehen werden. Nach dem Tod der beiden übertrugen die Herausgeber des HThKAT (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament) Dieter Böhler die Aufgabe, die Kommentierungen von Hossfeld/Zenger (2000: Ps 51–100; 2008: Ps 101–150) mit einem dritten, dem hier vorzustellenden ersten Band (samt Einleitung) zu komplementieren (in der engl. Hermeneia-Reihe werden Ps 1–50 von Johannes Schnocks und Kathrin Liess kommentiert werden). Böhler, Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Norbert Lohfink in Frankfurt a. M., der sich in der Psalmenforschung bisher (noch) keinen Namen gemacht hat, schlüpft damit in große Schuhe. Mit knapp tausend Seiten ordnet er sich vom Umfang her gut in die Vorgängerbände ein. Der Band gliedert sich in ein allgemeines Literaturverzeichnis (13–24, ergänzt mit spezifischer Literatur zu den jeweiligen Psalmen), eine Einleitung (25–64) und der Kommentierung der fünfzig Psalmen (66–924). Ein umfangreiches Bibelstellenverzeichnis (925–960) beschließt den Kommentarband. Inhaltlich weiß B. sich wie Hossfeld/Zenger der Verbindung von Psalmen- und Psalterexegese verpflichtet. Allerdings stellt er den synchronen gegenüber dem diachronen Aspekt und die Einzelauslegung gegenüber der Psaltereinbindung (lectio continua) stärker in den Vordergrund.

Die Einleitung umfasst dreizehn Abschnitte in sachlich teils etwas verwirrender, synchroner und diachroner Überlegungen abwechselnder Anordnung. Die Kapitel zu Poesie und Theologie sind (zu) kurzgehalten. Was die Datierung der Psalmen betrifft, sind einzelne vor/im Exil, die meisten jedoch nachher entstanden (manche lassen sich nicht zeitlich einordnen). Die Buchwerdung betreffend liegen erste Sammlungen bis 300 v. Chr. vor (David I+II). Im dritten vorchristlichen Jahrhundert entstehen schubweise der Elohistische (Ps 42–83*), der Messianische (Ps 2–89*), der JHWH-König- (Ps 2–100*) und der Geschichtstheologische Psalter (Ps 2–106*). Der Psalter fand seinen Abschluss und seine Funktion als „Meditationsbuch“ in der ersten Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. (mit dem Rahmen Ps 1/146–150 – Buch V mit Ps 107–145 findet im Schema seltsamerweise keine Erwähnung). In einem längeren Kapitel geht B. auf die Teilkompositionen der ersten David-Sammlung bzw. von Buch I ein. Entgegen der von Hossfeld/Zenger etablierten und von anderen Forschern (v. a. mit Blick auf Ps 15–24) bestätigten Subgliederung Ps 1–2||3–14|15–24|25–34|35–41||…) postuliert B. unter Korrelation mit David-Episoden aus den Samuelbüchern, den Präskriptangaben und Stichwortverbindungen die folgenden drei Einheiten: Ps 3–21 („Davids letzter Konflikt“, vgl. 2Sam 22 // Ps 18), Ps 22–31 („Das Leiden Davids und die Bekehrung der Nationen“) und Ps 32–41 („Davids Gewaltlosigkeit, sein Scheitern und die Rettung“). Der erste Erzählbogen umfasst die Etappen Ps 3–9 (Abschalom-Midrasch), Ps 10–14 (Joab­­-Klage) und Ps 15–18 (Davids Ende); angefügt sind Ps 19 (Tora-Meditation) und mit Ps 20f zwei an Salomo gerichtete Prinzen-Psalmen. Der dritte Erzählbogen schließt wie der zweite und die Korachgruppe mit weisheitlicher Reflexion und ist darüber hinaus durch Seligpreisungen gerahmt. Ein solcher, neuer Vorschlag einer Kompositions- und Sinnstruktur wäre wünschbarerweise in einem separaten Beitrag vorab zur Diskussion zu stellen gewesen, zumal im Rahmen eines Kommentars keine angemessene Begründung möglich ist. Ob dieser Vorschlag, der neben der Psalmenabfolge von keinen zentrierenden Konfigurationen ausgeht, in der Psalterforschung sich durchzusetzen vermag, bleibt fraglich. In weiteren Kapiteln wird u. a. über die verschiedenen Elemente in den Präskripten (MT, LXX) und zu psalterkompositionellen Aspekten referiert (Iuxtaposition, Konkatenation, Eckpsalmen und Gesamtrahmung; Psalter entstand in Chasidim-Kreisen vor dem Makkabäeraufstand).

Für die Kommentierung von Ps 1–50 folgt B. weithin dem Ablaufschema von Hossfeld/Zenger: Spezialbibliografie – Übersetzung (mit Vers- und Strophenstruktur; qtl in der Regel vergangenheitlich, jqtl futurisch oder modal wiedergegeben) – Anmerkungen zu den einzelnen Versen – Analyse (Aufbau und Poesie, Gattung, Entstehung) – Auslegung (den Versen entlang, teils unter Beigabe von s/w-Abbildungen) – Kontext, Rezeption, Bedeutung (Nachbarpsalmen, LXX, NT, Kirchenväter, Liturgie).

Was die Auslegung der einzelnen Psalmen betrifft, muss auf den Kommentar selbst verwiesen werden. Folgende Tendenzen lassen sich ausmachen: B.s sprachliche Analyse ist ausführlich und detailgetreu – eine Stärke dieses Kommentars. Sensitiv ist er auch mit Blick auf Gliederung und poetische Strukturen (Wiederholungsfiguren etc.). Zur Betonung der Philologie fügt sich, dass stetig der Kommentar von Delitzsch (und teils weitere ältere wie der von Hengstenberg u. a.) einbezogen wird. Neben diesem werden Zenger (und Hossfeld) sowie Oeming (Nähe zu dessen Spätdatierung) häufig erwähnt. Der Einfluss von Lohfink (u. a. Stichwortverbindungen) ist (aufgrund der nicht zitierfähigen Vorlesungsskripte) meist nicht ausgewiesen, aber groß, wie B. erwähnt. Gegenüber Hossfeld/Zenger bestimmt er deutlich mehr Psalmen als einheitlich; dabei setzt er sie in der Regel spät an, oft im Verbund mit sprachlichen Überlegungen (Aramaismen), weniger einem Zeitgeschehen zuordnend. Gute Beachtung widerfährt der LXX, neu und gewinnbringend ist der Einbezug der Patristik. Die Bezüge zum NT werden in der Regel erwähnt; beim bedeutsamen Ps 2 (Hoheitschristologie u. a.) beschränkt sich B. leider auf ein paar Zeilen. Dass der Kommentar aus katholischer Hand kommt, merkt man bei der Rubrik Rezeption (weithin Beschränkung auf Kirchenväter und Messliturgie). Die „Psalterexegese“ manifestiert sich – über Hinweise in der Einleitung hinaus im Aufweis von Relationen zu den Nachbarpsalmen, ab und zu ergänzt mit Hinweisen zum jeweils vorliegenden Erzählbogen (u. a. bei Ps 9f; 15; 22; 30f; 41). Wenn Ps 1 (mit 2) Proömium ist, bedürfte es Ausführungen, was dieser Psalm zum Verstehen des Psalters beiträgt. Die „Tora JHWHs“ in 1,2 bezeichne „die gesamte Weisung der Mosetora, die unser Psalm hier vor Augen hat“ (71). Ist dem so (JHWH-Tora = Mose-Tora), und was bedeutet dies für den Psalter? Bei dem in Ps 1 „Seliggesprochenen“ sei David im Blick (und zugleich Sprecher des Psalms?!). Wie ist das zu begründen und welcher Sinnhorizont verbindet sich damit?

Fazit: Mit diesem Band, der die HThKAT-Kommentierung des Psalters abschließt, bekommt die Leserschaft einen umfang- und materialreichen Kommentar zur Hand. Dieser besticht durch philologisch gründliche Arbeit, eine solide Auslegung der einzelnen Psalmen und einen hilfreichen Einbezug der Rezeptionsgeschichte (v. a. LXX und Väterexegese). Die theologische Ausschöpfung und die psalterhermeneutische Einordnung haben – gegenüber den nachfolgenden Auslegungsbänden von Hossfeld/Zenger – einen geringeren Stellenwert. Angesichts des beschränkten Zeitumfangs der Einarbeitung in ein großes Forschungsgebiet ist Böhler – zumal als Alleinausleger gegenüber seinen Vorgängern – ein respektabler Kommentar gelungen, der uns den ersten Drittel des Psalters verstehen hilft. Dafür ist ihm zu danken.


Beat Weber, Pfr. Dr. theol., Basel, Research Associate am Department of Ancient and Modern Languages and Cultures, Universität Pretoria, Südafrika