Neues Testament

Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand

Klaus Wengst: Wie das Christentum entstand. Eine Geschichte mit Brüchen im 1. und 2. Jahrhundert, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2021, geb., 352 S., € 22,–, ISBN 978-3-579-07176-3


Inge Auerbacher wurde an Silvester 1934 als Kind jüdischer Eltern im badischen Schwarzwalddorf Kippenheim geboren. Am Holocaust-Gedenktag 2022 sagte die 87jährige Überlebende des KZ Theresienstadt (seit 1946 lebt sie in New York) in ihrer Ansprache im Bundestag u. a.: „Ich bin ein Schwarzwaldmädel … In Kippenheim lebten Juden und Christen friedlich zusammen.“ Ortswechsel: Im friedlichen Miteinander sitzen Synagoga and Ecclesia in Our Time in der Bronzeskulptur Joshua Koffmans in der Universität Philadelphia/USA nebeneinander. Ihr Outfit, Physiognomie und Haarschnitt sind identisch; Synagoga hält eine Torarolle in ihren Händen, Ecclesia eine Bibel. Beide blicken jeweils in die Heilige Schrift der anderen. Aus gutem Grund besteht das Cover von Wengsts – das deutet er im Vorwort an – vielleicht letztem Buch aus einer Fotografie von Koffmans Plastik. Wie ein roter Faden zieht sich nämlich durch sein Schreiben und Reden der Wunsch, dass er “um Gottes willen nicht auf jüdische Mithörer verzichten kann“ (so auf S. 11 seines Kommentars zu Joh [2019]).

Was Wengsts Buch jedoch zum Inhalt hat, ist die gegenteilige Geschichte. Diese begann zwar vor dem NT mit dem Juden Jesus als einem selbstverständlichen Glied der jüdischen Gemeinschaft seiner Zeit (21–160 „I Der Anfang ist jüdisch“), endet allerdings im Dissens. Ab der ersten Hälfte des 2. Jh. gibt es das „Christentum als eigenständige Größe“ (337). Denn die nach Ostern sich auf Jesus beziehende Gemeinschaft glaubte an Jesus als den Messias schlechthin. Infolgedessen öffnete sie sich konsequenterweise für die Völkerwelt“ (vgl. 159). Die folgenreiche Trennung entzündete sich an der Frage, ob Judenchristen und Heidenchristen „unter jüdischen oder nichtjüdischen Bedingungen zusammenleben“ (= Kapitelüberschrift von 135–147). In der Fortsetzung bekommt das Stichwort „Brüchen“ des Untertitels vielfache Gestalt, nicht zuletzt in den Überschriften der Kap. II („Bruchstellen“) und III („Im und nach dem Bruch“). Jeden der drei Teile beschließt Wengst mit einem „Rückblick“; und ganz am Ende steht dann (335–345) der „Schluss: Was nun?“. Darin öffnet er sein Buch ganz für die Gegenwart und plädiert i. S. des Covers für einen Dialog zwischen Juden und Christen – in der „Bescheidenheit der Hinzugekommenen“ (339).

Nach diesem ersten Überblick möchte ich meinen Gesamteindruck sagen, sowie dann auch (An-)Fragen stellen.

Wengsts populärwissenschaftliches Buch schildert theologenkohärent, lebendig und gut lesbar geschrieben, die konfliktreiche Geschichte des Gegeneinanders von Christentum und Judentum in seinen Anfängen. Während Bultmann in „Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen“ seinen Fokus auf den synkretistischen Hellenismus richtete und das Christentum primär darin lozierte, beschränkt sich Wengst historisch – und theologisch sicherlich richtiger – auf das Judentum.

Dabei ist allerdings grundsätzlich zu fragen, ob nicht Jesu Reden und Wirken viel mehr Sprengstoff enthält, als Wengst sieht. Beispielsweise nennt er (24–27) sechs bruta facta zum historischen Jesus und stellt am Ende dieses Abschnittes (44) fest, dass wir in den Evangelien dem Juden Jesus begegnen – „und damit Jüdischem und nur Jüdischem.“ Also kein Wort von den Gegnern, Feinden und Anfeindungen Jesu.

Insgesamt betont er in seiner Darstellung meiner Meinung nach zu sehr die Diskontinuitäten und sieht zu wenig die Kontinuitäten, die sich im NT erhalten haben. Ein differenzierteres Bild ergäbe sich, wenn Wengst Kommentare zu den Evangelien, zur Apostelgeschichte und zu Paulus konsultiert hätte, also tiefer eingestiegen wäre.

Seit dem Holocaust vollzog sich in unserer Gesellschaft, in Theologie und Kirche Gott sei Dank ein radikaler Wandel in der Einstellung zum Judentum. Während beispielsweise ältere Paulusdarstellungen Israel nur einen marginalen oder gar keinen Raum einräumten, hat es bei Eichholz (Eichholz, Georg: Die Theologie des Paulus im Umriss, Neukirchen-Vluyn, 1972) und jüngstens bei Wolter (Wolter, Michael: Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Göttingen, 2021) in den Schlusskapiteln einen gewichtigen Platz bekommen. Nicht dass Wengst die Bedeutung Paulus´ prinzipiell unterschätzen würde; aber er berücksichtigt Röm 9–11 zu wenig – und das ist fatal! Außerdem ruft der Schriftgelehrte Paulus in Röm 15,7–11 Juden wie Heiden(-Christen) zur gemeinsamen Freude auf.


Dr. Gerhard Maier, Pfarrer i. R., Neuffen