Neues Testament

Volker Gäckle: Das Reich Gottes im Neuen Testament

Volker Gäckle: Das Reich Gottes im Neuen Testament, BTS 176, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018, kt., 304 S., € 39,–, ISBN 978-3-7887-3296-7


Volker Gäckle, seit 2011 Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell und dort als Professor für Neues Testament beschäftigt, legt nach eigenem Bekunden das Endergebnis seines theologischen Austauschs mit dem Osloer Neutestamentler Hans Kvalbein vor: ein neues Nachdenken über das Reich Gottes im Neuen Testament. Gäckle sieht in der βασιλεία τοῦ θεοῦ den „wahrscheinlich […] schillerndste[n] Begriff“ in Jesu Verkündigung, der sich wie „bei einem Kaleidoskop […] zu verändern“ scheine (1). Damit widmet sich sein Werk einem Thema, das in der Forschung oft eine nebengeordnete Rolle zu spielen scheint. Zentral ist für ihn bei der Näherung an diesen Begriff die Unterscheidung, ob er präsentisch oder futuristisch belegt ist: „Der Begriff sei von der Ambivalenz des mit Jesu Wirken schon anbrechenden und damit bereits gegenwärtigen, aber gleichzeitig auch noch eschatologisch erwarteten Reiches geprägt“, wie er im Vorwort ausführt. Sein zentrales Anliegen ist das Verständnis vom Reich Gottes in „in einem spatialen Sinn als einen futuristischen Ort des Heils“ (251), der futuristisch-endzeitlich verstanden werden sollte. Doch beschäftigt sich Gäckle mit vielen weiteren Fragestellungen, die sich auch im Aufbau der Arbeit niederschlagen.

Zunächst legt der Autor eine nicht zu knappe Übersicht über die Forschungsgeschichte vor.  Hier wirft er auch die für ihn zentralen Forschungsfragen auf, insbesondere die oben angesprochene Frage nach der Gegenwärtigkeit und Zukünftigkeit des Reiches Gottes: „Entsprechend vielfältig sind bis heute die Entwürfe und Vorschläge und entsprechend fern sind wir nach wie vor von einem Konsens in diesen Fragen.“ (15) Eine ausführliche rezeptionsgeschichtliche Betrachtung fehlt und hätte der Hauptargumentation sicherlich gutgetan. Aufgrund des Umfangs ist dies aber nachvollziehbar. Das zweite und dritte Kapitel widmet sich dem Reich Gottes im Alten Testament sowie dem Reich Gottes im frühjüdischen Schrifttum, in der die vielfältige Verwendung des titelgebenden Begriffs dargestellt wird.

Fünf Kapitel widmet Gäckle nun der systematischen Untersuchung der neutestamentlichen Schriften. Zunächst in der Verkündigung Jesu, dann in den paulinischen Schriften, der Apostelgeschichte, dem Johannesevangelium und schließlich in der Johannesapokalypse. Dabei sieht Gäckle die βασιλεία τοῦ θεοῦ nicht in einer apokalyptischen Verwendung: Für ihn verkündigt Jesus eine βασιλεία, die „als eine präsentische Wirklichkeit beschrieben wird, die allerdings erst endzeitlich offenbar werden wird.“ (30). Da der Begriff laut Gäckle für die hellenistisch-römische Umwelt unverständlich gewesen ist, sei er recht zügig von dem Begriff „ewiges Leben“ verdrängt worden. So erklärt Gäckle auch die seltenere Verwendung bei Paulus, bei dem „der Begriff zu einer Chiffre für das endzeitliche Heil und dessen normstiftenden Charakter für die Gegenwart geworden ist“ (158). Noch weiter sei dieser Prozess bei Lukas fortgeschritten, bei dem weniger die eschatologischen und gegenwärtigen Aspekte im Vordergrund stünden. Vielmehr verwende Lukas den Begriff als „Bezeichnung für die christliche Botschaft“ (177). Gäckles Analyse des Johannesevangeliums fällt notwendigerweise kurz aus und in seinem Fazit kann er nur indirekte Bezüge herstellen. In der Johannesapokalypse wiederum findet der Autor beide Formen des Reiches Gottes: die Gottesherrschaft und das neue Jerusalem als eschatologischen Heilsort.

Eingeklammert wird diese Beschäftigung mit den neutestamentlichen Schriften mit Kapitel 9, das sich mit dem Reich Gottes in der nachkanonischen christlichen Literatur des 2. Jahrhunderts beschäftigt. Hier spielt der Begriff eine untergeordnete Rolle und außer in biblischen Bezügen „fällt sofort der fast futuristisch-eschatologische Gebrauch des Begriffs ins Auge.“ (218). Gäckle widerspricht einer Veränderung von einem dynamischen zu einem statischen Denken des Reiches Gottes: „Eine dynamische-präsentische Bedeutung des Begriffs βασιλεία τοῦ θεοῦ im Sinne einer gegenwärtigen Königsherrschaft Gottes konnte weder im Neuen Testament noch in der frühchristlichen Literatur des 2. Jh. nachgewiesen werden. Es findet sich auch nirgendwo eine Verhältnisbestimmung zwischen dem ‚Reich Gottes‘ und der ‚Herrschaft Gottes‘.“ (239) Dass sich die Deutung des Begriffs aber trotzdem änderte, finde eine Vielzahl von Gründen. Neben dem „Strudel der philosophischen, nomistischen und gnostischen Deutungen der ntl. Schriften“ führt der Autor auch eine „Verflachung des Glaubensbegriffs zu einem bloßen Glaubensgehorsam“ an. Die exegetischen Einzelbetrachtungen des Autors sind gründlich, ebenso wie seine Beobachtungen zur Verwendung von Begriffen und Begriffsbildern. Auffällig ist aber, dass die Hauptargumente oft nicht pointiert platziert werden, häufig wird beispielsweise dann doch auf ein dynamisches Verständnis des Reiches Gottes hingewiesen.

Sein Fazit zieht Gäckle in Kapitel 10. Für ihn ist der untersuchte Gegenstand eine optimale „Projektionsfläche für die unterschiedlichsten theologischen Konzepte“ (241) — und dies kann der Autor sehr nachvollziehbar darlegen. Es wird vor allem für eine futuristische Deutung der βασιλεία τοῦ θεοῦ plädiert, wobei einige Aspekte auf eine „eschatologische Heilsgabe des ‚ewigen Lebens‘, die bereits präsentisch empfangen, erlangt, ererbt oder besessen werden kann, die aber erst im Eschaton sichtbar werden wird“ (243) hindeuten. So plädiert Gäckle auch dafür, dass nur an wenigen neutestamentlichen Stellen eine Übersetzung mit „Königsherrschaft Gottes“ sinnvoll sei. Der Begriff sei viel eher „in einem spatialen Sinn als ein […] futuristische[r] Ort des Heils und [an] einige wenige im Sinne einer futuristischen Zeit des Heils“ (251) zu deuten. Damit wird ein Gegenentwurf zur derzeitigen theologischen Mehrheitsmeinung präsentiert. Dass Gäckle damit auch „sozialpolitische und gesellschafts­transformatorische Programme“ (252) kritisiert, mag nicht jedem Leser schmecken. So ist das Werk in jeder Hinsicht eine Streitschrift, die bei dieser bis hin in die Gemeindepraxis relevanten Fragestellung zu vielfältigen weiteren Diskussionen herausfordert. Es bleiben einige offene Fragen, die – wie etwa die weitere Rezeptionsgeschichte – allerdings den Rahmen des Buches in dieser Form wohl gesprengt hätten.

Das Werk ist sprachlich zugänglich, auch wenn es sich definitiv an Fachkundige und nur am Rande an interessierte Laien richtet. Der systematische Aufbau folgt Gäckles Argumentationslinie, ein Literaturverzeichnis, ein Autorenregister und ein Stellenregister in Auswahl runden das Werk ab.


Jens Dörpinghaus, University of Pretoria, Faculty of Theology and Religion, Hatfield, Pretoria, South Africa