Neues Testament

Angela Standhartinger: Der Philipperbrief

Angela Standhartinger: Der Philipperbrief, Handbuch zum Neuen Testament 11/I, Tübingen: Mohr Siebeck, 2021, br., IX+308 S., € 49,–, ISBN 978-3-16-160245-0


Der neue Kommentar von Angela Standhartinger, seit 2000 Professorin für Neues Testament in Marburg, ersetzt in der von Hans Lietzmann begründeten Reihe Handbuch zum Neuen Testament den 1911 veröffentlichen Kommentar zum Philipperbrief von Martin Dibelius (revidiert 1925 und 1937). Das Ziel, formuliert in Übereinstimmung mit den Zielen der Kommentarreihe, beschreibt Standhartinger im Vorwort mit einem zweifachen Schwerpunkt: sie „möchte im Gespräch mit antiken Quellen und der Forschungsliteratur, die zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi diskutierten theologischen und ethischen Fragen und Antworten rekontextualisieren und rekonstruieren“ (V).

Die Einleitung (1–72) behandelt zunächst den Text des Philipperbriefs. Der Hinweis, dass P46 „heute von vielen“ nicht mehr um 200 n. Chr., sondern ins 3. oder 4. Jh. datiert wird (1), wird mit Hinweisen auf Pickering, Barker, und Nongbri belegt, ohne Kim zu erwähnen, der den Papyrus vor die Regierungszeit Domitians datiert, was ebenso unplausibel ist wie eine Datierung in das 4. Jh. Die Kurzgefasste Liste des Instituts für Neutestamentliche Textforschung in Münster gibt nach wie vor 200–225 n. Chr. an.

Für die Frage nach dem Absender (3) werden die Argumente von F. C. Baur referiert, der eine paulinische Verfasserschaft leugnete, und jüngere Autoren erwähnt, die ihm beipflichten (zuletzt Schwab; man hätte auch die Computeranalysen von Morten und McLeman erwähnen können), ohne diese überzeugend zu finden. Auf eine Widerlegung der Argumente von Baur und späteren Bezweifeln paulinischer Autorschaft wird leider verzichtet. Nach einer kurzen Skizze der Geschichte der Stadt Philippi wird die Entstehungsgeschichte der Gemeinde behandelt (10–14), einschließlich der Darstellung der Apostelgeschichte, deren Quellenwert für die historische Mission des Paulus in Philippi jedoch als „sehr begrenzt“ eingeschätzt wird (12; die bibliographischen Angaben lassen mehrere Arbeiten zur urchristlichen und paulinischen Mission vermissen). Nach einem ausführlichen Referat über Papyrusbriefe und die Cicerobriefe (17–20) schließt sich Standhartinger den Teilungshypothesen von Bornkamm und Bormann zum Philipperbrief an (20–22), ohne dies zu begründen oder sich mit den Argumenten, die für die literarische Integrität des Briefs sprechen (vgl. Black, Bockmuehl, Häußer, Jennings, O’Brien, Schnelle, Schoon-Janßen, Watson, Wick), auseinanderzusetzen. Der angeblich in Philippi zwischen 100–150 redigierte Brief besteht nach Standhartinger aus einem Quittungsschreiben (Phil 4,10–20), einem Freuden- oder Dankesbrief (1,1–3,1 + 4,1–7,9b, 21–23) und einem autobiographischen Kampf- oder Warnbrief (3,2–21). Die Kommentierung folgt der „kanonisch gewordenen Anordnung“ (23), was kaum konsequent ist, wenn man die kanonisch postulierte Einheit des Briefs aufgibt. Wenn man Paulus die angenommenen Gedankensprünge nicht zutraut und diese als Anlass zu Teilungshypothesen nimmt, muss man diese dem Redaktor zutrauen, der einen Gesamtbrief aus einzelnen kleineren Briefen ziemlich ungeschickt redigiert hätte.

Als Abfassungsort wird Ephesus den Alternativen Rom und Caesarea Maritima vorgezogen (31–34), in erster Linie aufgrund der Erwähnung des Praetoriums in Phil 1,13 (vgl. Exkurs 3, 101–103), eine Angabe, die jedoch wenig aussagekräftig für eine ephesinische Lokalisierung ist, jedenfalls nicht im Vergleich mit Belegen für die Prätorianergarde in Rom, die wohl den Soldaten stellte, der Paulus nach Apg 28,16 bewachte (eine Stelle, die Standhartinger (103) für historisch belastbar hält); das Argument, dass ἐν ὅλῳ „so gut wie nirgends mit einer Personengruppe verbunden“ ist (103) und ἐν ὅλῳ τῷ πραιτωρίῳ ein Ort sein muss, also ein Statthalterpalast, den man für Ephesus, aber nicht für Rom voraussetzen kann, wo es keinen Statthalter gab, ist nicht stichhaltig: ἐν ὅλῳ verweist in Röm 1,8 auf Personen (ἐν ὅλῳ τῷ κόσμῳ ist keine „Ortsangabe“ sondern meint „unter allen Menschen“, vgl. Wolter u. a.), so auch Mt 24,14; 26,13; cf. Hebr 3,2.5; cf. Num 12,7 LXX), was sich auch daraus ergibt, dass die Präposition ἐν die unmittelbar folgende Dativwendung καὶ τοῖς λοιποῖς πᾶσιν bestimmt, die sich ganz sicher nicht auf weitere Orte sondern auf weitere Personen bezieht (Standhartinger hält beides für möglich; sie interpretiert in Exkurs 18 die Angabe in Phil 4,22 οἱ ἐκ τῆς Καίσαρος οἰκίας, die neben anderen Gläubigen die Christen in Philippi grüßen, als Mitgefangene oder vielleicht Bewacher, wobei Tertullian und Märtyrerakten als Belege akzeptiert werden, nicht jedoch Phil 4,22 selbst als Hinweis auf Jesusbekenner unter der direkten Dienerschaft des Kaisers, was sie ohne Angabe von Gründen frühestens im 3. Jh. für möglich hält). Standhartinger hält Paulus in Apg 19 nur für eine Nebenfigur (32) und schreibt, der Autor der Apostelgeschichte führe die Inhaftierung des römischen Bürgers Paulus „ausschließlich von vornehmsten Bewachern“ in der Apostelgeschichte auf deren allgemeine „Tendenz“ zurück (307), was dann doch die Frage aufwirft, weshalb die Autorin einen Aufenthalt von Paulus in Ephesus akzeptiert, der nur in der Apostelgeschichte erwähnt wird, und eine Gefangenschaft in Ephesus annimmt, die nirgends belegt ist und hypothetisch rekonstruiert werden muss.

Auf die Einleitung folgt das ausführliche Literaturverzeichnis (35–68), aufgeteilt in 1. Hilfsmittel, Quellen und allgemeine Literatur, 2. Kommentare zum Philipperbrief, 3. Literatur zum Philipperbrief, gefolgt von den Abkürzungen (68–72). Bei den „Quellen“ findet man auch die patristischen Kommentare zum Philipperbrief; eine Auflistung im zweiten Abschnitt wäre logischer; so findet man die Übersetzung von Theodor von Mopsuestias Kommentare zu den kleineren Paulusbriefen (Greer) zwischen Gerlach, Griechische Ehreninschriften, und Holm-Nielsen, Die Psalmen Salomos. Weshalb manche Titel im dritten statt im ersten Abschnitt aufgelistet werden, ist nicht immer ersichtlich (z. B. Margaret M. Mitchell: „New Testament Envoys in the Context of Greco-Roman Diplomatic and Epistolary Conventions. The Example of Timothy and Titus“, in: JBL 111, 1992, 641–662, behandelt nicht speziell den Philipperbrief und wäre deshalb eher bei der „allgemeinen Literatur“ im ersten Abschnitt zu erwarten; dasselbe gilt für viele andere Titel im dritten Abschnitt).

Die Kommentierung des Textes folgt dem üblichen Schema der HNT. Für die einzelnen Perikopen wird zunächst eine deutsche Übersetzung präsentiert, gefolgt von einer Bibliografie, einer Einleitung (Behandlung kontextueller, struktureller, gattungskritischer, und allgemeiner inhaltlicher Beobachtungen), der Einzelexegese, und eine „knappe, zusammenfassende Auslegung“ im Sinn einer theologischen Interpretation (V). In den bibliographischen Abschnitten werden Titel, die in der Bibliografie aufgelistet wurden, von Kommentaren abgesehen, noch einmal erwähnt (bei der ersten nochmaligen Erwähnung mit vollständigen bibliografischen Angaben), was diesen Abschnitten oft einen beträchtlichen Umfang gibt. In der Einzelexegese wird für jeden Vers der griechische Text zitiert, was nicht in allen neuen HNT Bänden üblich ist (vgl. Lindemann, Der Erste Korintherbrief; Wolter, Das Lukasevangelium). Nach dem Standard der HNT Reihe werden alle Hinweise auf Quellen und Literatur in den laufenden Text eingearbeitet. Standhartinger hat sich bemüht, den Text so lesbar wie möglich zu gestalten und Quellen- und Literaturhinweise an das Ende ihrer Sätze zu stellen, was nicht immer gelungen ist (z. B., die ersten drei Auslegungsvorschläge zu πολιτεύεσθε in 1,27 werden in einem achtzeiligen Satz referiert, in dem in drei Nebensätzen auf vierzehn Autoren verwiesen wird; ein vierter Vorschlag wird knapp vorgestellt und dann ausführlich behandelt, ehe in einem neuen Abschnitt ein fünfter Vorschlag als der plausibelste eingeführt wird, allerdings ohne Begründung oder Vergleich mit den anderen Vorschlägen). Die zusammenfassenden Auslegungen am Ende der Einzelabschnitte sind unmittelbar zugänglich; wer sich auf Predigten oder Bibelarbeiten vorbereitet, wird wahrscheinlich zuerst diese theologischen Verdichtungen lesen.

Komplex ist die Einleitung zur Exegese von 2,6–11. Standhartinger skizziert die zwei wichtigsten Grundpositionen im Blick auf die theologische Grundaussage des Textes, ortet ihre eigene Position, schließt sich der Gattungsbestimmung Hymnus an, und behandelt dann in zwei Exkursen die Gattung Hymnus (Exkurs 8, 152–156, mit der Vermutung, dass der Hymnus bzw. das Hymnusfragment in Philippi oder vom Stephanuskreis komponiert wurde) und den religionsgeschichtlichen Hintergrund (Exkurs 9, 156–167, mit Behandlung der verschiedenen Vorschläge: Adam, der Himmelsmensch, der Gottesknecht, der Urmensch-Erlöser, die himmlische Weisheit und weisheitliche Theologie, sich in Menschen verwandelnde Götter und in den Himmel entrückte Menschen, der Kaiserkult, der Menschensohn und andere Throngenossen Gottes im Frühjudentum; Standhartinger hält alle vorgeschlagenen religionsgeschichtlichen Kontexte als Anknüpfungspunkte für möglich, auch wenn sie nicht von allen vorgeschlagenen sprachlichen Parallelen überzeugt ist). Die zusammenfassende Auslegung verweist (ohne Kommentar) u. a. auf Marchal, der die Befreiung aus menschengemachten Unterdrückungsverhältnissen durch die Betonung der Selbsterniedrigung und des Gehorsams gefährdet sieht (181). Die Arbeiten von Larry W. Hurtado: Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids: Eerdmans, 2003, der die Anbetung Jesu als Kennzeichen göttlicher Würde betont, und Richard Bauckham, Jesus and the God of Israel, Grand Rapids: Eerdmans, 2008, der den Einschluss Jesu in die Identität Gottes als theologische Innovation beschreibt, die in der Tradition nur sehr minimale Anhaltspunkt hat, werden durchgehend ignoriert. Standhartinger ist von dieser Position wahrscheinlich nicht weit entfernt, wenn sie betont, dass bei der Rezitierung bzw. beim Singen des Hymnus „Gottes Selbstoffenbarung in der Geschichte“ und „die pneumatische Herrschaft, die der auferweckte und erhöhte Gekreuzigte als Kyrios bereits gegenwärtig über die Gemeinde ausübt“ vergegenwärtigt werden (181, mit Zitat Söding).

Wie in jedem Kommentar wird man sich bei manchen Fragen anders entscheiden, oder vorsichtiger formulieren. Ob in 1,27–28 militärische Metaphern vorherrschen und Paulus „das Bild einer Entscheidungsschlacht, in der die Gemeinde als Mitstreiterin Gottes bei der eschatologischen Durchsetzung des Gottesreichs in der Welt kämpft“ (137) malt, wird man nicht unbedingt überzeugend finden, zumal das Partizip συναθλοῦντες eher eine athletische Metapher ist; richtig ist, dass 1,27 „deutliche Hinweise auf die Missionstätigkeit der ganzen Gemeinde“ gibt (133); ungeklärt bleibt, ob die Gemeinde ihre Missionstätigkeit als Entscheidungsschlacht oder als Vorbereitung zu derselben verstehen soll. Wenn die Autorin im Blick auf 3,14 vom „Bild einer Läuferin oder eines Läufers“ (241) spricht, gibt dies korrekt wieder, dass es auch für Frauen athletische Wettbewerbe gab (in Rom konnte man manchmal Frauen als Gladiatoren sehen); angesichts der Tatsache, dass Paulus bei athletischen Metaphern sicher vor allem, oder ausschließlich, an Männer dachte, hätte man in diesem Fall vielleicht doch vom „Bild eines Läufers oder einer Läuferin“ sprechen können. Was die Funktion von 2,6–11 betrifft, ist nicht einzusehen, weshalb sich ein ethischer Vorbildcharakter der Selbsterniedrigung Jesu, die durch die Anbindung des Relativsatzes 2,6 an die in 2,1 beginnende παράκλησις mit dieser ganz sicher zusammenhängt, und eine theologische Vergegenwärtigung des Offenbarung Gottes ausschließen sollen.

Der Kommentar von Standhartinger ist ein wichtiger Beitrag zur Philipperbriefliteratur und zum Verständnis der ekklesiologischen und theologischen Anliegen von Paulus auf dem Hintergrund älterer und zeitgenössischer Traditionen. Die Gefahr besteht, im Dickicht der Quellentexte unterschiedlicher Traditionen und der vielfältigen Vorschläge in der Sekundärliteratur hängen zu bleiben. Standhartinger lenkt am Ende aber immer auf die entscheidenden Aussagen der Texte, die für die Gemeinde in Philippi und für heutige Leser ausschlaggebend sind.


Eckhard J. Schnabel, Gordon-Conwell Theological Seminary, South Hamilton