Historische Theologie

Rainer Hirsch-Luipold / Michael Trapp (Hg.): Ist Beten sinnvoll?

Rainer Hirsch-Luipold / Michael Trapp (Hg.): Ist Beten sinnvoll? Die 5. Rede des Maximos von Tyros, Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam REligionemque pertinentia (SAPERE) 31, Tübingen: Mohr Siebeck, 2019, Ln., 216 S., € 64,–, ISBN 978-3-16-153953-4


Ist Beten sinnvoll, wenn ein allmächtiger Gott schon vorher weiß, was ich brauche oder auch nur will? – Diese Frage beschäftigt nicht nur Christen. Die kleine Schrift des Philosophen Maximos von Tyros aus der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts belegt im Kontext antiken Denkens und religiöser Praxis, dass schon andere das Problem erkannt und Lösungsvorschläge vorgetragen haben. Maximos belegt in dem kurzen, gut überschaubaren Vorlesungstext seine These: Es ist nutzlos, etwas von den Göttern zu erbeten. Will ich etwas Gutes, wird es mir auch ohne Gebet zuteil. Schlechtes würden die Götter mir nicht geben, weil es nicht ihrem Wesen entspricht. Wahres philosophisches Gespräch ist keine Bitte, sondern die Unterredung mit einem Gott über Dinge, die es schon gibt. Das Gebet kann bestenfalls eine Bitte um einen tugendhaften Lebenswandel sein; dieser wird durch philosophische Bildung erreicht (46–61, vgl. Anm. 88 auf S. 71).

In seinem Vorwort (VII–IX) informiert der Herausgeber Rainer Hirsch-Luipold über die oratio (5) des Maximos, der sich mit dieser Schrift als „einzigartiger Zeuge der Bildungsvermittlung in der frühen Kaiserzeit“ erweist. Gelebte Religion ist bei Maximos Ausgangspunkt philosophisch-theologischer Überlegungen.

Gemeinsam mit dem Herausgeber Michael Trapp gibt Hirsch-Luipold eine Einführung in das Thema, Leben und Werk des Verfassers der Gebetsschrift und seine religiös-theologischen Vorstellungen (Teil A, 3–43). Das Bittgebet war ein beliebtes Ziel des Spotts, aber auch Anstoß für das Denken (4f). Philosophie ist für Maximos eine Lebensschule, die das Ziel hat, den Menschen zur Tugend zu führen (12). Die Wirkungsgeschichte der Vorlesung über das Gebet weist besonders auf byzantinische Denker im 9. und 10. Jahrhundert. Verstärkt rezipiert wurde sie auch im Westen seit dem späten 16. Jahrhundert. (39, 42).

Der eigentliche Text der Vorlesung umfasst acht meist nur zur Hälfte bedruckte griechische und die gleiche Anzahl gut gefüllter deutschsprachiger Textseiten sowie elf Seiten mit hilfreichen Anmerkungen aus der antiken Philosophie und Religion (Teil B,. 45–72). Spannend für Theologen sind besonders die fünf Essays in Teil C, die den antiken Kontext der Gebetsabhandlung des Maximos erläutern und ihn z. T. auch mit der neutestamentlichen und altkirchlichen Gebetspraxis vergleichen (Teil C, 73–188). Franco Ferrari kommt in seinem Aufsatz über platonische Elemente in der Gebetslehre von Maximos zum Ergebnis, dass alle wesentlichen philosophischen Aspekte der Rede inhaltlich direkt oder indirekt in den platonischen Schriften belegt werden können (81).

Rainer Hirsch-Luipold vergleicht die Gebetstheorie und -praxis bei Maximos von Tyros und Lukas, Joseph und Aseneth und Plutarch (93–116). Unterschiede zwischen den untersuchten Autoren ergeben sich aus dem jeweils implizierten Gottesbegriff. Ein erheblicher Unterschied besteht beim Thema der Würdigkeit, die im philosophischen Gebet vorausgesetzt wird, während im christlichen Glauben Gott gnädig gibt, weil wir bitten, nicht weil wir würdig wären.

Alfons Fürst arbeitet philosophische Aspekte der Gebetsabhandlung von Origenes heraus (117–146). Die antiken christlichen Traktate über das Beten sind immer auf das Vaterunser konzentriert (125). Gottes Vorsehung darf nicht als Determinismus verstanden werden (138f): „Nicht, weil es erkannt ist, geschieht es, sondern weil es geschehen wird, ist es erkannt.“ Im Beten geschieht eine geistige Begegnung zweier Freiheiten: einerseits die ungezeugte Freiheit Gottes, andererseits die geschaffene Freiheit des Menschen, die in dieser Begegnung ihre Erfüllung findet (140).

Anschaulich ist der Beitrag von Barbara E. Borg zur Ikonographie des Betens durch beigegebene Abbildungen von Betenden in antiken Kontexten (147–176). Beim Gebet steht das Bittgebet im Vordergrund, es ist Ausdruck der pietas der Dargestellten, und das sind überwiegend Frauen (147, 175). Im Gebet gibt es etablierte Konventionen und formale Regeln (147). In der griechischen und römischen Kultur hält sich das Repertoire an Gebeten in relativ engem Rahmen, es ist weitgehend auf Bitte und Dank beschränkt. Bitten sind in der Überzahl belegt. Ein Lob der Gottheit ist oft Teil des Gebets, reine Kontemplation oder Anbetung dagegen sehr selten. Mit Ausnahme von mythologischen Abbildungen auf Vasen existieren als Quellen ausschließlich Selbstdarstellungen der Auftraggeber auf Denkmälern; hier wird die Gebetspraxis in idealtypischer Form dargestellt (147). Üblicher Kontext des Gebets ist das Opfer. Es besteht ein reziprokes Verhältnis zwischen Betendem und Gott: Der Stifter ehrt die Götter und bringt ihnen Gaben, wofür diese wiederum den Stiftern Gutes tun. (148). In den frühesten Gebetsdarstellungen sind die Handflächen auf die Gottheit bzw. ihr Bild gerichtet. Oranten kommen zunächst in Heiligtums- und Opferszenen vor, bei einer Prozession zum Altar oder zum Götterbild. Außerhalb dieser Situation findet man sie selten abgebildet. Bei kaiserzeitlichen Orantinnen wird die pietas gegenüber dem Staat, dem öffentlichen Beruf und der Familie als eine der wichtigsten und ältesten Tugenden überhaupt gerühmt (158, 165).

Christliche Oranten werden ohne Opfer abgebildet. Daniel in der Löwengrube und die drei Männer im Feuerofen sind idealtypische alttestamentliche Szenen betender Männer, die aus der Not errettet werden wollen (168).

Umstritten ist die Deutung weiblicher Orantinnen besonders in der Katakombenmalerei, ob es sich dabei um Verstorbene oder die Seele der Verstorbenen handelt (168f). Barbara Borg plädiert für ein individuelles Verständnis dieser Figuren, weil die Grabpflege Teil der weiblichen pietas war. Es kann auch sein, dass in Gestalt der Orans die pietas als Tugend ehrend dargestellt wurde, nicht eine individuelle Gebetssituation (171). – Im letzten Beitrag des Bandes präsentiert Vincenzo Vitiello religionsphilosophische Meditationen über Ödipus und Jesus im Gebet (177–188).

Der Gebetsvortrag des Maximos und die Aufsätze, die thematisch das antike Umfeld der philosophischen Schrift erhellen, sind nicht nur für Altphilologen und Historiker wertvoll, sondern auch für Theologen. Der augenfällige Unterschied zwischen dem antiken und dem christlichen Gebet in der Frage vorausgesetzter Würdigkeit verweist auf das Zentrum christlicher Gebetspraxis: Wir beten nicht, weil wir würdig sind, sondern weil es Gott will. Christus hat es befohlen („Bittet, so wird euch gegeben“, Mt 7,7) und im Vaterunser ein Beispiel gegeben. Das Gebet gleich dem Verhalten eines Kindes, das seinen Vater bestürmt (actus directus), dem erst mit zeitlichem Abstand das Nachdenken über dieses Vorgehen folgt (actus reflexus). Durch die theologisch-philosophische Reflexion wird aber das kindliche Verhalten im Gebet nicht ersetzt, sondern verstandesmäßig nachvollzogen.

Das Buch ist wie die vorangegangenen Bände der Reihe SAPERE vorzüglich ausgestattet. Wie andere Publikationen des Verlags Mohr Siebeck ist es nicht nur im publizistischen Tagesgeschäft auf den Markt geworfen, sondern für längere Gebrauchszyklen geplant. Wer sich als interessierter Studierender die verhältnismäßig teuren Bände nicht leisten kann, kann sie bis auf die neusten der letzten beiden Jahre im Open Access kostenlos lesen.


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein