Historische Theologie

Andreas Mühling / Peter Opitz (Hg.): Reformierte Bekenntnisschriften

Andreas Mühling / Peter Opitz (Hg.): Reformierte Bekenntnisschriften, Bd. IV/1: 1814–1890, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022, Ln., VIII+305 S., € 99,–, ISBN 978-3-525-55459-3


Wer sich mit den Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts in den verschiedenen Ländern Europas beschäftigt, weiß es wahrscheinlich schon: Viele neu entstehende Einzelgemeinden, Gemeindebünde und Kirchenunionen entstanden als Resultat der Erweckung und infolge größerer politischer Religionsfreiheit. Diese Gemeinden und Gruppierungen hielten ihre kirchliche und theologische Selbständigkeit in Bekenntnistexten fest.

2016 erschien der bisher letzte Band der Reformierten Bekenntnisschriften 3/2.2. Er endete mit der wichtigen und schon in seiner Zeit umstrittenen Helvetischen Konsens­formel von 1675. Diese bildet den „Höhepunkt der reformierten Bekenntnisbildung in der alten Eidgenossenschaft“ (so Emidio Campi, ebd., 437 mit Verweis auf die in der Konsensformel vertretene Verbalinspirationslehre).

Enthielt dieser letzte Teilband sechs längere Texte und erschien noch im Neukirchener Verlag, so ist die Zahl der abgedruckten Dokumente in Band 4/1 bei etwa gleichem Umfang auf 16, überwiegend kürzere, Texte angewachsen. Der neue Band erscheint bei Vandenhoeck & Ruprecht bzw. bei Brill und kann gerade noch für einen zweistelligen Betrag erstanden werden. Die gegenwärtig hohe Inflationsrate verheißt nichts Gutes für die Zukunft … Oder ist die Preisgestaltung Folge der Internationalität von Band 4/1, der nur einen Bekenntnistext aus Deutschland (Unionsurkunde Pfalz, 1818) und eine deutsche Übersetzung (Glaubensbekenntnis Japan, 1890) enthält? Die Hälfte der Dokumente ist auf Englisch verfasst, fünf sind auf Französisch geschrieben, ein Dokument jeweils auf Italienisch, auf Japanisch und in walisischer (parallel: englischer) Sprache. Wahrscheinlich wird der Band aufgrund dieser Besonderheit eher nur von Bibliotheken und Spezialisten erworben, und der Verlag musste aus diesem Grund den Preis entsprechend ansetzen. Das Verbreitungsgebiet der abgedruckten Dokumente ist zwar überwiegend auf Europa und die Vereinigten Staaten beschränkt, doch weisen das japanische Glaubensbekenntnis (Nr. 102, 1890) und ein kongregationalistischer Text aus England, der auch nach Australien gelangt ist (Nr. 90, 1833, vgl. 167), auf die zunehmend weltweite Formulierung und Verbreitung reformierter Bekenntnisse hin.

Die ausgewählten Texte beginnen nicht, wie in der Synopse bisheriger Bekenntnissammlungen in Band 1/1 (2002, 22–25) noch vorgesehen, mit der Pfälzischen Unionsurkunde 1818, sondern vier Jahre früher mit einer umdatierten presbyterianischen Glaubenserklärung von 1814. Die Herausgeber des ersten Teilbandes waren sich schon in Band 1/1 (2002) der Schwierigkeiten einer weiteren Dokumentation im 19. und 20. Jahrhundert bewusst: „Über die Fortsetzung der Edition … besteht im derzeitigen Herausgeberkreis Einvernehmen; es wurden aber noch keine Beratungen über eine Textliste aufgenommen“ (22, Anm. 61). Den Stillstand der Bekenntnisbildung im 17. Jahrhundert erklären die Herausgeber Freudenberg, Plasger und Opitz in ihrem Vorwort u. a. mit der Zurückhaltung gegenüber Lehrnormen. Bekenntnisse waren politisch nicht mehr so bedeutend, und der Streit um Bekenntnisbindung und Lehrfreiheit hatte noch nicht zur Bildung von Freikirchen geführt (2). Das 19. Jahrhundert bringt dann in veränderter theologischer und kirchenpolitischer Lage eine neue Blüte der Bekenntnisbildung. In diesem Jahrhundert gibt es nicht mehr nur Territorialkirchen, sondern auch staatsunabhängige reformierte Kirchen. Das ist in der zunehmenden Glaubensfreiheit begründet, andererseits auch in zunehmender inhaltlicher Distanzierung von den herkömmlichen Bekenntnissen.

Mit der Pfälzer Vereinigungsurkunde vom 15.08.1818 (Nr. 88, 43–90) beginnt in E. F. K. Müllers Bekenntnissammlung der Abschnitt „Modernes“ (Müller 870). Auf dem reformierten Boden sollte in traditionell reformierter Irenik eine Konsensunion die bislang gültigen Bekenntnisse ersetzen (45, 52). Man erwartete von der Wiedervereinigung der Konfessionen „zugleich die fröhliche Rückkehr eines neuen religiösen Lebens“ (56). Ein interessanter Aspekt der Unionsurkunde ist, dass die Taufe innerhalb von sechs Wochen nach der Anmeldung stattzufinden hat und inhaltlich minimalistisch als Aufnahme in die Kirche bestimmt wird (59, 60, Z. 17).

Die Gründung von Freikirchen in der Schweiz wird mit drei Texten dokumentiert: An erster Stelle steht die Konstitution der Waadtländer Freikirche 1847 (Nr. 92, 191–206), die als Gründung von 140 Pfarrern aus dem Genfer Réveil hervorgegangen ist und sich 1906 wieder mit der kantonalen Kirche vereinigte. Das Bekenntnis der Genfer Freikirche (1848, Nr. 93, 207–218) illustriert die Abwendung von der rationalistisch geprägten Kirche von Genf. Mit der Konstitution der Neuenburger Freikirche 1874 (Nr. 99, 263–273) wird die Grundlage einer vergleichbaren Bewegung unter der Hälfte der Gemeinden im Kanton Neuchâtel publiziert. Alle drei freikirchlichen Unternehmungen wollten eine theologische Ausbildungsstätte einrichten bzw. haben diesen Plan auch verwirklicht (192, 207, 270). Wichtige Impulsgeber bei diesen Gründungen waren Alexandre Vinet, Juliane von Krüdener, Frederic Godet, Richard Wilcox, Robert Haldane und Henry Drummond.

Auch in der Union evangelischer Freikirchen in Frankreich 1849 (Nr. 94, 219–233) wirkte sich Vinets Konzept der Religionsfreiheit im Sinn einer Trennung von Staat und Kirche (1826, 1842) aus (221). Frederic Monod und Agénor de Gasparin verließen die Generalversammlung der evangelischen Kirchen in Frankreich und bildeten 1949 eine Vereinigung verschiedener Kirchentypen (222–224). Sie verteidigten die Bedeutung des kirchlichen Amtes gegen Darby und seine Sendboten (226). Das zweite in der Sammlung veröffentlichte reformierte Bekenntnis ist die Glaubenserklärung der Synode der reformierten Kirchen in Frankreich 1872 (Nr. 98, 257–262). Die Erklärung entstand aus einer Debatte über den Einfluss der Tübinger Schule und stellt den gemeinsamen Glauben der Väter seit der Reformation dar (258).

Die christlichen Freikirchen in Italien verfassten 1870 eine Dichiarazione di principii della Chiesa Cristiana Libera in Italia, die theologisch von der Heiligungsbewegung beeinflusst war (Nr. 96, 243–249). Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren im Land etwa 60 freikirchliche Gemeinden gegründet worden, die unabhängig von der älteren evangelischen Waldenserkirche waren. Der Verband löste sich 1910 wieder auf, seine Mitglieder schlossen sich meist den Methodisten und Baptisten an (243f).

Ein frühes Zeugnis des evangelikalen Revivals in der anglikanischen Kirche im 18. Jahrhundert ist das von den Westminster Standards geprägte Glaubensbekenntnis der calvinistischen Methodisten in Wales von 1823 (Nr. 89, S. 91–158). Die Unio mystica charakterisiert die Verbindung der Glaubenden mit Christus (127, vgl. Westminster GK Fr. 66–69) und führt alle wahrhaft Gläubigen in der mystischen Kirche zusammen (144). Von 1833 stammt das zweite, kongregationalistische Dokument einer Congregational Union of England and Wales (Nr. 90, 159–179), das die Einigungsbemühungen in Glaubensbekenntnis und Kirchenordnung formuliert und in gleicherweise von der Erweckungsbewegung und den theologischen Erneuerungsprozessen des 19. Jahrhunderts angestoßen wurde.

Sechs veröffentlichte Texte dokumentieren die Bekenntnisentwicklung bei Presbyterianern und Kongregationalisten in den Vereinigten Staaten. An erster Stelle steht die Cumberland Presbyterian Confession of Faith (1814, Nr. 87, 7–41). Philipp Schaff stellt in seiner Sammlung (Bd. 3, 771–775) die geänderten Abschnitte den Paralleltexten der Westminster Confession gegenüber und erwähnt die wegen theologischer Schwierigkeiten ausgelassenen Abschnitte. Die Cumberland Confession geht auf den Revival von 1800 zurück, sie hat ihren Ursprung in den „Camp meetings“ (7). Die neue Richtung der Cumberland Presyterianer meint, mit einem gemäßigten Verständnis der Prädestination einen Mittelweg zwischen Calvinismus und Arminianismus gefunden zu haben. Weder Gottes Handeln noch menschliches Tun werden abgelehnt. Die Erwählung wird auf „alle“, nicht nur „die erwählten“ Kinder ausgedehnt. Die ebenfalls aus erwecklichen Kreisen stammende Auburn Declaration (1837, 181–190) belegt, wie es in der Folge zu einer Trennung unter den Presbyterianern kam, weil sich einige Kreise weiterhin den Westminster Standards verpflichtet wussten. Die theologische Erklärung bleibt in den umstrittenen Themen von Erwählung, Sünde, Erbsünde und Kinderglauben bei der hergebrachten Lehre und benennt klar, was aus Sicht der Bekenner „errors“ und „true doctrine“ sind (186ff). 1869 vereinigten sich die getrennten Kreise wieder. Mit der Confession of Faith 1883 (Nr. 100, 275–295) gibt es eine weitere Veröffentlichung der Cumberland Presbyterian Church, die um 1900 herum mit etwa 300.000 Mitgliedern ihren Höhepunkt erreicht hatte (275). In dieser Glaubenserklärung ist die Prädestinationssprache fast gänzlich getilgt, das Versöhnungsverständnis wird ausgeweitet (276). 1906 vereinigte sich die Cumberland-Richtung mit der Presbyterian Church in den USA („Northern“ P. C.), deren Bekenntnis von 1903 für diese Vereinigung umgearbeitet wurde. Allerdings verweigerte sich etwa ein Drittel der Cumberland-Presbyterianer der Union und existiert unabhängig bis heute (277).

Die Burial Hill-Declaration des Boston Councils von 1865 (Nr. 95, 235–241) bezeugt, wie ein Weg zu einem engeren Zusammenschluss der unabhängigen kongregationalistischen Gemeinden gesucht wird. In der Oberlin-Deklaration (1871, Nr. 97, 251–256) wird die Bildung eines National Council beschlossen, der die Kongregationalisten auch in Beziehung zur Ökumene setzt. Schließlich setzt sich das Bekenntnis amerikanischer Kongregationalisten von 1883 (Nr. 101, 297–301) in den Gemeinden durch. Es hält an der Glaubenstradition konservativer Kreise fest und öffnet sich zur Welt und zur Reich-Gottes-Arbeit im Sinne des „Social Gospel“ (297f). – Ein kurzes Glaubensbekenntnis der Kirche Christi in Japan (1890, Nr. 102, 303–305) beschließt die Sammlung von Texten des 19. Jahrhunderts.

Wer sich mit Bekenntnissen beschäftigt, wird gespannt sein, welche Auswahl aus den Glaubensdokumenten des 20. Jahrhunderts für den nächsten Band 4/2 getroffen wird! Eins ist sicher: Die Barmer Theologische Erklärung von 1934 wir auf keinen Fall fehlen.


Pfarrer Dr. Jochen Eber, Margarethenkirche Steinen-Höllstein