Anne Sophie Overkamp: Fleiß, Glaube, Bildung
Anne Sophie Overkamp: Fleiß, Glaube, Bildung. Kaufleute als gebildete Stände im Wuppertal 1760–1840, Bürgertum Neue Folge 20, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, geb., 469 S., € 72,–, ISBN 978-3-525-37096-4
Fleiß, Glaube, Bildung – Kaufleute als gebildete Stände im Wuppertal 1760–1840 ist kein theologisches oder kirchengeschichtliches Werk, obwohl im Titel der Dissertation, auf welcher das genannte Buch beruht, vom Wuppertal als einem Kultur- und Wirtschaftsraum auch vom „Zion der Gläubigen“ die Rede ist. Gerade dieser Umstand macht Anne Sophie Overkamps Arbeit auch für kirchengeschichtlich Interessierte so wichtig, denn sie gibt Hinweise darauf, inwieweit und wie nachhaltig der christliche Glaube über die Jahrhunderte die Tiefenstruktur Gesellschaft im Wuppertal geprägt hat.
Nach einer Einführung in Methoden und geographischer, geschichtlicher und thematischer Verortung der Arbeit im ersten und zweiten Kapitel, in denen sie auch auf die politische und ökonomische Entwicklung des Wuppertals eingeht, wirft die Autorin in Kapitel 3 einen detaillierten Blick auf die Textilindustrie und auf die Entwicklung von vier Familienunternehmen und ihren unterschiedlichen Wegen, den Herausforderungen ihrer Zeit zu begegnen.
Rationalisierung und Kommerzialisierung, zwei Entwicklungen, welche mit dem Zeitalter der Moderne einhergingen und besonders in der Textilindustrie greifbar wurden, benötigten ein krisenfestes Finanzmanagement, sollten Betriebe gewinnbringend aufrechterhalten werden können. Hierbei spielten neben gesetzlichen Vorgaben und Bildung auch religiöse Tugenden eine wichtige Rolle, wie Overkamp im vierten Kapitel herausstellt. Schon die Aussage: „Mit Gott“ als Überschrift des Inventars legt dar, dass Wuppertaler Kaufleute „ihre geschäftliche Tätigkeit in einen engen Bezug zum christlichen Glauben“ stellten. Dieses Selbstverständnis findet die Autorin nicht nur bei der Familie Wuppermann, die für ihre Verbindung zu pietistischen Kreisen bekannt war, sondern entnimmt dies auch Widmungen aus den Geschäftsbüchern zahlreicher anderer Gewerbetätigen. Auch durch auffällige religiöse Formulierungen in der Korrespondenz der Kaufmannschaft zumindest unter Geschäftsfreunden bestätigt sich die christliche Motivation. Besonders dient die Anrufung von Gottes Hilfe und feststehende Formeln in Bezug auf den Allmächtigen als Nachweis, dass die Vorstellungswelt der Kaufleute in den christlichen Kosmos eingebunden war und dies ihnen so ermöglichte, Schwierigkeiten zu ertragen und Erfolge einordnen zu können. In wirtschaftlich bedrängten Zeiten appellierte man bei anstehenden Zahlungen an christlich motivierte Nachsicht. Man verwies jedoch nicht auf die „Vorsehung als schicksalhafte Macht“, sondern war sich seiner Eigenverantwortlichkeit bewusst. Auch mit dem 19. Jahrhundert sieht die Autorin keinen Einzug einer Säkularisierung oder Entchristlichung gekommen, da in der Ratgeberliteratur von 1800 weiterhin der christliche Glaube der Bezugsrahmen bleibt und nicht nur Max Weber belegt hat, dass Religiosität und Profitmaximierung miteinander vereinbar sind. Der Diskussion, ob es ein kausales Verhältnis zwischen protestantischen Überzeugungen und kapitalistischem Geist gäbe, versagt sich Overkamp (man muss sagen: leider) und historisiert lieber die Diskurse über Konfession und Ökonomie. Allerdings: Ähnlich wie die bürgerlichen unterlagen auch die kaufmännischen Tugenden einem Prozess, bei welchem vormals religiöse Prägungen durch „allgemein anerkannte Regeln für eine moralisch richtige Lebensführung“ in den Vordergrund traten.
Kapitel 5 befasst sich mit der Rolle der Bildung der Kaufmannsfamilien, wobei hier eine Institutionalisierung heraus aus kirchlichen Anfängen zu sehen ist. Es waren nämlich zuerst Gemeindeschulen, welche allen Kindern im Tal offenstanden und kirchlicher Aufsicht unterordnet waren. Gleiches galt für die weiterführenden Lateinschulen. Da das Wuppertal nach den Befreiungskriegen Teil der preußischen Rheinprovinz wurde, wurde das Schulwesen säkularisiert. Aber auch darauf hatten die Kaufmannsfamilien wie schon zu Zeiten der kirchlichen Aufsicht Einfluss, daneben sorgten diese auch für die Gründung privater Institute. Besonders die Berufung des Pädagogen Wilberg an das Elberfelder Bürgerinstitut sorgte für die Einführung einer stärkeren praxisbezogenen Ausbildung, bei welcher aber auch der religiösen Bildung viel Raum gegeben wurde, auch wenn dieses Institut nur den höheren Ständen offenstand. Auch wenn diese Wilbergsche Schule 1830 in die öffentliche höhere Bürgerschule in Elberfeld überführt wurde, blieb dieses Bildungsideal, das den Menschen in das System der Ordnung Gottes eingebunden sah, erhalten und stand nun sogar einer größeren Schülerschaft offen. Ein weiterer Abschnitt des fünften Kapitels thematisiert die Ehebeziehungen der Kaufmannsfamilien, die ja den Familienbetrieb als Lebensmittelpunkt hatten. Dabei kommt eine bedeutende Innigkeit zum Ausdruck, deren sprachliches Repertoire sich mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts erweitert. Auszüge aus der Korrespondenz der Eheleute machen deutlich, dass der christliche Glaube, aber auch das Ideal einer „vernünftigen Liebe“ (d. h.: Herz und Verstand müssen übereinstimmen) als richtungsweisend für diese Verbindungen gesehen wurde.
Häuser und Gärten von exemplarischen Wuppertaler Kaufmannsfamilien sind das Thema des 6. Kapitels, das an ausgewählten Beispielen auf die Einheit von Arbeiten und Wohnen hinweist. Dass deren Gärten häufig um die 5.000 qm groß waren, zeigt, dass diese nicht nur als Ziergarten, sondern als Wirtschaftsfläche verwendet wurden. Overkamp führt aus, dass sich die Kaufmannszunft in einem Prozess der kulturellen Vergesellschaftung befand, in welchem „bisherige regionale, soziale, ständische und religiöse Differenzen, wenn nicht ausgeschaltet, so doch überbrückt“ wurden.
Im 7. Kapitel finden wir Hinweise auf das Erscheinungsbild der gebildeten Stände in der Öffentlichkeit und damit auch den umfangreichsten Beitrag über Religiosität in diesem Band. Dieses gestaltete sich in Form der kirchlichen Öffentlichkeit, aber auch privater Innerlichkeit. Die Autorin führt aus, dass die These der Rückständigkeit religiös motivierter Gruppen mittlerweile nicht mehr vertreten wird, da „Säkularisierung“ ein zu ungenauer Begriff sei und moderne Gesellschaft, säkularer Staat und Religion nicht als Gegensatz zu denken wären, sondern auf vielerlei Weise verknüpft seien. Auch widerlegt sie das Missverständnis, dass die Aufklärung die Religion aus dem öffentlichen Leben verbannen wollte, dagegen sei sie sogar eine Bewegung mit religiösem Gehalt gewesen. Auch wäre der Pietismus als charakteristisch neuzeitlich zu deuten und wie die Aufklärung Teil des langfristigen Modernisierungsprozesses der Neuzeit. Damit bestätigt Overkamp auch Thesen Andreas Pecars, welcher in seinem Buch „Falsche Freunde“ bestreitet, dass die Aufklärung „die“ Geburtsstunde der Moderne war. Nach einer kurzen Reformationsgeschichte des Wuppertals, in welcher die Autorin darauf hinweist, dass sowohl der reformierte als auch der lutherische Protestantismus die Gegend erfasst hatten, wird ein Blick auf deren Gemeindegründungen im 18. und 19. Jahrhundert geworfen. Diese protestantischen Gemeinden lebten von der aktiven Mitarbeit ihrer Mitglieder in der umfangreichen kirchlichen Infrastruktur. Allerdings wurden mit der Zeit oligarchische Tendenzen bemerkbar, was man auch daran festmachen kann, dass Vorstandmitglieder teilweise Landbesitzer sein mussten. Dieses Privileg wurde in Elberfeld jedoch teilweise aufgelöst, da die aufstrebende kaufmännische Oberschicht bald die meisten Mitglieder des Ältestenrates stellte. Overkamp findet die „enge personelle Verschränkung von kirchlichem Vorstand und örtlicher Regierung“ auffallend und nennt dafür zahlreiche Beispiele. Allerdings ist ähnliches auch aus anderen Gegenden der Reformation bekannt, da es ja für Ältestenwahlen einen biblischen Kriterienkatalog gibt, welcher auch zu öffentlichen Ämtern befähigt. In Bezug auf die theologische Ausrichtung bemerkt die Autorin, dass es in Elberfeld zwar radikalpietistische Strömungen gab, was sich besonders an der seltsamen „Zionitengemeinde“, den sogenannten Ronsdorferianern um das Ehepaar Eller zeigen sollte. Im Allgemeinen kann man jedoch von einer theologisch orthodoxen Ausrichtung der Wuppertaler Pfarrer sprechen, auch, weil diese ihre Ausbildung an der Landesuniversität Duisburg erhielten. Diese war im 18. Jahrhundert von der Aufklärung kaum berührt worden. Herausgefordert wurde diese reformierte Orthodoxie durch die Auseinandersetzung mit pietistischen Strömungen und Gruppen, die evangelisches Christsein im Wuppertal bis ins 20. Jahrhundert geprägt haben.
Gottfried Sommer, Trossingen