Gerd Schwerhoff: Verfluchte Götter
Gerd Schwerhoff: Verfluchte Götter. Eine Geschichte der Blasphemie, Frankfurt/Main: S. Fischer, 2021, geb., 521 S., € 29,–, ISBN 978-3-10-397454-6
Im Untertitel „Eine Geschichte der Blasphemie“ schwingen schon zwei Probleme mit: Erstens die Unschärfe des Begriffs Blasphemie. Sie wird definiert als „Schmähung oder Herabwürdigung des Heiligen“, umfasst also mehr als die „Gotteslästerung“. Schwerhoff thematisiert auch ihre jeweilige „zeitgenössische Bewertung“ (12), denn erst durch die Reaktion der Umwelt gewinnt ein blasphemischer Akt historisches Gewicht. In der Geschichte wurde manchmal auch das Verbreiten einer vermeintlich falschen Lehre über Gott als „Blasphemie“ bezeichnet, der Begriff also überdehnt. Seit der Aufklärung wird insb. in der westlichen Welt – wenn überhaupt – eher die Verletzung religiöser Gefühle von Gläubigen unter Strafe gestellt (18), also eine Aussage über die Existenz oder das Empfinden (z. B. wegen einer Beleidigung) Gottes vermieden. Die Blasphemie, das Thema des Buches, ist also nicht leicht in den Griff zu bekommen, und stellenweise geht das Buch in eine allgemeine Geschichte der Intoleranz über. Da oft ein weiter historischer Kontext des jeweiligen Ereignisses mit erzählt wird, kommt es zu einem 500-Seiten-Buch.
Das zweite Problem hängt damit zusammen, dass die gesamte Geschichte dargestellt werden soll, „von der Zeit des Alten Testaments bis zur Gegenwart“ (22), „aus einer westlichen Perspektive“, einem „reflektierten Eurozentrismus“ (23). Es beginnt mit dem fluchenden Mann, der zur Zeit des Mose gesteinigt wurde (Lev 24), und führt bis zu den blutigen moslemischen Protesten gegen Mohammed-Karikaturen in der jüngsten Vergangenheit. Der Autor Gerd Schwerhoff, bekannt für seine Forschungen zur Geschichte der Kriminalität, ist Professor für Frühe Neuzeit an der Technischen Universität Dresden; für die anderen, ihm ferner liegenden Epochen ist er darauf angewiesen, dass er die Angaben der Sekundärliteratur zutreffend einordnen kann.
Das Buch hat ein Register für Personen- und Ortsnamen, nicht aber für Begriffe. Die Anmerkungen werden als Endnoten gebracht, wodurch das Nachschlagen mühsam ist (im Falle von Kurzbelegen ist dann auch noch in der Auswahlbibliografie nachzuschlagen).
Schwerhoff zitiert biblische Quellen in lateinischer Übersetzung; z. B. wenn der Hohepriester Jesus beschuldigte: „Blasphemavit!“, oder wenn Pontius Pilatus sagt: „Ecce Homo“ (84). Und Stephanus wurde beschuldigt, „Schmähworte (verba blasphemiae) gegen Mose und Gott“ geredet zu haben (56). Anstelle der lateinischen Übersetzung hätte hier der Originalwortlaut im griechischen NT angeführt werden können: rhemata blasphema (Apg 6,11). „Ein ähnliches Schicksal sollte später, 62 n.Chr., den Herrenbruder Jakobus ereilen“ (57) – inwiefern bei der Steinigung von Jakobus ein Blasphemie-Vorwurf mitspielte, sagt Schwerhoff nicht; auch hier breitet er das historische Umfeld aus, über das engere Thema der Blasphemie hinausgehend. So auch, wenn er meint, „bereits der Apostel Paulus hatte sich überschlagen in der Charakterisierung heidnischer Gottlosigkeit”, und als Beleg Röm 1,29–31 zitiert. Hier entsteht ein schiefes Bild, denn Paulus will in diesen Kapiteln deutlich machen, dass alle Menschen dem Ideal Gottes nicht entsprechen, und schreibt z. B.: „jeder Mensch ist Lügner“ (Röm 3,4). Aber Gott achtet darauf, wenn Menschen Gutes tun – egal ob Juden oder Griechen (Röm 2,10). Es geht Paulus in den ersten Kapiteln des Römerbriefs also nicht darum, speziell die heidnische Religiosität zu kritisieren.
Das 4. Kapitel trägt die Überschrift „Das Christentum an der Macht“, und behandelt die Epoche ab Kaiser Konstantin. Aber eigentlich war damals nicht das „Christentum“ an der Macht, sondern römische Kaiser, die – aus verschiedenen Gründen – das Christentum, oder genauer: eine bestimmte Richtung innerhalb der verschiedenen christlichen Strömungen, unterstützten und schließlich den Untertanen vorschrieben. Inwieweit etwa christliche Bischöfe etwas zu sagen hatten, hing letztlich vom Kaiser ab.
Bei der Darstellung des historischen Kontexts erwähnt Schwerhoff, dass zur Zeit des von den Hasmonäern regierten jüdischen Staates, also in den Jahrzehnten um 100 v.Chr., „Nichtjuden vertrieben, zwangsbekehrt und getötet“ wurden; spätestens damals kam es erstmals zu einem starken Judenhass, der in den folgenden Jahrhunderten weiterwirkte (51). Neben dem Antijudaismus wird umgekehrt auch die oft unbeachtete jüdische Polemik gegen den christlichen Glauben angesprochen, etwa im babylonischen Talmud oder in den Toledot Jeschu (86–88).
Erst ab etwa 1200 n. Chr. wird die Blasphemie zu einem wichtigen Thema, denn nun werden für sie von der Kirche und vom Staat Strafen verhängt (115). Hier lag auch eines der Aufgabengebiete der Inquisition. Die Zeit der Reformation, das 16. und 17. Jh., brachte in der Bekämpfung von Blasphemie nichts grundsätzlich Neues, aber eine weitere Steigerung (193). Die problematische Haltung des alten Luther zu den Juden wird neuerdings oft angesprochen. Schwerhoff weist aber darauf hin, dass Luther den Vorwurf der Gotteslästerung benutzte, um unterschiedliche Gegner zu dämonisieren: Neben Juden auch Papst und Papisten, Täufer und Spiritualisten sowie aufständische Bauern (98). Die Täufer der Gotteslästerung zu beschuldigen, bezeichnete der Reformator Wolfgang Capito als verfehlt, während Philipp Melanchthon dieses Beschuldigen verteidigte und damit einflussreich war (220f).
In der „aufgeklärten“ westlichen Welt kommt es mitunter zu neuen Heiligtümern. So wurde 2019 in Iowa (USA) der vorbestrafte Adolfo Martinez zu 15 Jahren (!) Gefängnis verurteilt, weil er eine Regenbogenflagge der LGBTQ-Bewegung von einem Kirchenportal herunterholte und verbrannte (450). Die US-Flagge dagegen kann straflos verbrannt werden, denn der Supreme Court beurteilte einen solchen Akt als „einen legitimen Ausdruck von Meinungsfreiheit“ (445).
Der Blasphemie-Vorwurf dient oft als Begründung, um gegen Andersdenkende vorgehen zu können. Aber es gilt auch das Umgekehrte: Künstler können provozieren und – u. a. durch kirchliche Proteste – Aufmerksamkeit erregen; so werden ihre Werke beachtet und der Künstler berühmt. In Bezug auf Österreich wäre etwa der Aktionskünstler Hermann Nitsch zu nennen, der mit Tierblut religiöse Inhalte nachahmt („Orgien-Mysterien-Theater“), oder das Buch „Das Leben des Jesus“ (2002) vom Karikaturisten Gerhard Haderer (Jesus wird darin als ständig vom Weihrauch high dargestellt). Diese Beispiele kommen in diesem Buch jedoch nicht vor. Jedenfalls zeigt Schwerhoffs Buch, welche Urteile über blasphemische Äußerungen in den einzelnen Geschichtsepochen zu finden sind.
Dr. Franz Graf-Stuhlhofer BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik