Historische Theologie

Michael Diener: Raus aus der Sackgasse!

Michael Diener: Raus aus der Sackgasse! Wie die pietistische und evangelikale Bewegung neu an Glaubwürdigkeit gewinnt, Asslar: Adeo Verlag, 2021, Hb., 237 S., € 20,–, ISBN 978-3-86334-312-5


Es ist ein leidenschaftliches Buch, das Michael Diener geschrieben hat. Hier hat sich einer freigeschwommen und sich befreit aus einem Korsett, das ihm zu eng geworden und aus dem er „herausgewachsen“ ist (187). Man kann auf vielen Seiten die Verletzungen spüren, die er davongetragen hat, die Demütigungen, die er erfahren hat und nach wie vor empfindet und nicht selten auch die Wut, die in ihm steckt.

Es ist ein lesenswertes Buch, weil es über weite Strecken kluge Analysen und geistreiche Perspektiven bietet, die der Pietismus und Evangelikalismus von ihm aus vielen Predigten und Vorträgen gewohnt ist. Dies gilt vor allem für die Kapitel 6 bis 10, in denen es um Richtgeist, Glaube und Vernunft, Liebe sowie Mission und Nachfolge geht. Hier entfaltet Michael Diener nüchtern und sachlich eine theologische Perspektive, die man nicht in allen Punkten teilen muss, die aber hilfreich und weiterführend ist.

Das alles soll aber nicht im Zentrum dieser Rezension stehen. Worum es gehen soll und muss, sind die massiven Anfragen und Anklagen, die Michael Diener an den deutschen Pietismus und die evangelikale Bewegung richtet. Beide Bewegungen hat er im letzten Jahrzehnt in führender Position geleitet und in beide Bewegungen, die sich vielfältig überlappen, hat er tiefe Einblicke.

Dass nun ein ehemaliger Vorsitzender des Gnadauer Gemeinschaftsverbandes und der Deutschen Evangelischen Allianz ein solches Zeugnis ausstellt, wie es Diener in diesem Buch tut, ist ungewöhnlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass seine zahlreichen Vorgänger in beiden Ämtern sich in ähnlicher Weise geäußert hätten. Diese Anklageschrift ist nur erklärbar aus den Verwerfungen der letzten Jahre, in denen seine theologische Entwicklung eine zentrale Rolle spielte.

Diese Rezension trägt die Überschrift „Fragen aus der Sackgasse“. Ich sehe mich und die Hochschule, das Werk und die Bewegung, für die ich Mitverantwortung trage, nicht in einer „Sackgasse“. Aber Michael Diener sieht Teile der pietistischen und evangelikalen Bewegung exakt in einer solchen Sackgasse stecken. Aus seiner Ortsbestimmung ergeben sich nun auch umgekehrt manche Fragen.

Was ist eine fundamentalistische und biblizistische Schriftauslegung?

Die Grundthese Michael Dieners ist, dass „das Glaubensprofil der pietistisch-evangelikalen Bewegung“ durch eine fundamentalistisch-biblizistische Lesart der Bibel „in unserer Kultur und Gesellschaft unattraktiv“ wurde und „nicht mehr vermittelbar“ ist (17).

Was er mit dieser fundamentalistisch-biblizistischen Lesart genau meint, wird allerdings nur sehr vage ausgeführt. Lediglich an einer Stelle wird er konkreter, wenn er eine Sicht der Heiligen Schrift kritisiert, „die von der absoluten und umfassenden Fehler- und Irrtumslosigkeit der Bibel ausgeht und deshalb deren Aussagen ungebrochen auf die heutige Zeit überträgt“, sich an konservative Werte bindet und von liberalen Strömungen abgrenzt (53). „Der Weg von der Bedeutung biblischer Aussagen in ihren Zeiten und Kulturen zu einer Beurteilung heutiger Fragestellungen in unseren Zeiten und Kulturen ist [bei dieser Auslegung] noch zu direkt und ungebrochen …“ (54, ähnlich 69). In Kapitel 5 entfaltet Michael Diener dann skizzenhaft sein eigenes Schriftverständnis. Dabei plädiert er u. a. für die Achtung von „Geschichte“, „Sprache“, „Zeitgenossenschaft“ und „Kultur“ als Gaben Gottes, die es ernst zu nehmen gelte, ebenso wie die Veränderungen der menschlichen Erkenntnisse und der Art des Zusammenlebens im Lauf der Geschichte (73) und gegen die direkte und unreflektierte Übertragung von Geschlechter- und Eheverständnissen vergangener Epochen auf unsere heutige Zeit (74). Insgesamt bleibt es aber eine recht dürftige Beschreibung der von ihm angegriffenen Hermeneutik, deren vermeintlich „toxische“ Folgen auf vielen Seiten gegeißelt werden. Hier wünschte ich mir mehr Präzision und Kontext.

Was ist eine sachgemäße Schriftauslegung?

Aus diesem fundamentalistisch-biblizistischen Schriftverständnis erwachsen nach Diener Überzeugungen und Haltungen, die nicht dem Evangelium entsprechen noch glaubens- und lebensförderlich sind, sondern „toxisch“, „zerstörerisch und spaltend“ (13f, 217). Entsprechend formuliert er den leidenschaftlichen Appell an seine Leserinnen und Leser: „Holt sie [sc. die Bibel] euch von denen zurück, die meinen, sie hätten ein Monopol auf ihre sachgemäße Auslegung“ (13).

Als Vertreter einer von vielen Ausbildungsstätten im pietistischen und evangelikalen Spektrum erlaube ich mir, diesen Vorwurf einmal auf meine Zunft zu beziehen. In unserem Bereich gibt es sehr unterschiedliche Ausbildungsstätten mit durchaus unterschiedlichen hermeneutischen Akzentsetzungen.

Aber auch jene Ausbildungsstätten, die in ihren Bekenntnisdokumenten sich zur „Irrtumslosigkeit“ und „Unfehlbarkeit“ der Heiligen Schrift bekennen, haben meiner Wahrnehmung nach alle ein „Ja“ zu einer historischen, methodischen und auch wissenschaftlichen Bibelauslegung, freilich mit unterschiedlichem Anspruch an das akademische Reflexionsniveau. In den allermeisten Ausbildungsstätten legt man großen Wert darauf, dass man sich Rechenschaft darüber gibt, auf welcher Grundlage exegetische Aussagen getroffen werden und dass diese sachlich und sprachlich nachvollziehbar sind. Auch wenn der Gesprächspartner zu anderen Schlüssen kommen mag, sollte er die Textauslegung verstehen können. In der Regel ist man sich unter den Dozierenden der Notwendigkeit bewusst, biblische Texte sprachwissenschaftlich zu beleuchten, sie in ihrem historischen Kontext einzuordnen, in ihrer zeitgeschichtlichen Aussageabsicht zu erfassen, in ihrem kirchen- und theologiegeschichtlichen Verständnis wahrzunehmen und sie erst dann auf die theologischen und ethischen Fragestellungen der Gegenwart anzuwenden.

Muss Schriftauslegung zu pluralitätsfähigen Ergebnissen kommen?

Aber auch nach einem aufwändigen und sorgfältigen Verfahren der Auslegung biblischer Texte kann man zu Einsichten und Schlussfolgerungen kommen, die in einer spätmodernen Gesellschaft nicht „pluralitätsfähig“ sind. Denn es ist ja gerade das Grundprinzip wissenschaftlichen Arbeitens, dass es ergebnisoffen an Texte herangeht und nicht schon vorher festgelegt ist, dass etwas „Pluralitätsfähiges“ dabei herauskommen muss, das vom westeuropäischen Forum gegenwärtigen Wahrheitsbewusstseins nicht abgelehnt wird. In der Mehrheit der Weltchristenheit und v. a. in den wachsenden Kirchen des Globalen Südens wird dieses „pluralitätsfähige Wahrheitsbewusstsein“ als provinziell betrachtet, weshalb ihm eher weniger Zukunftspotential zugetraut wird.

Konkret auf den von Michael Diener immer wieder thematisierten Streitpunkt der Bewertung gleichgeschlechtlicher Handlungen bezogen, bedeutet dies, dass man nach Abwägung nicht nur „einiger weniger Stellen in der Bibel“ (50), sondern des biblischen Gesamtzeugnisses zum Ergebnis kommen kann, dass es keine positive Bewertung solcher Handlungen in der Heiligen Schrift gibt, wie es u. a. vor 25 Jahren auch der EKD-Text „Mit Spannungen leben“ (1996) getan hat und bis heute weltweit von der überwiegenden Mehrheit der Kirchen in Übereinstimmung mit einer 2000-jährigen kirchlichen Lehrtradition quer durch alle Konfessionen hindurch vertreten wird. Was an einem solchen Schriftzugang „fundamentalistisch“ oder „biblizistisch“ ist, erschließt sich mir nicht, es sei denn, dass damit am Ende nur die unerwünschten exegetisch-theologischen Ergebnisse gemeint sind. 

Wer hat ein Monopol zur Schriftauslegung?

In Staunen versetzt auch die Rede vom Auslegungsmonopol dieser fundamentalistisch-biblizistischen Auslegung: „Die Bibel gehört doch zu allen Christenmenschen und es ist immer schief gegangen, wenn eine Gruppe das Auslegungsmonopol beanspruchte und diese ‚Richtschnur‘ verwendet wird, um den Bibelgebrauch anderer zu entwerten“ (19). Dieser Satz ist ein Wort tiefer Wahrheit und man mag sich fragen, wie er in diesen Tagen in den Ohren der pietistischen Pfarrerinnen und Pfarrer in der Badischen Landeskirche klingt, denen gerade von ihrer Landeskirche untersagt wurde, auf den Webseiten ihrer Kirchengemeinden gleichgeschlechtliche Handlungen auf der Grundlage einer reflektierten, oben skizzierten Schriftexegese „zu problematisieren“. Wer hat hier ein Auslegungsmonopol?

Ich würde mir gerade bei dem inflationären Gebrauch der Begriffe „fundamentalistisch“ und „biblizistisch“ mehr Präzision, Klarheit und Eindeutigkeit wünschen. Was ist gemeint und wer ist gemeint? Denn bevor ich der scharfen Kritik an einer fundamentalistischen oder biblizistischen Hermeneutik zustimme, wüsste ich gerne, ob es nicht meine eigene ist. Ich habe mich bislang weder für einen Fundamentalisten noch für einen Biblizisten gehalten, aber wer kann in diesen Zeiten des Umbruchs schon sicher sagen, wer oder was man ist?

Wie plural ist die evangelikale Bewegung?

Ein Hauptproblem (von Teilen) der pietistischen und evangelikalen Bewegung sieht Michael Diener weiter darin, dass ihre fundamentalistische bzw. biblizistische Schriftauslegung nicht mehr „pluralitätsfähig“ ist (20), wobei er Pluralität „als gleichberechtigte Geltung unterschiedlicher Überzeugungen in einem vorgegebenen Raum“ versteht (105). Entsprechend plädiert er für eine „glaubwürdige Pluralität gerade auch in ethischen und gesellschaftspolitischen Fragen“ (38). Demgegenüber verabsolutiere man in (Teilen) der pietistischen und evangelikalen Bewegung den eigenen Standpunkt und grenzt Andersdenkende konsequent aus, was ein Reflex von „Intoleranz“ und „Pluralitätsverweigerung“ ist (37). Daraus ergibt sich für diese Bewegung ein Glaubwürdigkeitsproblem (13). Entsprechend sorgt sich Diener – das ist ein sehr wesentlicher Punkt, der sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht – um die „Außenwirkung in der heutigen Zeit und Gesellschaft“ (21).

Umgekehrt wünscht sich Michael Diener Gemeinschaften, „die einladend und offen, tolerant und nicht so auffällig milieuverengt sind, wie seine Kinder das bisher weitgehend erfahren mussten“ (15). Er selbst ist froh und dankbar, dass er den Reichtum des Wortes Gottes neu erfahren kann, seit er nicht mehr mit „biblizistischen Handschellen, geknebelt und eingeengt, herumlaufen muss“ (72).

Nun gehörte „Pluralitätsfähigkeit“ bislang tatsächlich noch nicht zum ethischen Kernkanon des Pietismus. Dieser war in den letzten 300 Jahren und bis heute tatsächlich stärker darauf fokussiert, „rechenschaftsfähig“ vor dem Richterstuhl Gottes zu sein (Röm 14,10–12). Allerdings konnte der Pietismus und Evangelikalismus seit dem 19. Jahrhundert immer wieder erstaunlich vielfältige Frömmigkeitsformen und Glaubensformen integrieren: Hier wurden mit der Evangelischen Allianz (1846) und dem CVJM-Weltbund (1855) die ersten internationalen ökumenischen Verbände geschaffen als man sich in den Landeskirchen aufgrund des landesherrlichen Kirchenregiments noch mit nationalistischen Abgrenzungen beschäftigte. In der pietistisch-evangelikalen Bewegung kann man sich bis heute über sehr unterschiedliche Tauf-, Abendmahls- und Kirchenverständnisse sowie Frömmigkeitsprägungen hinweg auch auf gemeinsame Evangelisationen, Kongresse und Projekte einigen. Seit den 90er Jahren gibt es gerade auf Allianzebene viele Beziehungen zum charismatisch-pentekostalen Flügel der Weltchristenheit. An pietistischen und evangelikalen Ausbildungsstätten trifft sich m. E. keine geringere Bandbreite an Pluralität als an evangelisch-theologischen Fakultäten, und auf Lausanner Kongressen keine geringere als bei den Vollversammlungen des ÖRK. Die Bandbreite ist nur an einem anderen Flügel des riesigen protestantischen Spektrums angesiedelt. Es ist immer eine Frage der Perspektive. Wenn ich die vielen Auseinandersetzungen über verschiedene Fragen in der protestantischen Landschaft in den letzten drei Jahrzehnten ansehe, dann verteilen sich „Pluralitätsverweigerung und Intoleranz“ im christlichen Spektrum ziemlich gleichmäßig.

Welche Bedeutung haben kulturelle Entwicklungen für ethische Entscheidungen?

Das leidenschaftlichste, längste und vermutlich kontroverseste Kapitel ist das zwölfte (167–213), in dem es um „umkämpfte ethische Themenfelder“ geht. Im Anschluss an die Transformatorische Ethik von Thorsten Dietz und Tobias Faix bekennt sich Diener im Rahmen einer Verantwortungsethik zu den grundlegenden Prinzipien der Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit und der ethischen Leitfrage, wo etwas „gut“ ist (im Gegensatz zur Frage, wo etwas hingehört bzw. wie etwas sein soll). Vor diesem Hintergrund fordert Diener dazu auf, bei der ethischen Urteilsfindung dem „tiefgreifenden Wandeln zwischen ‚damals und heute‘“ Rechnung zu tragen, „durch den sich die Rahmenbedingungen des Lebens weitreichend verändert haben“ (177). Auch hier ist Diener die „Glaubwürdigkeit der pietistisch-evangelikalen Bewegung in der Gegenwart ein wesentliches Anliegen (178).

Im Zentrum des Kapitels steht die Auseinandersetzung um die Sexualethik, welche die zweite Hälfte der Amtszeiten Michael Dieners sowohl als Gnadauer Präses als auch als Vorsitzender der Evangelischen Allianz so stark geprägt hat. Er erzählt hier zunächst sehr offen und ehrlich von seinem eigenen biographischen Weg, der ihn zu einer grundlegend neuen Sicht auf dieses Thema geführt hat und ihn „innerlich hinauswachsen“ ließ über Leitungsverantwortungen in der pietistischen und evangelikalen Welt (187). Seine neue Bewertung der „Bedeutung kultureller Entwicklungen für ethische Entscheidungen“ ist für ihn der Schlüssel für seine ethische Neuorientierung nicht nur in sexualethischen Fragen. Ein anderer ist die Einsicht, dass die biblischen Überlieferungen (und überhaupt die antike Welt) das Phänomen homosexueller Orientierung und Identität nicht kannten und die einschlägigen Belege zur Thematik „verantwortlich gelebte Liebesbeziehungen zweier gleichberechtigter Menschen“ nicht vor Augen hatten. Entsprechend tritt Diener mittlerweile konsequent für die „Ehe für alle“ und die uneingeschränkte Gleichstellung von homosexuellen zu heterosexuellen Partnerschaften auch im Raum der Gemeinde ein.

Die veränderten kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind wiederum der ausschlaggebende Grund, warum verantwortlich gelebte Sexualität ihren Rahmen nicht nur in einer Ehe finden kann.

Wie vermeidet man ein „anything goes“ in der Sexualethik?

Es ist im Rahmen einer Rezension nicht der Ort, über die Deutung der biblischen und antiken Texte zu diskutieren. Ich möchte aber die Frage stellen, ob Michael Dieners absichernde Bemerkung am Ende seines Plädoyers für eine sexualethische Liberalisierung, dass es ihm natürlich nicht um ein „anything goes“ geht (202), nicht ein Dilemma offenbart. An die Stelle biblischer Ordnungen und Gebote tritt nun eine Art postmoderner Workshop, in dem anhand verschiedener „Grundakzente“ wie Freiwilligkeit, Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit, Respekt vor dem Gegenüber, Ehrlichkeit und Bereitschaft zur Treue und zu Vergebung und Neuanfang“ ein „verantwortlicher Gestaltungsraum neu bearbeitet wird“ (202). Ich wünsche allen Eltern, Teenager-, Jugendkreis- und Gemeindeleitungen viel Spaß dabei! Hier wird Sexualethik im Rahmen eines Do-it-yourself-Bastelkurses formatiert, bei dem die leitenden Prinzipien und Grundakzente in etwa so viel Hilfe bieten wie eine Bauanleitung auf Chinesisch. Wie sollen 13- und 14jährige Teenager, um die es hier geht, mit etwas zurechtkommen, mit dem schon Erwachsene überfordert sind? Der Gedanke, dass sich in Gottes Ordnungen der Schöpfer seinen Geschöpfen in einer Weise mitteilt und offenbart, die hilfreich und lebensfördernd ist, kommt hier nicht mehr in den Blick.

Soll eine Bewegung ihre Theologie und Ethik ändern, um ihre Außenwirkung zu verbessern?

Eine letzte Frage bezieht sich auf die große Sorge um die „Außenwirkung [sc. der pietistischen und evangelikalen Bewegung] in der heutigen Zeit und Gesellschaft“ (21). Dass diese Bewegung vor diesem Forum wieder Glaubwürdigkeit gewinnt, ist das Grundanliegen dieses Buches, wie der Untertitel verdeutlicht.

Michael Diener greift damit ein neutestamentliches Anliegen auf. Die Gemeinde Jesu Christi soll keinen Anstoß erregen, „weder bei Juden noch bei Griechen“ (1Kor 10,32f), und einen „guten Ruf“ haben (vgl. 1Tim 3,7), damit sie „ihr Licht leuchten lassen kann vor den Menschen“ (Mt 5,16). So weit, so klar.

Allerdings liegt es niemals nur an einer Gemeinde bzw. Bewegung, wie die Außenwelt sie wahrnimmt. Als man die frühen Christen im Römischen Reich im Rahmen des Kaiserkultes nötigen wollte, dem als Gott verehrten Kaiser ein Opfer zu bringen, waren für die Gemeinde die Spielräume für eine positive Außendarstellung und Imagepflege plötzlich ziemlich eingeschränkt. Ihre Glaubwürdigkeit gewann sie damals nicht durch eine Steigerung ihrer Pluralitätsfähigkeit, sondern dadurch, dass sie Gott mehr gehorchte als den Menschen und den Weg des Leidens ging. Nun stehen wir in unserer säkularisierten Gesellschaft nicht vor der Herausforderung der frühen Christenheit, das will ich sehr deutlich sagen. Aber mir erschließt sich nicht, warum die Außenwirkung auf die spätmoderne Gesellschaft in Westeuropa und Nordamerika das ausschlaggebende Argument für die theologische und ethische Kursänderung einer über 300 Jahre alten Bewegung sein soll.

Warum sollte sich der Pietismus an der Pluralitätsfähigkeit der EKD ein Beispiel nehmen?

Das Plädoyer Michael Dieners würde mich deutlich mehr überzeugen, wenn sich der von ihm gelobte EKD-Protestantismus mit seiner vorbildlichen Pluralitätsfähigkeit vor Zulauf nicht mehr retten könnte und die Massen bei seinen offenen, einladenden, toleranten und in keiner Weise milieuverengten Gemeinden die Kirchentüren einrennen würden. Mir würde es auch schon reichen, wenn es wenigstens die eigenen Mitglieder tun würden. Aber dieser Protestantismus verliert gerade jedes Jahr etwa 2% seiner Mitglieder. Selbst an den Heiligabendgottesdiensten hat sich die Zahl der Besucher in 14 Jahren von 51% im Jahre 2005 um 30% auf 21% im Jahr 2019 (und das war vor der Pandemie!) reduziert.

Warum soll der Pietismus der Hermeneutik, Theologie und Ethik eines Protestantismus folgen, der sich in Europa gerade im freien Fall befindet?

Wie verändert Gott seine Gemeinde?

Die grundlegende Frage, die Michael Diener in seinem Buch stellt, ist die Frage nach der Veränderung der Gemeinde im Wandel der Zeiten. Diese Veränderungen hat es in der Geschichte des Volkes Gottes im alten und neuen Bund immer gegeben und sie stehen auch Kirche und Pietismus bevor. Davon bin auch ich überzeugt. Aber diese Veränderungen vollziehen sich nie einfach durch die Anpassung an eine dominierende Leitkultur, sondern weil Gott neu handelt, in neuer Weise wirkt durch neu geöffnete Augen für das Wort Gottes (Martin Luther und die Reformation), durch das Wirken seines Geistes in Zeiten der Erweckung, durch das Wachstum oder das Zusammenwachsen seines Volkes (Evangelische Allianz, Weltchristenheit). Es ist immer Gottes Wort und Geist, die seine Gemeinde verändern und die Gemeinde wird dieses verändernde Wirken Gottes auch in seinem Wort wiedererkennen. Genau das ist das Problem an unserer leidigen Diskussion um die Bewertung homosexueller Handlungen: Zu viele Menschen können nicht erkennen, dass der geforderte Wandel durch Gottes Wort und Geist bestätigt wird.

Die Gemeinde kann ihre Theologie und Ethik nie allein deshalb ändern, weil sich das Wahrheitsbewusstsein der jeweiligen Gegenwart verändert hat und ihre Außendarstellung deshalb unattraktiv ist. Sie kann die „Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung“ nicht „dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen“ (2. These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934). Sie kann und muss zweifellos ihre evangelistische Verkündigung neu formulieren, damit Menschen sie verstehen, sie wird ihre Homepage und den Schaukasten immer wieder attraktiv gestalten, damit man sie überhaupt ansieht, aber sie kann nicht die Quelle manipulieren, von der sie lebt. Vielmehr darf sie glauben, dass Gott es in seiner Offenbarung gut mit uns meint und er uns das, was wir brauchen, nicht vorenthält – auch wenn wir nicht alles bekommen, was wir uns wünschen. Wer verändern will, muss in der Schrift und den geistlichen Schätzen der Gemeinde zu graben beginnen und darum beten, dass Gottes Geist seiner Gemeinde Frieden und Freude über den neuen Wegen gibt. Nur so wird man den Kompass im Blick behalten und die Gemeinde führen können.

Michael Diener hat an die pietistische und evangelikale Bewegung viele Anfragen gestellt und manche Anklage erhoben. Inwieweit diese Streitschrift bei dem mühsamen Weg durch die in der Tat einschneidenden Veränderungen der Gegenwart hilft, wird sich zeigen. Was das Buch erreicht ist eine Schärfung des Blicks auf grundlegende Fragen des Glaubens, des Bibelverständnisses und der Ethik. Dabei hat der Autor bewusst provoziert. Auch das schärft den Blick und klärt die Fronten.

Und ja, soviel Ehrlichkeit muss am Ende dieser Rezension sein: Es gibt in der pietistischen und evangelikalen Bewegung vieles, wofür auch ich mich schäme: Es gibt fromme Querdenker, Verschwörungstheoretiker, Corona-Leugner, Homo-Hasser, Trump-Fans, Rechtsextreme und PEGIDA-Demonstranten, die auch mir Mails und Briefe schreiben und den Alltag eintrüben. Auch mir ist vieles peinlich, was so alles unter der Flagge des Pietismus oder Evangelikalismus daherkommt. Aber es sind und bleiben Schwestern und Brüder, die man manchmal aushalten muss, so wie auch Michael Diener mein Bruder bleibt, der mich und den ich aushalten muss, auch wenn sich unsere Perspektiven unterscheiden. Es sind Zeiten, in denen wir es lernen müssen, Menschen, Konflikte und Trennungen auszuhalten. Möge es Gott schenken, dass auch wieder Zeiten kommen, in denen wir wieder zueinander finden.


Prof. Dr. Volker Gäckle, Rektor der Internationalen Hochschule Liebenzell