Heinrich Assel: Elementare Christologie
Heinrich Assel: Elementare Christologie, 3 Bde. (Erster Band: Versöhnung und neue Schöpfung; Zweiter Band: Der gegenwärtig erinnerte Jesus; Dritter Band: Inkarnation des Menschen und Menschwerdung Gottes), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2020, 542+360+431 S., Hardcover, € 98,–, ISBN 978-3-579-08136-6
In drei Bänden legte der Greifswalder Theologe Heinrich Assel 2020 seine Christologie vor. Dabei geht es ihm nicht um „arbiträre“ Zusammenhänge, sondern um einen Aufbau aus analytischen und kombinatorischen Elementen. In diesem Sinne beansprucht der vorliegende Entwurf systematische Vollständigkeit. Als die grundlegende Aufgabe einer systematischen Christologie wird bestimmt, dass sie Rechenschaft abgeben soll von all den konkreten, mimetischen, sakramentalen und künstlerischen Ausdrücken des Glaubens an Jesus Christus (I, 20).
Der gewählte Leitfaden stellt dabei auch einen Schwerpunkt von Assels bisherigen Veröffentlichungen dar. Die Christologie wird ganz auf die Versöhnung gedeutet, die durch das Christusgeschehen gestiftet wurde. Dabei besteht der Ausgangspunkt nicht in dogmatischen Axiomen, sondern in der konkret vorliegenden Christus-Erinnerung der verschiedenen „Christentümer“ und ihrem Ausdruck in greifbaren Versöhnungshandlungen. Dies wird beispielhaft an der deutsch-polnischen Versöhnung nach dem zweiten Weltkrieg dargestellt, bei der die jeweiligen Kirchen eine wesentliche Rolle spielte. Hieraus ergibt sich die innere Ordnung von Assels Christologie.
Der erste Band handelt von der Versöhnung, die durch Christus geschieht, und hat damit material zuerst den Tod Jesu im Blick. Weil hier die Liebe Gottes wesentlich zum Ausdruck kommt, bedeutet für Assel eine theologia crucis zugleich eine theologia trinitatis. Versöhnung bedeutet der Tod Jesu vor allem deshalb, weil hier eine Stellvertretung stattfindet. Welcher Art die Stellvertretung ist, wird ausführlich diskutiert. Dabei werden gewinnbringend die Reflexionen jüdischer Religionsphilosophen einbezogen. Mit der Auferstehung als dem zweiten Element kommt auch die Neuschöpfung in das Blickfeld. So wie die Auferstehung auf den Tod zurückbezogen werden muss, so kann auch der Tod auf die Auferstehung hin verstanden werden. Erst hier wird Versöhnung also vollständig, nämlich in der Rechtfertigung des Schöpfers durch die Auferstehung, durch die „schwache Macht“ Christi, sowie durch die konkrete Kirche (unter starkem Bezug auf Bonhoeffers weltbezogene Theologie).
Der zweite Band behandelt den gegenwärtig erinnerten Jesus. Als die relevante „Erinnerung“ gilt hier der neutestamentliche Kanon und vor allem die vier biblischen Evangelien. Hier vor allem drückt sich Assels Orientierung an der neueren literaturwissenschaftlichen Exegese aus. Gesucht wird nämlich nicht nach einem historischen Jesus hinter den Texten, sondern nach dem Jesus, an den sich durch die Texte erinnert wird. Der Gewinn dieser hermeneutischen Entscheidung liegt darin, dass die Dogmatik ihrem eigenen Anspruch nach ganz in dem Horizont steht, den der biblische Text bietet. Exemplarisch dafür mag die Figur des Verräters Judas stehen, die man nach Assels Ansicht nicht uminterpretieren könne. Sie sei nicht „überzubestimmen“, sondern in ihrer „Funktion für die narrative Kontingenz des erinnerten Jesus zu wahren“ (II, 28). Christologisch fruchtbar sind für Assel die Gleichnissreden Jesu, die Bergpredigt, die Abendmahlseinsetzung und zuletzt das Kennzeichen Jesu als armer (und leidender) Mensch. Die Erinnerung an die Gleichnisse und die Bergpredigt deutet Jesu Leben im Zusammenhang mit seiner Predigt vom Reich Gottes, schärft eine christologisch erlernte Urteilskraft im Hörer und stellt Jesus als Lehrer und Vorbild vor Augen. Die Erinnerung an das Abendmahl, das dazugehörige Dankgebet und schließlich an die Institution des Heiligen Geistes belebt die Stiftungen Jesu für die Jünger. Zuletzt begründet die Armut Jesu ein humanchristologisches Glaubensbekenntnis, in dem er zugleich Richter wie auch Richtmaß der göttlichen Gerechtigkeit darstellt.
Der dritte Band hat zuletzt die Inkarnation zum Thema. Hier geht es Assel allerdings nicht allein um die Menschwerdung Gottes, sondern vor allem auch um die Menschwerdung des Menschen. Den größten Teil dieses Bandes bildet eine ausführliche Darstellung der Inkarnationsdiskussion von der frühen Kirche bis in die Gegenwart. Hier wird unterschieden zwischen der Epoche vor Calcedon, nach Calcedon, der Reformation und schließlich der (christologiekritischen) Neuzeit und Moderne. Anhand dieser Darstellung soll nun das Wesentliche an der Inkarnation reflektiert werden. Das Ziel ist allerdings keine Konstruktion einer christologischen Metaphysik von Schöpfung, Offenbarungsgeschichte und Erlösung. Stattdessen wird angenommen, dass gerade in den (innovativen) Unterbrechungen der jeweils herrschenden Inkarnationsmodelle das Wesentliche zu entdecken ist. Das Ziel ist also eine Nachzeichnung der Transformation der Inkarnationslehre. Seine eigene Position entwickelt Assel zuletzt in Orientierung am jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas, der seiner Meinung nach den markantesten neueren Fortschritt zur Philosophie der Inkarnation darstellt (III, 216). Vor allem hier löst Assel seinen Anspruch ein, religionsdialogisch vorzugehen.
Die vorliegende Christologie zeichnet sich durch ihren ungewöhnlichen Umfang und durch ihr starkes Interesse an der interdisziplinären Arbeit aus. So finden sich ausführliche theologie-geschichtliche, exegetische und philosophische Exkurse. Anerkennen muss man auch die große Gelehrtheit des Autors, die inhaltlich und im Duktus zum Ausdruck kommt. Hier kann man allerdings auch kritisch anmerken, dass eine komplizierte Sprache den Zugang erschwert.
Assel orientiert sich bewusst an der neueren literaturwissenschaftlichen Exegese, etwa an Moisés Mayordormo. Wesentliches Kennzeichen der ausführlichen Einzelauslegungen ist damit der Fokus auf der Erzählung (plot) und der dazugehörigen Meta-Erzählung (Fabel), außerdem die Festlegung der Funktion einzelner Figuren und die Frage nach den verschiedenen intendierten Lesern. Der Gesamtentwurf ist explizit als eine textsemiotische und rezeptions-narratologische Christologie zu verstehen. Diese enge Bindung an die Auslegungswissenschaft muss gerade aus evangelikaler Sicht positiv hervorgehoben werden. Gleichzeitig tritt an einigen Stellen die Frage auf, ob der biblische Text manchmal nicht allzu sehr von der Wirklichkeit getrennt wird, die er beschreiben will.
Auch der Einbezug jüdischer Religionsphilosophie erweist sich in weiten Teilen als fruchtbar und ist allgemein äußerst lehrreich. Dies betrifft etwa wichtige Themen wie die Stellvertretung und verschiedene exegetische Teilstücke. Gleichzeitig gerät Assel auch an die Grenzen des spezifisch Christlichen. So bleibt es fraglich, ob sich Assels religionsdialogisch bedingtes Inkarnationskonzept bewähren kann. Dieser Grenzgang kann grundsätzlich als ein Merkmal unterschiedlicher Gestalten moderner Theologie gelten, und er ist auch im Fall von Assels Christologie eine bewusste Entscheidung.
Das Resultat ist insgesamt eine sehr lehrreiche und weit gefasste Reflexion darüber, was es heißt, sich im Namen Jesus Christus zu orientieren (I, 17). Der Leser findet nicht nur einen eigenen christologischen Entwurf, sondern an vielen Stellen auch ein ausführliches Lehrwerk vor. Interessant ist dieses Werk Assels vor allem für diejenigen, die sich im Rahmen theologischer Arbeit mit dem Gebiet der Christologie auseinandersetzen.
Viktor Martens, M.A., ist Gemeindereferent der ECB Günzburg