Altes Testament

Christian Frevel: Desert Transformations

Christian Frevel: Desert Transformations. Studies in the Book of Numbers, FAT 137, Tübingen: Mohr Siebeck, 2020, Ln., 587 S., € 134,–, ISBN 978-3-16-153967-1


Christian Frevel ist Professor für Altes Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Inmitten seiner vielen, gewichtigen Veröffentlichungen dürfte die Auslegung des Numeribuches ein besonderer Schwerpunkt sein, an dessen Kommentierung er seit vielen Jahren für die Reihe „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“ arbeitet. In der vorliegenden Aufsatzsammlung veröffentlicht Frevel 21 Beiträge auf Englisch (darunter sechs bisher unveröffentlichte und sieben nur auf Deutsch erschienene Aufsätze), wobei deren Unterteilung in 3 Abschnitte wohl gerade auch an den Charakteristika des Numeribuches orientiert ist, die es für heutige (westliche) Leser so fremd machen: die eigenwillige Anordnung ganz unterschiedlicher Textsorten, schwer verständliche Ritualvorschriften und die weit ausholende Thematisierung der Priesterschaft. Es handelt sich im Einzelnen um folgende Beiträge:

1. Wandering the Desert: A Survey into the Present Volume and Beyond. (unveröff.)

Literature, History and Ideology

2. Torah Becoming a Blessing: Narratological Impulses for Understanding the Book of Numbers.

3. The Compositional Relief of Numbers Within the Five Books of the Torah.

4. Old Pieces – Late Bridges? The Role of the Book of Numbers in Recent Discussion of the Pentateuch.

5. Understanding the Pentateuch by Structuring the Desert: Num 21 as Compositional Joint.

6. Living in the Midst of the Land: Issues of Centralization in the Book of Numbers. (unveröff.)

7. Are There Any Reasons Why Balaam Had to Die? Prophecy, Pseudo-Prophecy and Sorcery in Numbers.

8. Numbers and the Twelve. (unveröff.)

9. The „Arab Connection“ in the Book of Numbers. (unveröff.)

Ritual and Practice

10. Purity Conceptions in the Book of Numbers in Context.

11. Struggling with the Vitality of Corpses: Understanding the Rationale of the Ritual in Numbers 19.

12. On the Imperfection of Perfection: Remarks on the Anthropology of Rituals in Numbers.

13. The Texture of Rituals in the Book of Numbers: A Fresh Approach to Ritual Density, the Role of Traditions and the Emergence of Diversity in Early Judaism.

14. The Sabbath and the Wood-Gatherer: Legal Hermeneutics and Literary History in Num 15:32–36. (unveröff.)

15. Interior Furnishing: Some Observations on Endogamy in the Book of Numbers. (unveröff.)

Leadership and Priesthood

16. The Transformation of Charisma: Reflections on the Book of Numbers on the Backdrop of Max Weber’s Theorem of Routinization.

17. Leadership and Conflict: Modelling the Charisma of Numbers.

18. „My Covenant with Him Was Life and Peace“: The Priestly Covenant and the Issue of Mixed Marriages.

19. „And When Moses Heard That, He Agreed“ (Lev 10:20): The Relationship Between Compositional History, the History of Theology and Inner-Biblical Exegesis in Leviticus 10.

20. „…and the Levites Shall Be Mine“: Remarks on the Connections Between Numbers 3; 8 and 18.

21. Ending with the High Priest: The Hierarchy of Priests and Levites in the Book of Numbers.

Nach Frevel lässt sich die Struktur des Numeribuches nicht an einem Parameter festmachen. Frevel verbindet den Vorschlag von Dennis Olson zur strukturierenden Funktion der beiden Zählungen (Num 1; 26) mit Beobachtungen zur Raumdarstellung und den drei Schwerpunkten „Sinai“, „Kadesch“ und „Steppen Moabs“ und spricht sich für eine konzentrische Struktur von fünf Teilen aus (vor allem 3.; ähnlich 5.).

Für die weitere Numeriforschung und jegliche Arbeit zu Pentateuch und Hexateuch unbedingt zu berücksichtigen sind Frevels vielfach eingebrachten Nachweise für die Doppelgesichtigkeit des Numeribuches, das einerseits als literarische Größe für sich wahrzunehmen ist und (weitgehend) für sich stehen kann, andererseits aber mit seinen verschiedenen Abschnitten mehrere, unterschiedliche Bögen zu anderen Büchern formt, und über sich hinaus- und zurückverweist (bes. 3., 4., 5.). In diesem Zuge befreit Frevel endlich die engen Bezüge zwischen Num 26–36 und Josua aus den gängigen Verlegenheitslösungen und integriert sie konsequent in die Analysen der Erzählelemente von Num und Pentateuch, deren literarischer und theologischer Konzeption und die Modellfindung zur Entstehung von Pentateuch und Hexateuch. Des Weiteren stellt er differenziert die verschiedenen Formen der Verbindungen zwischen Exodus und Numeri dar.

Angesichts der spärlichen Beachtung des Numeribuches in narratologischen Studien ist Frevels entsprechender Aufsatz (2.) besonders beachtenswert. Darin zeigt er einige spezifische Raum-Zeit-Konstellationen (mit M. Bachtin: Chronotopos) auf und spricht die komplexen Wechselverhältnisse von Narratologie und Historiographie an. Vor allem aber gelingt es Frevel überzeugend und narratologisch gut begründet, „Strategien“ in der Textgestaltung zu erhellen, wo andere nur ein „Durcheinander“ von Erzählung und Gesetzestexten wahrnehmen, um daraus wichtige hermeneutische und theologische Schlussfolgerungen in Bezug auf das Verhältnis von „Gesetz“ und „Erzählung“ abzuleiten (instruktiv für die Tradition der mosaischen Verfasserschaft sind auch die Ausführungen zum Verhältnis von Erzählerstimme und Fokalisation auf Mose).

Auch zur Interpretation der Ritualtexte (zu Num 5–6 und Num 19, vgl. 10., 11., 12.; zu Num 15, vgl. 14.), und der Unterscheidung zwischen „rein“ und „unrein“ findet man hilfreiche Vorschläge mit bedeutsamen Schlussfolgerungen für die Anthropologie (12.). Besonders zu beachten, auch hinsichtlich Textentstehung und Textpragmatik, ist die These von Frevel, dass die Ritualtexte einerseits zum „Identitätsreservoir“ des Frühjudentums gehören und gleichzeitig eine plurale Umsetzung in verschiedenen Gruppen des Frühjudentums ermöglichen, sowohl Einheit stiften als auch Diversität befördern (bes. 13.).

Schließlich weist Frevel in mehreren Beiträgen nach, wie sich die hierarchische Organisation von Priestern und Leviten und damit in Verbindung stehende Texte in die Gesamtkonzeption des Numeribuches einfügen (17., 20., 21., auch 10. u. a.), weist die unbedingte konzeptionelle Zusammengehörigkeit von Num 3; 8; 18 nach (20.) und arbeitet in zwei besonders lesenswerten Beiträgen die zentrale Rolle des Buches in Pentateuch und Hexateuch im Blick auf die Strukturierung von Leiterschaft heraus. So bildet sich gerade auch an den verschiedenen unterschiedlich zueinander in Beziehung stehenden Modellen von Leiterschaft (bzw. in Max Webers Terminologie „Herrschaft“) im Numeribuch dessen zentrales Thema des Übergangs ab (16., 17.) – die vielfältigen Transformationen im Chronotopos der Wüste. Oder wie der Titel dieses Bandes passend formuliert: Desert Transformations.

Natürlich regt eine solch dichte Aufsatzsammlung auch zu Ergänzungen und Widersprüchen an. So wäre man gespannt auf eine intensivere Interaktion mit den Arbeiten von Adriane Leveen für die Erschließung narratologischer Perspektiven oder die Berücksichtigung der Arbeiten von Angela Roskop (Erisman) zu dem zu Recht herausgehobenen Kapitel Num 21. Die Rolle der Ruach JHWHs (meist: Geist des Herrn) in Bezug auf Leiterschaft ist m. E. zu wenig berücksichtigt und ausgewertet. So scheint mir die an Max Weber anknüpfende Interpretation einer Umformung des spontanen Charismas in ein Amt und die Begrenzung der Umformung des originalen Charismas (des Mose) in (nur) zwei Formen der Autorität – die Mosaische Tora und das Aaronitische Hohepriester-Amt – an dem Profil von Num 11; 27 (und Dtn 31+34) vorbeizugehen. Und gerade auch angesichts des hohen Reflexionsgrades zum Wechselverhältnis von Narrativität und Historiographie (2.) und der von Frevel mehrfach erwogenen Möglichkeit, dass auch in späten Redaktionsschichten alte (mündliche) Traditionsstücke enthalten sein können, werden manche hinter einige seiner historischen Bewertungen zum Stoff des Numeribuches eher ein Fragezeichen setzen. Ganz ohne Frage aber stellt der vorliegende Aufsatzband einen wichtigen Beitrag für die Numeriauslegung dar und darüber hinaus für die Pentateuchforschung und die Theologie der Hebräischen Bibel und ist ein (weiteres) überzeugendes Plädoyer von Christian Frevel, das Numeribuch aus seinem unberechtigten Schattendasein ins Licht engagierter, theologischer Beschäftigung zu stellen.


Prof. Dr. Torsten Uhlig, Professor für Altes Testament an der Evangelischen Hochschule Tabor, Marburg