Daniel Vaucher: Sklaverei in Norm und Praxis
Daniel Vaucher: Sklaverei in Norm und Praxis. Die frühchristlichen Kirchenordnungen, Sklaverei – Knechtschaft – Zwangsarbeit 18, 2. Aufl. Hildesheim: Olms, 2020, VIII, kt., 358 S., € 68,–, ISBN 978-3-487-31189-0
Für manche heutige Leser des NT gehören die Haustafeln, insbesondere deren Sklavenparänese mit der Forderung der Unterordnung, zu den problematischen Texten. Doch stellt sich die Frage nach dem Umgang mit Sklaverei als Phänomen und mit einzelnen Sklavinnen und Sklaven nicht erst seit der Aufklärung und den ersten Formulierungen der Menschenrechte. Schon früh mussten sich Christusgläubige mit der in ihren Gesellschaften selbstverständlichen Sklaverei auseinandersetzen. Zum einen waren auch Sklaven Teil der Gemeinden und daher aus christlicher Sicht Glaubensgeschwister, die entsprechend zu behandeln waren. Zum anderen konnten zugleich die überkommenen Institutionen, rechtlichen Vorgaben und Hierarchien nicht einfach ignoriert werden. Welche Antworten wurden damals gefunden und wie sind sie zu bewerten?
Diesen Fragen stellt sich der Schweizer Althistoriker und Altphilologe Daniel Vaucher mit der vorliegenden Arbeit. Im einleitenden Kapitel skizziert er knapp die Selbstverständlichkeit der Sklaverei in der Antike, den Forschungsstand und Desiderate, u. a. die Berücksichtigung der Kirchenordnungen und mit ihnen verwandten frühchristlichen präskriptiven Texte, zu deren Zielsetzung Vaucher schreibt:
Grundsätzlich sehen diese Texte sowie ihre späteren Derivate die Regelung des Gemeinschaftslebens, der Ämterhierarchie, Liturgieformen u.v.m. vor, die sie mit dem Anspruch apostolischer Autorität für allgemein verbindlich erklären. Sie offenbaren sich damit als problem- und situationsbezogene Schriften, die verfasst wurden, um Streitfragen und Unsicherheiten zu ihren Gunsten zu regeln. Dass dabei die Sklaverei bisweilen auch eine dieser Streitfragen war, ist für die vorliegende Untersuchung umso ergiebiger (13).
Kapitel zwei beschreibt die hier analysierten Quellen und ihren Kontext (15–64; Kirchenordnungen: Begriff und Kategorie in der Forschung, neuer Ansatz zur Kategorisierung der Kirchenordnungen, Entwicklung der Christengemeinden in den ersten Jahrhunderten, Präsentation der Kirchenordnungen und inhaltliche Schwerpunkte sowie Überlegungen zur Interpretation von Kirchenordnungen – u. a. problemorientierter Zugang, Intertextualität, das Verhältnis von Norm, Realität und Utopie, Kontextualisierung der Texte –; welche Positionen haben sie innerhalb der ersten Jahrhunderte im innerkirchlichen Prozess der Hierarchisierung, Säkularisierung und Kanonisierung eingenommen?). Behandelt werden die Kirchenordnungen Didache, Apostolische Kirchenordnung, Syrische Didaskalie, Traditio Apostolica (und die damit verwandten Canones Hippolyti, Testamentum Domini und Epitome) die die Sammelwerke Apostolische Konstitutionen/Apostolischen Kanones, Fragmentum Veronese, Klementinischer Oktateuch und Alexandrinischer Sinodos.
Zu seinem methodischen Vorgehen in den folgenden Kapiteln, die konkreten Probleme der Sklaverei bei Paulus und in den Kirchenordnungen gelten, schreibt Vaucher:
Mit der Methode der Intertextualität und dem Ansatz, diese präskriptiven Quellen als problemorientiert in einer Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Autoritäten zu verstehen, werden nicht nur in den Texten eingeschriebene Gegnerschaften, sondern auch Alltagspraktiken herausgefiltert. Daraus ergeben sich Rückschlüsse auf das soziale Verhalten in den Gemeinden und darüber, wie das Christentum mit der Sklaverei umging (14).
Vaucher beginnt mit einem knappen Kapitel zu Paulus und der Sklavenfrage (65–90; Philemon und Onesimus, Entwicklung eines Modells zur Sklavenfrage bei Paulus, Exkurs zum sklavenlosen Idealzustand und die Utopie des Epiphanes). Kapitel vier untersucht das Verhältnis von subversiven Tendenzen und Gehorsamsforderungen (91–119). Dazu gehören Reaktionen auf die paulinische Botschaft (hier finden sich Kol, Eph, die Past, 1Petr), die Gehorsamsforderungen in verschiedenen Kirchenordnungen, der Umgang mit Sklavenflucht als Rezeption des Philemonbriefs und Hinweise auf den Freikauf von Sklaven in frühchristlicher Zeit (Freikauf durch Synagogen, Ignatius und der Freikauf auf Kosten der Gemeindekasse, Freikauf in den Kirchenordnungen).
Kapitel fünf skizziert die Hinweise in den Kirchenordnungen zur Inklusion von Sklaven (120–174; Möglichkeiten und Modalitäten ihres Beitritts zum Christentum – u. a. Taufe als Wiedergeburt und sekundäre Sozialisierung –, die Aufnahme von Sklaven in den Klerus –Sklaven als kirchl. Funktionäre, der Ausschluss von Sklaven aus dem Klerus, Sklaven als confessores –, bestand nach der Inklusion tatsächlich Gleichheit bei Gemeinschaftsmählern und privaten Banketten sowie in Gottesdiensten?; Exkurs zu Laktanz und christlichen Gleichheitsvorstellungen). Vaucher schließt:
Die Inklusion von Sklavenbesitzern und Sklaven sollte zumindest im Taufverständnis eine Gleichheit im Umgang miteinander bewirken. Dieser Anspruch scheiterte an der tiefen Verwurzelung der Christen in den poleis, der paganen Kultur und ihren Formen der Geselligkeit. Status, Reichtum und Patronage waren auch in christlichen Gemeinden wichtige Elemente der sozialen Hierarchie. In der Mahlfeier werden Sklaven daher entweder nicht dabei gewesen sein oder als Assistenten sklavische Aufgaben wahrgenommen haben. Selbst mit dem Wandel zur „öffentlichen“ Eucharistiefeier dürfte sich nicht allzu viel verändert haben. Auch diese Feiern waren in erster Linie von und für Freie. Sklaven gehörten kaum zu den regelmäßigen Teilnehmern und waren damit alles andere als „gleich“ (169).
Kapitel sechs untersucht die Hinweise auf die Exklusion von Sklaven im Zusammenhang von Bemühungen um die Einheit und Reinheit der Kirche (170–196; die Kirche als Körper, Buße und Bußpraxis). Dieses Bemühen zeigt sich im Ausschluss von (Sklaven-)Berufen (Traditio Apostolica 16; Schwerpunkte in den Berufsverboten; erstaunlicherweise sind Sklavenhändler nicht ausgeschlossen!) und Ausschluss unreiner Spender. Kapitel sieben gilt der christlichen Behandlung von Sklaven auf dem Hintergrund des paganen Diskurses, frühchristlichen Forderungen zur milden Sklavenbehandlung und dem Ausschluss grausamer Sklavenbesitzer aus der Kirche (197–231; Exkurs zur Sklavenbehandlung in Clemens von Alexandriens Paedagogus III.11–12).
Kapitel acht analysiert den Umgang mit dem sexuellen Missbrauch von Sklaven (232–264). Untersucht werden die Aussagen des Paulus im jüdischen Kontext (Sexualmoral und Paulus‘ Beurteilung der Ehe, der Gebrauch der Sklaven und die Prostitution, Ausschluss von Prostituierten?), die sog. Zwei-Wege-Lehre, Traditio Apostolica, syrische Didaskalie sowie die nachkonstantinische Entwicklung in dieser Frage.
Der Band endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse, einem detaillierten Appendix zur Überlieferung der Kirchenordnungen (269–296) und einer Synopse der verbotenen Berufe in verschiedenen altkirchlichen Quellen (297–308). Dem folgen Bibliografie und Stellen-, Namens- und Sachregister.
Die Antworten der Alten Kirche auf die verschiedenen Fragen, die mit der Sklaverei verbunden waren, fielen unterschiedlich aus. Nach Vaucher „besteht kein Zweifel, dass mit der Jesusbewegung und der paulinischen Mission etwas ausgelöst wurde, was in der Folge zu vielen Unsicherheiten geführt hat“ (265). Jedoch ist gerade in der Sklavenfrage keine eindeutige Paulus-Rezeption festzustellen (für ihn war der rechtliche Status irrelevant, da mit der erwarteten Parusie weltliche Unterschiede ohnehin aufgehoben waren). Dabei liefern die Kirchenordnungen uns „spannende Einblicke in die Ansichten christlicher Autoren; es wäre aber verfehlt, immer von den Texten auf soziale Praktiken zu schließen. Die Frage nach Anspruch und Umsetzung, nach Ideal und Realität, kann in den wenigsten Fällen eindeutig beantwortet werden. Zumindest aber machen die Schriften umstrittene Themen sichtbar“ (266). Stärker als die paganen Vorläufer und Zeitgenossen konnten die christlichen Autoren „über die Sklaverei und ihre Rechtmäßigkeit reflektieren und durchaus Kritik an der Sklaverei äußern. Die Botschaften der Jesusbewegung und des Paulus hätten die Sklaverei innerhalb der Gemeinde aufheben können“ (266). Wahrscheinlich war ihnen das missionarische Interesse wichtiger: „Die Sklaverei war so selbstverständlich, dass radikale Forderungen das Ansehen der Gemeinden geschädigt hätten. Sklavereikritik und das Ideal einer sklavenlosen Gemeinde blieben deshalb ideell oder utopisch, und selbst wo diese Ideale in Normen für die Gemeinden formuliert wurden, ist es höchst zweifelhaft, inwiefern diese umgesetzt wurden“ (266). Zu berücksichtigen ist, dass die meisten der christlichen Autoren wohl selbst Sklavenbesitzer waren und von Sklaven direkt oder indirekt profitierten. Der Nutzen der Herren wird in den Texten nirgends erwähnt! (266). Zu Recht erinnert Vaucher abschließend:
„Das Christentum“ hat es in den ersten Jahrhunderten allerdings nicht gegeben. Statt von „einer Kirche“ zu sprechen, muss die Vielfalt an verschiedenen Lehren und Lehrern erkannt werden, die sich alle als christlich verstanden. Erst im Verlauf einer Orthodoxisierung werden gewisse Schriften marginalisiert. Die Diversität des christlichen Glaubens spiegelt sich auch in der Sklavereifrage wider: die frühesten christlichen Schriften beziehen dazu keine einheitliche Position (268).
Vauchers Untersuchung führt zum einen gekonnt in die Welt der frühchristlichen Kirchenordnungen ein und zeigt deren Ertrag, aber auch Grenzen im Studium der Alten Kirche (vgl. 267). Dass dabei Norm, also die Vorgaben der Kirchenordnungen, und die tatsächliche Praxis nicht immer deckungsgleich waren, zeigt schon der Titel der Untersuchung. Dass das Thema Sklaverei in diesen Ordnungen immer wieder auftaucht, ist ein Hinweis, dass Handlungsbedarf vorhanden war. Die hier geleisteten Vorarbeiten lassen sich auch auf andere Fragestellungen in der Erforschung der Alten Kirche anwenden.
Zum anderen bietet Vaucher neben seinem eigenen Beitrag durch den Fokus auf die Kirchenordnungen einen guten deutschsprachigen und aktuellen Überblick über die in der englischsprachigen Forschung intensiv geführte Debatte um die Sklaverei in der Antike im Allgemeinen und in der Alten Kirche im Besonderen (vgl. M. Zeuske, Handbuch der Geschichte der Sklaverei: Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin / Boston: De Gruyter, 2013).
Ferner zeigt Vauchers Studie, dass die aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbaren, spärlichen Hinweise im Neuen Testament (nur die wenigen Vorkommen in den Haustafeln ähneln den späteren Kirchenordnungen) der späteren ethischen Entfaltung und Konkretisierung bedurften. Dabei ist nicht primär die Beobachtung dieses Sachverhaltes interessant und die möglichen Schlussfolgerungen für das Verhältnis von Schrift und Tradition, sondern die Frage, nach welchen Kriterien diese Entfaltung und Aktualisierung geschah (etwa in Anlehnung an die Werte der paganen Gesellschaft) und welche Lektionen Christen späterer Zeiten bis in die Gegenwart aus diesen Erfahrungen lernen können.
Die Studie und Thematik bilden zudem eine instruktive und ernüchternde Fallstudie über den Umgang des frühen Christentums mit den rechtlichen und gesellschaftlichen Normen der damaligen Zeit.
Prof. Dr. Christoph Stenschke, Biblisch-Theologische Akademie Wiedenest and Department of Biblical and Ancient Studies, University of South Africa