Neues Testament

Kurt Erlemann: Wunder

Kurt Erlemann: Wunder. Theorie – Auslegung – Didaktik, UTB 5657, Tübingen: Narr Francke Attempto Verlag, 2021, Pb., 372 S., € 32,–, ISBN 978-3-8252-5657-9


Kurt Erlemann ist Prof. für NT und Alte Kirche an der Bergischen Universität Wuppertal. Sein neues Buch trägt einen breit gefassten Titel: Wunder. Es geht darin kaum um Wunder in der Gegenwart, und nicht um Wunder in mittelalterlichen Heiligenlegenden. Es geht – was Titel und Untertitel aber verschweigen – speziell um Wunder im NT, wobei das AT sowie die antike Religionsgeschichte fallweise zu Vergleichszwecken mit einbezogen werden. Der Fokus liegt jedenfalls auf dem NT; wenn Erlemann die „Biblische Wunderterminologie“ (23f) bespricht, dann erklärt er ausschließlich die im NT verwendeten griechischen Ausdrücke. Der Titel von Erlemanns populärwissenschaftlichem Buch dagegen war klar: „Kaum zu glauben. Wunder im Neuen Testament“ (2016).

Der Untertitel erwähnt die Didaktik; das Buch berücksichtigt die Verwendung des Themas „Wunder“ im Religionsunterricht sehr intensiv. Eine didaktische Fähigkeit von Erlemann wird in seinem Stil erkennbar: Er verwendet eher kurze Sätze, sodass sein Buch flüssig zu lesen ist. Erlemann erläutert die Aspekte, die bei manchen Wundertexten im Unterricht angesprochen werden können. Die sprachliche Umsetzung des Buchinhalts auf der Ebene von Schülern bleibt aber Aufgabe des Lehrers, denn die Ausdrucksweise in Teil 5 (Exegetische Musterbeispiele) ist anspruchsvoll, z. B. sagt er über einen Wundertext: „Der Text ist intern epideiktisch mit dikanischem Unterton […] Leserbezogen ist der Text […]  mit symbuleutischem Unterton“ (227). Der Teil 6 (Didaktische Impulse) greift die Vorgaben der Lehrpläne auf; hier finden sich auch einfach formulierte Fragen, aber ohne dass konkrete Erfahrungen aus der Unterrichtspraxis dargelegt werden. Es geht eher um grundsätzliche pädagogische Überlegungen, etwa: „Erfahrungsräume, Lernperspektiven und Kompetenzerwartungen beschreiben die pädagogischen Rahmenbedingungen […]“ (283).

Erlemann erklärt die Funktion von Wundern im Rahmen einer christlichen Weltsicht (205): Wunder sind „Anfänge der sich realisierenden Gottesherrschaft“, oder – in einem Vergleich aus der Medienwelt – „kleine Trailer, Filmclips“. Den Ruf zur Umkehr drückt er modern aus: „Die Menschen sollen ihren Kurs korrigieren“; es „genügen punktuelle Zeichen“, denn: „Der freiwillige Verzicht auf Machtdurchsetzung gehört zum Programm der übergroßen Geduld Gottes mit seinen Ebenbildern, ist Ausdruck seiner Liebe, die den Menschen das Schlimmste ersparen möchte.“ Erst „bei der Parusie Christi wird sich Gott global durchsetzen“.

Bei der Einschätzung der Historizität der Evangelien geht Erlemann einen Mittelweg zwischen Vertrauen und Skepsis: „Das historische Geschehen hinter den Wundertexten liegt im Dunkeln.“ (16). Aber damit dieses nicht im Dunkeln bleibt, hat Lukas nachgeforscht, sodass Theophilus sich von der Zuverlässigkeit des von Augenzeugen Berichteten überzeugen kann (Lk 1,1-4). Erlemann erläutert seine Einschätzung: „Die Evangelien sind keine Tatsachenberichte, sondern Glaubenszeugnisse. Gleichwohl ist die Annahme einer Wundertätigkeit Jesu plausibel. Sie erklärt stimmig die daraus entstandene Wirkungsgeschichte inklusive Christus- und Wunderglauben, Jüngerschaft und Kirche. Welche Wunder Jesus im Einzelnen getan hat, lässt sich nicht rekonstruieren.“ (16). Aber Tatsachenberichte und Glaubenszeugnisse müssen einander nicht ausschließen. Joh 20,30f erwähnt, dass Jesus Zeichen tat, und dass diese berichtet wurden, damit die Leser glauben, dass Jesus der Christus ist. Erlemann geht von der Mk-Priorität aus: Mt und Lk übernahmen viele Wundertexte von Mk, wobei sie gelegentlich umgestalteten (208f).

Erlemann wiederholt mehrmals (leider nur kurz) sein Argument, dass das Weiterwirken der christlichen Bewegung es als plausibel erscheinen lässt, dass Jesus tatsächlich Wunder tat. Dieses wichtige Argument würde es verdienen, anschaulicher ausgeführt zu werden.

Manche Einschätzungen kausaler Zusammenhänge bezweifle ich. Erlemann meint: „Wunderglaube ist nicht die Voraussetzung des Gottes- bzw. Christusglaubens, sondern seine folgerichtige Konsequenz.“ (114). Hier sehe ich eher eine Wechselwirkung: Das Erleben von Wundern kann zum Glauben an Christus führen, umgekehrt begünstigt der Glaube an Christus das Erleben von Wundern. Das leere Grab ist m. E. ein Indiz, das dazu beitrug, dass Jesu Jünger von der Auferstehung Jesu überzeugt wurden. Wäre der Leichnam Jesu weiterhin im Grab gelegen, wären seine Jünger kaum zu dieser Überzeugung gekommen. Aber nach Erlemann „begründet die historisch plausible Erfahrung der Osterzeugen den Osterglauben und die Rede vom leeren Grab!“ (82, ähnlich 89). Ich stimme insoweit zu, als die nachösterlichen Begegnungen mit Jesus entscheidend waren für das Entstehen der Überzeugung, dass Jesus auferstanden war. Aber diese Überzeugung produzierte nicht die Rede vom leeren Grab.

„Rationale vs. supranaturale Erklärung“, so stellt Erlemann gegenüber, wobei er die Begriffe „rational“ und „rationalistisch“ gleichbedeutend verwendet (115). Ich würde eher Naturalismus und Supranaturalismus einander gegenüberstellen. Dass sich rationales Denken und Anerkennen von Wundern nicht ausschließen müssen, sagt Erlemann selbst: „Wunder […]  folgen einer eigenen, rational beschreibbaren Logik.“ Aber kurz davor meint er: „Göttliche Eingriffe sind, rationaler Logik folgend, nicht erklärbar und daher unglaubwürdig.“

Bei der Heilung der Schwiegermutter des Petrus, die hohes Fieber hatte, wird kein Dämon erwähnt, wie das bei den Dämonenaustreibungen der Fall ist; dennoch meint Erlemann: „Fieber und Epilepsie gelten als Dämonenbefall.“ (71). Aber Jesus berührte die Hand der Kranken (Mk 1,31), wogegen er bei Besessenen konsequent jede Berührung vermied.

Der „Serviceteil“ (= Anhang) verzeichnet u. a. Schlagwörter, Textstellen und ntl. Wundertexte. Es werden dabei jedoch keine Seitenzahlen angegeben, sondern Kapitel-Nummern; das Auffinden der jeweiligen Stelle ist dadurch etwas mühsam. Die Belege in den Fußnoten geben nur Autor und Jahr (und Seitenzahl) an, ohne Kurztitel. Selbst wenn der Leser einzelne Bücher eines genannten Autors kennt, weiß er aufgrund der Jahreszahl meist nicht, um welches Buch es sich handelt; er muss erst bei den Literaturangaben hinten nachschlagen.

Das Buch von Kurt Erlemann bietet eine Zusammenstellung zahlreicher Aspekte zum Thema „Wunder“ aus vielen Wissensgebieten, und vermag dadurch den Horizont des Lesers stark zu erweitern. Seine Analysen fordern an wesentlichen Stellen meinen Widerspruch heraus, so etwa bei seinen Vorbehalten gegenüber dem Bejahen der Historizität der Berichte der Evangelien.


Dr. Franz Graf-Stuhlhofer BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik