Neues Testament

Jens Herzer: Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus

Jens Herzer: Die Pastoralbriefe und das Vermächtnis des Paulus. Studien zu den Briefen an Timotheus und Titus, Hg. Jan Quenstedt, WUNT 476, Tübingen: Mohr Siebeck, 2022, 563 S., € 159,–, ISBN 978-3-16-154313-5


Seit Jens Herzer, Professor für Neues Testament an der Universität Leipzig, vor etwa 20 Jahren begonnen hat, sich intensiver mit den Pastoralbriefen zu befassen, widerspricht er mit gleichbleibender Konsequenz der in der deutschen und internationalen Fachwelt etablierten Mehrheitsmeinung, diese drei Briefe könnten nicht von Paulus verfasst worden sein. Unter Verweis auf die „Third Quest“ in der Jesusforschung und die „New Perspective“ in der Paulusforschung plädiert er dafür, auch im Blick auf die Pastoralbriefe einen Paradigmenwechsel zu vollziehen (62). Offensichtlich teilt er die von ihm zitierte Überzeugung des amerikanischen Neutestamentlers Luke Timothy Johnsons, es gebe in der neutestamentlichen Echtheitskritik eine „große und rätselhafte Kluft zwischen der massiven sozialen Realität des derzeitigen wissenschaftlichen Konsenses und der Qualität der Methoden und Argumente, mit denen er vermeintlich gestützt wird“ (23). H.s von der Mehrheitsmeinung unabhängige Arbeit an den Pastoralbriefen hat ihn zu drei markanten Überzeugungen geführt.

(1) Seine echtheitskritische Kernthese lautet, die drei Pastoralbriefe bildeten kein Corpus Pastorale, das von nur einem Autor stamme. Diese Annahme habe sich „als Holzweg, um nicht zu sagen als Mythos erwiesen“ (91). Die Pastoralbriefe seien weder gemeinsam literarisch echt (gegen L. T. Johnson) noch gemeinsam literarisch unecht (gegen P. Trummer). Während der 1. Timotheusbrief nachpaulinisch sei, seien der 2. Timotheusbrief und der Titusbrief von Paulus verfasst worden. Mit diesem Ergebnis kehrt H. zu einer These zurück, mit der vor über 200 Jahren die deutschsprachige Echtheitskritik an den Pastoralbriefen begonnen hatte. Friedrich Schleiermacher bestritt 1807 lediglich die literarische Echtheit des 1. Timotheusbriefs und hielt den 2. Timotheusbrief und den Titusbrief für paulinisch.

In mehreren seiner Aufsätze arbeitet H. heraus, wie stark sich der nachpaulinische 1Tim in seiner Ekklesiologie, seiner Gegnerpolemik, seiner Metaphorik usw. vom 2Tim und vom Tit unterscheidet. Die beiden echten Pastoralbriefe lassen sich nach H. nicht (mit Eusebius und vielen späteren Exegeten) in eine zweite römische Gefangenschaft bzw. auf einer zwischen zwei römischen Gefangenschaften erfolgten Spanienreise datieren. Für diese Ereignisse gebe es keine ausreichende historische Evidenz (85, 208). Der Titusbrief dürfte auf der von Lukas berichteten Romreise des Paulus entstanden sein (90–91) und der 2. Timotheusbrief in der in Act 28 erwähnten einzigen römischen Gefangenschaft (189–191).

(2) Wer echtheitskritische Urteile über antike Schriften fällt, sieht sich unweigerlich mit der Frage konfrontiert, ob die Verfasserangaben der als pseudepigraph eingestuften Texte transparente und darum täuschungsfreie Fiktionen waren oder ob die Autoren ihre Leser belügen wollten und es sich bei ihren Texten daher um literarische Fälschungen handelt. Auch auf diese Frage gibt H. eine differenzierte Antwort. Einerseits betont er – gegen Udo Schnelle, Ruben Zimmermann und andere (33–34) – pseudepigraphe Paulusbriefe seien „der literarischen Fälschung mit einer auch im Altertum negativ beurteilten Täuschungsabsicht zuzuordnen“ (11–12). Andererseits vertritt er – gegen Marco Frenschkowski, Bart Ehrman und andere – die Meinung, neutestamentliche Pseudepigraphie könne nicht „pauschal … als Fälschung bezeichnet werden“ (37). Denn Schulpseudepigraphen seien ohne Täuschungsabsicht verfasst worden (65).

Im Blick auf die Pastoralbriefe heißt das: Nur Tit und 2Tim müssten, falls sie nachpaulinisch wären, als literarische Fälschungen gedeutet werden. Der tatsächlich nachpaulinische 1Tim dagegen kann (wie der nachpaulinische Epheserbrief) als Schulpseudepigraphon ohne Täuschungsabsicht angesehen werden (65–66). Beim pseudepigraphen 1Tim handle es sich somit um eine „legitime Form der Paulusrezeption“ (4–5). Auch an dieser Stelle nimmt H. eine These Friedrich Schleiermachers auf, der geurteilt hatte, dass die falsche Verfasserangabe des 1Tim nicht als „absichtliches Irreleiten“ gemeint gewesen sei. H. räumt jedoch ein: Wie ein nachpaulinischer Paulusbrief „als pseudepigraphische Fiktion rezeptionstheoretisch funktionieren sollte, ist nach wie vor unklar und bisher nicht plausibel gemacht worden“ (63).

(3) Wer als christlicher Exeget biblischer Texte auch die Kanonfrage stellt, muss entscheiden, wie sich Pseudepigraphie und die Zugehörigkeit zum Neuen Testament zueinander verhalten. H. ist der Ansicht, bei der Beurteilung literarischer Fälschungen dürfe „die ‚moralische‘ Frage nicht als irrelevant erklärt werden“ (65). Darum seien im Blick auf literarische Fälschungen kanonkritische Erwägungen nur konsequent (12). Weil 1Tim keine literarische Fälschung, sondern eine pseudepigraphe Fiktion sei, stelle die falsche Verfasserangabe die Kanonizität nicht in Frage. Wären dagegen Tit und 2Tim pseudepigraph und damit literarische Fälschungen, würde ihre Kanonizität „auf einem Irrtum beruhen, der durch ‚raffinierte Täuschung‘ verursacht und durch die neuzeitliche Kritik aufgedeckt worden wäre“ (67). Auch an diesem Punkt stimmt H. mit Schleiermacher überein, der geurteilt hatte, weil die falsche Verfasserangabe des 1Tim eine transparente und unschuldige Fiktion sei, werde seine „canonische Beschaffenheit“ dadurch nicht in Frage gestellt.

Ich finde H.s Neuansatz zu den Pastoralbriefen erfrischend, anregend und weitgehend überzeugend. Meine wenigen Einwände betreffen lediglich Teilergebnisse.

(1) Ich teile die theologische Überzeugung, dass literarische Fälschungen nicht denselben kanonischen Rang haben können wie literarisch echte Paulusbriefe. Denn ihre Autoren haben ihre Leser mindestens über ihre Identität und theologische Autorität getäuscht und dadurch manipuliert. Daher würde ich literarische Fälschungen als deuterokanonisch oder apokryph einstufen: „der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen“ (Martin Luther). So hat die Christenheit es in den ersten Jahrhunderten gehalten und es gibt keinen Grund, es heute anders zu machen.

Ich teile ebenfalls die Meinung, dass transparente Pseudepigraphen grundsätzlich kanonfähig sind. Die Deutung neutestamentlicher Pseudepigraphen als täuschungsfreie Fiktionen ist darum ein eleganter und theologisch unproblematischer Weg, ihre Kanonzugehörigkeit zu verteidigen.

(2) Ich bin allerdings nicht davon überzeugt, dass es in antiken Ärzte- oder Philosophenschulen als legitim galt, posthum Briefe unter dem Namen des jeweiligen Schulhauptes zu publizieren. Und ich sehe auch nicht, woran die Leser pseudepigrapher Sokrates- oder Platonbriefe erkennen sollten, dass diese nicht von Platon oder Sokrates sein wollten. Soweit ich die antiken Quellen zum Thema kenne, bieten sie keine ausreichende Stütze für die beliebte These von einer täuschungsfreien Schulpseudepigraphie. Darum bin ich auch nicht davon überzeugt, dass es sich beim 1. Timotheusbrief, falls er nachpaulinisch ist, um ein unschuldiges Pseudepigraphon handelt. Er wäre genauso als literarische Fälschung einzustufen wie 2Tim und Tit.

(3) Meines Erachtens sind sich die drei Pastoralbriefe so ähnlich, dass sie nur gemeinsam echt oder unecht sein können. Damit bestreite ich nicht, dass es zwischen den beiden Timotheusbriefen auch erhebliche Unterschiede gibt; aber gibt es entsprechende Unterschiede nicht auch zwischen den allgemein als echt anerkannten Paulinen?

Wichtiger als diese kritischen Rückfragen ist aber etwas anderes: Dass H. als deutscher Universitätsprofessor für Neues Testament in hoffentlich nicht allzu ferner Zukunft in der Reihe ThHK einen wissenschaftlichen Kommentar zu den Pastoralbriefen vorlegen wird, in dem er nach allen Regeln der Kunst die gut begründete Meinung vertritt, zwei der drei Pastoralbriefe seien paulinisch, ist eine bemerkenswerte Perspektive. Denn in der deutschsprachigen Theologie ist der Verdacht, historische Einwände und Alternativen zu etablierten Echtheitsurteilen seien letztlich dogmatisch begründet, wohl besonders ausgeprägt. Es sieht zwar nicht danach aus, als würde H. mit seinem Paradigmenwechsel in Kürze eine große Anhängerschaft hinter sich versammeln. Aber mir scheint (oder ich hoffe wenigstens), dass jüngere Bibelwissenschaftler in Echtheitsfragen nicht mehr ganz so festgelegt sind wie viele ihrer akademischen Lehrer und einer erneuten Überprüfung der historischen Evidenz offener gegenüberstehen.


Dr. Armin D. Baum, Professor für Neues Testament an der Freien Theologische Hochschule Gießen und an der Evangelische Theologische Faculteit Leuven