Uwe Jochum: In der Mitte der Zeit
Uwe Jochum: In der Mitte der Zeit. Die neue Chronologie des Lebens Jesu, Hildesheim u. a.: Georg Olms Verlag, 2021, Hardcover, 137 S., € 18,30, ISBN 978-3-487-08639-2
Uwe Jochum war Bibliothekar an der Universität Konstanz. Er hat sich in die Zeitumstände des Lebens Jesu intensiv eingearbeitet, und legt hier einen Vorschlag für eine – nicht „die“, wie der Untertitel sagt – neue Chronologie vor. Der „Übersicht“ am Ende des Buches sind die wesentlichen Daten zu entnehmen (127): Demnach wurde Jesus im Winter 7/6 nach (!) Chr. in Bethlehem geboren, und im Jahr 34 gekreuzigt. Das Büchlein hat ein Kleinformat, ähnlich wie Bibelübersetzungen. Im größeren Format der meisten wissenschaftlichen Bücher würde sich eine niedrigere Seitenzahl (etwas mehr als 100 Seiten) ergeben.
Der Titel („Mitte der Zeit“) stellt ein Bekenntnis zum christlichen Glauben dar, denn Jochum erklärt, dass „sich in der Person Jesu Gott selbst der Welt in seinem Wesen zuwandte, so daß alle Zeit der Welt auf diesen Augenblick der göttlichen Zuwendung zuläuft und alle seit dieser Zuwendung vergangene Zeit von ihr her gezählt wird.“ (7).
Jochum hält die Angaben des Lukas für historisch sehr präzise (60), und hebt die „historische Exaktheit des Lukas“ hervor (64). Daher möchte er sich vor allem auf Lukas stützen, tw. auch auf Johannes. Diesen Anspruch erfüllt er nur zum Teil. Die Ankündigung der Geburt des Johannes geschah „zur Zeit von Herodes, dem König von Judäa“ (Luk 1,5). König Herodes starb 4 v. Chr.; Jochum nimmt aber an, dass Lukas mit diesem „König“ eigentlich einen von Herodes‘ Söhnen meinte, nämlich den Ethnarchen Herodes Archelaos. Ihm hatte sein Vater Herodes der Große in seinem Testament den Königstitel zugedacht, so dass er anfangs (d. h. 4 v. Chr.) mitunter als König betrachtet wurde (so auch in Mt 2,22). Aber bei der von Jochum auf etwa 5 n. Chr. datierten Ankündigung der Geburt des Johannes, also gegen Ende der Regierungszeit des Archelaos, war diese anfängliche Unklarheit längst vorbei. Ein anderer der Herodes-Söhne, nämlich der Tetrarch Herodes Antipas, wurde manchmal als „König“ bezeichnet, und zwar von Mt 14,9 und von Mk 6,14. Hier scheint der Begriff „König“ also allgemein für „Herrscher“ zu stehen. Bei Lukas gibt es jedoch kein eindeutiges Beispiel für einen solchen Gebrauch des Begriffs „König“; Lukas ist bei den Amtsbezeichnungen generell sehr genau. Als Gegenbeispiel verweist Jochum (62) auf die Rede des Stephanus, der den „Pharao, den König von Ägypten“, erwähnte (Apg 7,10). Soweit Lukas als Berichterstatter hier (mit)formulierte, so ist seine Bezeichnung aber ganz exakt, denn es handelte sich tatsächlich um den König von Ägypten, der in späterer Zeit zusätzlich noch den Titel „Pharao“ trug.
Dass bei Matthäus die Geburt Jesu am Ende der Zeit des Königs Herodes des Großen, also des Vaters, stattfand, ist für Jochum eindeutig (61). Aber bei Mt sieht Jochum eine „hochgradig theologische“ Erzählabsicht am Werk: Mt wolle Jesus als neuen Moses darstellen (12). Falls das zutrifft, so schließt das aber nicht aus, dass Mt historisch genau berichtete.
Gemäß Jochums Chronologie war Jesus am Beginn seines öffentlichen Wirkens ca. 25 Jahre alt. Nun verweist Jochum selbst auf Luk 3,23, wonach Jesus damals „ungefähr 30 Jahre alt“ war (77, 116f), und räumt ein: „Allerdings wird man kaum geneigt sein, bei einem jungen Menschen von 24, 25 oder 26 Jahren davon zu sprechen, er sei ‚ungefähr dreißig Jahre alt‘ gewesen.“ (117) Für dieses Problem bietet Jochum verschiedene, m. E. unbefriedigende Erklärungen. Dagegen würde eine traditionelle Chronologie – Jesu Geburt um 5 v. Chr., Beginn seines öffentlichen Wirkens im Jahr 27 n. Chr. – zu dieser Angabe des Lukas gut passen (eine ausführliche Begründung einer solchen Chronologie bietet der Theologe und Mathematiker Neidhart: www.ludwig-neidhart.de/Downloads/AlsDieZeit.pdf).
Jochum verliert sich argumentativ in manche nebensächliche Seitenzweige; so meint er etwa kritisierend, dass „wir uns den charismatischen Jesus als einen reifen Mann denken“ (116) und deshalb uns gegen die Vorstellung wehren, dass Jesus am Beginn seines öffentlichen Wirkens erst 25 Jahre alt war (und nicht schon 30 Jahre). Aber so groß ist dieser Unterschied von 5 Jahren nicht. Daher sind Jochums Vergleichsbeispiele aus der Geschichte unerheblich; er verweist z. B. darauf, dass Napoleon den Italienfeldzug schon im Alter von 27 Jahren unternahm. Ich würde die Reden und Taten Jesu weder einem 25-jährigen noch einem 30-jährigen Menschen zutrauen; aber wenn es sich um den Sohn Gottes handelt, so ist der menschliche Altersunterschied von 5 Jahren kaum bedeutsam.
Die von Jochum kritisierte traditionelle konservative Datierung hat tatsächlich zwei Schwierigkeiten – diese will Jochum durch seine alternative Chronologie überwinden: Erstens die von Kaiser Augustus angeordnete Volkszählung (Luk 2,1); ein Erklärungsversuch besteht darin, prote als Adverb zu verstehen: Demnach geschah sie, bevor Quirinius als Statthalter ebenfalls eine solche durchführte. Zweitens die Angabe, dass Johannes der Täufer im 15. Jahr der „Hegemonie“ von Kaiser Tiberius aufzutreten begann, als Pontius Pilatus das Hegemon-Amt in Judäa ausübte (Luk 3,1); ein Erklärungsversuch: Es wurde vom Jahr 12 n. Chr. weg gerechnet, als Tiberius Mitregent wurde. Diese beiden Schwierigkeiten vermeidet Jochum durch seine Alternative, aber dabei entstehen andere Schwierigkeiten, indem Jochum Aussagen des von ihm so geschätzten Lukas als ungenau hinstellen muss.
Fazit: Uwe Jochum hat einen eigenen chronologischen Entwurf (6/7 n. Chr. – 34 n. Chr.) sorgfältig ausgearbeitet. Er breitet die einzelnen Indizien kenntnisreich aus, wodurch der Leser zu einem intensiveren Eindringen in die Quellenlage geführt wird. Jochum orientiert sich primär am Lukas-Evangelium. Für seinen Entwurf muss er jedoch die Aussagen des Lukas zum Teil abschwächen sowie die Kindheitsgeschichte des Matthäus als unhistorisch beurteilen.
Dr. Franz Graf-Stuhlhofer BSc, Lehrbeauftragter an der KPH Wien/Krems für Kirchengeschichte und Dogmatik