Markus Tiwald / Jürgen K. Zangenberg (Hg.): Early Christian Encounters with Town and Countryside
Markus Tiwald / Jürgen K. Zangenberg (Hg.): Early Christian Encounters with Town and Countryside: Essays on the Urban and Rural Worlds of Early Christianity, NTOA/SUNT 126, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, Hb., 415 S., € 130,–, ISBN 978-3-525-56494-3
Dieser Sammelband fragt nach dem sozialen Kontext des entstehenden Christentums und dem Einfluss dieses Kontextes, ob städtisch oder ländlich geprägt, auf Identität und Entwicklung. Wie ist zu erklären, dass Jesus und seine ersten Nachfolger nach den Evangelien vorwiegend in den ländlichen Gegenden Galiläas und Judäas gewirkt haben und seine späteren Nachfolger im östlichen Mittelmeer zumindest auf den ersten Blick und nach den erhaltenen Quellen hauptsächlich in Städten zu finden waren? Die Herausgeber skizzieren ihren Fokus wie folgt:
„This collection of essays deals with Christians in their various urban and rural environments, social worlds that they shared and struggled over with their non-Christian compatriots. By taking such an approach, this book aims to contribute to a broader scholarly debate that puts the social conditions and cultural contexts of local communities into the focus of attention. Early Christians did not exist outside or beyond such socio-historical milieus, just because their belief system and religious practices (partly!) differed, they were – with all their non-conformism – part of their rural and urban environments, so that their convictions and practices needed to relate to them. To a large extent, the diversity of regional, local and social milieu s provided the basis for the socio-historical and ideological diversity of early Christians“ (9).
In ihrem einführenden Aufsatz „Early Christian Encounters with Town and Countryside: An Introduction to Essays on Urban and Rural Structures of Early Christianity“ (9–19), führen Markus Tiwald und Jürgen K. Zangenberg knapp in das Thema ein und stellen die einzelnen Beiträge knapp vor.
Der erste Teil, „Town“ and „Countryside“ – Complement or Contrast? Methodological Reflections“, bietet methodische Reflektionen über die in der Forschung verbreiteten und zugleich oft unzureichend reflektierten Konzepte und Begriffe von Stadt und Land in der Antike. Er besteht aus drei Beiträgen. Frits Gerard Naerebout fragt „‚Urban‘ and ‚Rural‘ in Early Christianity: Opposition or Complement?“ (21–41; Überblick über die verbreitete Hypothese, dass des frühe Christentum weitgehend urban bestimmt war; Kritik an dieser Hypothese angesichts der demografischen Fakten der antiken Welt nach denen etwa 85 % der Bewohner des röm. Reichs auf dem Land lebten – „a sizable part of the early Christian communities were indeed living in a rural environment“, 37; Kritik and der scharfen Trennung zwischen städtischem und ländlichem Raum sowie am Konstrukt eine spezifisch „urbanen Religion“ –„urban and rural living conditions and mentalities were complementary rather than in opposition to each other“, 11; die Trennung von Stadt und Land in antiken Quellen und Hinweise in antiken Quellen auf Christusgläubige in ländlichen Gebieten). Naerebout schließt:
„There are no reasons to think that such Christians as lived in this rural environment held convictions and beliefs widely different from those established in cities, considering the fact that the divide between town and country that we tend to assume was in fact non-existent. Despite ideological Claims for the superiority of urban or of rural living, for the big majority of (small) towns, living conditions and mentalities of town dwellers and country dwellers were quite similar. Town and country should be considered complimentary rather than in any way opposed to each other. … Not only is there little proof for a specific urban or rural Christianity, but there is also nothing to show that all important developments within early Christianity were instigated, enabled or influenced by an urban environment. Consequently, we should also refrain from considering the rural environment as merely the soil for aberrant movements“ (37–38).
Reinhard von Bendemann beleuchtet „Interrelations between Urbanity and Rurality“ (43–62; Forschungsüberblick, althistorischer Befund, die Komplementarität von Stadt/Urbanität und Land/Landschaft und die Bedeutung dieser komplementären Beziehungen für die Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums und ihre hermeneutische Bedeutung für die Literatur des frühen Christentums).
Im umfangreichen Aufsatz „Das frühe Christentum und die Stadt: Methodisch-hermeneutische Grundsatzfragen und exemplarische Analysen“ (63–110) widmet sich Martin Ebner methodisch-hermeneutischen Grundsatzfragen (christliche Gemeinden in Städten des Imperium Romanum als empirisches Faktum, die Gattung „Stadt“ und historische Veränderungen, Gottes Herrschaft im Imperium Romanum) und exemplarischen Einzelanalysen: römische Territorialstruktur und die „Mental Map“ des Paulus; die Ordnung im Theater und die paulinische Gemeindeordnung in der Ekklesia; Partizipation an Entscheidungsprozessen; ein reguliertes Verhältnis mit Rom und die Stellung des pater familias; die auf die Erde niedersteigende Gottesstadt in Offb 21,1–22,5). Nach Ebner waren die großen Städte des Imperium Romanum ein wichtiger Kontext für die frühchristlichen Gemeinden. „Sie zu kennen lässt in neutestamentlichen Texten spezifische Akzentsetzungen erkennen, die für den Anfang prägend gewesen sind“ (102). Die Herausgeber fassen das Ergebnis so zusammen:
„In much of Paul’s activity and organisation, cities and elements of urban lifestyle and customs did play a crucial role, either as constructive models that Paul creatively adapted or simply imitated, or as habits that he thought needed to be overcome or transcended by the local congregation of his fellow believers. Especially political institutions like the ecclesia with its ideals of participation and status were of utmost importance. … Ebner demonstrates how much the great urban centres of the Roman empire remained an important source of inspiration for early Christian communities, even in cases where some protagonists rejected urban life and ideals“ (11).
In Teil zwei beleuchten vier Beiträge das Verhältnis von Stadt und Land im Wirken Jesu und in den Evangelien. Jodi Magness fragt „How Romanized Was Galilee in the Time of Jesus?“ (113–128; Sepphoris, Tiberias, Magdala und Gamla als städtische Monumente aus früher römischer Zeit; die Bedeutung der Innenausstattung von Häusern und die geografische Herkunft von Töpferwaren als Indikatoren einer weitgehenden Romanisierung auch in ländlichen Gebieten; „this review attests to unexpected Roman influence on the Galilean Jewish population. This does not resolve the debate about whether Jesus’ outlook reflects the impact of philosophical schools of thought such as the Cynics, but it does shed new light on the context in which he lived and preached“, 124).
In seinem Aufsatz „Walking along the Lakeshore (Mt 4:18): Observations on Jesus the Jew Traveling through a Changing Galilee“ (129–147) stellt Jürgen K. Zangenberg die Quellenlage vor und skizziert grundlegende Merkmale des kulturellen Profils der galiläischen Heimat Jesu, wie etwa die Abhängigkeit und Verbindungen Galiläas mit anderen Regionen sowie den Prozess der Hellenisierung und dessen unterschiedliche lokale Ausprägung. Dem folgen Beobachtungen zum Siedlungsmuster in Galiläa (Dörfer und ländliches Leben, kleinere Städte wie Gamla, Iotapata und Kapernaum, größere Städte) und zur Verortung Jesu in diesen Kontext. Zangenberg fragt zu Recht: „How much urban culture was Jesus really able to avoid in a Galilee where town and countryside we so close to each other and so heavily interconnected?“ (13) und schließt: Jesus „moved within a dynamic world sandwiched between the Mediterranean and the Decapolis, a world with a distinct Jewish urban flavour, integrated into different geographical, economic and cultural frameworks that sometimes overlapped, sometimes collaborated and sometimes clashed with each other“ (145).
Im Aufsatz „The Rural Roots of the Jesus Movement and the ‚Galilean Silence‘“ (149–175), fragt Markus Tiwald warum wichtige Städte in Galiläa in den Evangelien nicht als Wirkungsorte Jesu erscheinen. Er beschreibt Sepphoris, Tiberias und Magdala (und im Gegensatz dazu, Kapernaum) zur Zeit Jesu und diskutiert mögliche Erklärungen für die geografischen Präferenzen Jesu (liegt es an der Selektivität der Quellen, politischem Druck, kulturellen Gräben, Schwierigkeiten in der Verständigung in Sachen Lebenstil, Sprache, urbanen Dimensionen im Gegensatz zum sonstigen Wirken Jesu, der kurzen Dauer des öffentlichen Wirkens Jesu und/oder der Berücksichtigung von Orten mit jüd. Diaspora?). Der geografische Radius Jesu „might be understood as a deliberate prophetic statement for God’s advocacy for the poor: Jesus’ world is the world of the marginalised losers (small farmers, fishermen, craftsmen, lepers, prostitutes). He deliberately disregards the wider focus of Jewish city life and the socially upwardly mobile milieus of those who succeeded in harmonising Jewish and Hellenistic life“ (13). Tiwald rechnet mit einem ländlichen „Nachglühen“ in Galiläa zwischen der Himmelfahrt Jesu und dem Ausbruch des ersten jüdischen Krieges und einem weitgehenden Fehlen von Christen in Galiläa nach 135 n. Chr.
Von Gerd Theißen stammt der Beitrag „The Transition from Countryside to City: A Transformation of Christianity in its Beginnings?“ (177–191). Darin skizziert er die äußere Ausbreitung des frühen Christentums in Stadt und Land, beginnend mit der Ausbreitung von den ländlichen Gebieten her in die Städte, über die Verbreitung von Stadt zu Stadt und die spätere Ausbereitung von städtischen Zentren zurück in ländliche Gebiete. Dann analysiert Theißen die inneren Transformationsprozesse, denen das frühe Christentum in Städten ausgesetzt war. Themen sind die soziale Mystik des Paulus und die Sakralisierung antiken Vereinslebens, die hohe Christologie des Paulus als Tor zu einer multireligiösen Gesellschaft sowie die Kombination von Askese und Ehe im komplementären Familienethos des Paulus. Diese Faktoren haben zur Attraktivität des entstehenden Christentums beigetragen. Für die ersten Nachfolger Jesu gilt: „The considerable ease with which early Jesus followers transgressed geographical, cultural and social boundaries, and their flexibility to adapt to various worlds and milieus certainly also paved the ground for Paul’s later missionary work“ (14).
Zwei Aufsätze gelten der Fragestellung im paulinischen Christentum: Bert Jan Lietaert Peerbolte skizziert das „Pauline Christianity as an Urban Phenomenon“ (195–209; Lebensverhältnisse und sozio-ökonomische Verortung, verschiedene soziale Modelle für die Gemeinden, Kontinuität in Ritual, Gottesdienst und Bildung, Hinweise auf die Entwicklung in ländlichen Gebieten). Im Aufsatz „Early Christians in the Lycus Valley“ (211–229) bietet Lukas Bormann einen Forschungsüberblick, beschreibt das Städtedreieck zwischen Herapolis, Laodizäa und Kolossä, das Verhältnis der Städte zum Kolosserbrief und Philemonbrief, analysiert die erwähnten Namen und Leute sowie Ethnizität, Sprachen und Gesetzgebung in diesem Gebiet. Bormann schließt:
„We find evidence for a lively exchange between both Ephesus and the Lycus Valley cities and between the three cities themselves. The territories of the three cities stood side by side with each other and formed a triangle of cities. Although the notion of competition between the three cities, the famous Greek idea of agon, was prevalent among the urban elite, the urban non-elite may not have been affected too much by such an attitude. The mention of Christians from Colossae, Laodicea, and Hierapolis in Col, combined with the evidence of two house-churches in the triangle cities, at least points to the fact that competition was not important for the members of these Christian communities, but that their relationship was characterized by collaboration and exchange“ (225).
Dem folgen in Teil vier fünf Aufsätze zu Stadt und Land im frühchristlichen Kontext im 1. und 2. Jhdt.
Jörg Frey fragt „Urbanity in the Gospel of John?“ (233–250; Ephesus und die Asia als der traditionelle Kontext des sog. joh. Kreises; das Verhältnis von Land und städtischem Zentrum in der joh. Erzählung; das intellektuelle Milieu, das im JhEv repräsentiert und zugleich vorausgesetzt wird). Tobias Nicklas und Luigi Walt erwägen „Anti-Urban Sentiments in Early Christianity? Revelation and the Ascension of Isaiah“ (251–267; die große Hure Babylon und das Volk Gottes; der Blick von außen auf antike Städte). Die Kritik an Rom gilt nicht Rom qua Stadt, sondern ihrer falschen Anbetung:
„These wrong forms of worship, which lead away from the real ruler of this world – i. e., the God of Israel and his Son, the Son of Man, the Lamb and Lion of Judah ruling on the heavenly throne (Rev 4:5) – are connected to special forms of life which can often be found in cities. Of course, Revelation takes cities with their temples and their different forms of trade to be especially dangerous, but even in chapter 12 it does not develop the idea that the desert could per se be a place for believers to withdraw from the evil powers of Satan. Moreover, its „new creation“ is not simply described as a new Garden of Eden, but a heavenly Jerusalem“ (263).
Markus Öhler untersucht „Pliny and the Expansion of Christianity in Cities and Rural Areas of Pontus et Bithynia“ (269–297). Von Karen P. S. Janssen stammt der Beitrag „‚All Turned on Us Like Beasts‘: Legal Negotiation and the Persecution of Lyon and Vienne“ (299–319, „this gruesome event documents both the level to which Christians had become part of urban culture in the late 2nd c. and how much Christians were still perceived as outsiders by their fellow inhabitants, could be marginalized and even targeted as scape goats by an aggressive mob“, 16). Heidrun E. Mader steuert „‚Bigger Than a Little One‘: Rural Christianity in Asia Minor, Second Century CE“ (321–334) bei.
Drei abschließende Beiträge geltem dem Themen im nichtchristlichen antiken Kontext: Daniel Schowalter, „Gods in the Neighbourhood: Proximate Religion in the Roman Empire“ (337–363; Götterbilder und ihre Verehrung waren nicht auf bestimmte Bezirke antiker Städte beschränkt, sondern im gesamten Stadtgebiet präsent, sondern dass man ihnen nicht ausweichen konnte); Günter Stemberger, „The Urban World of Rabbis in post-Bar Kochba Palestine“ (365–376) und Ze’ev Weiss, “Urban and Rural Synagogues in Late Antique Palestine: Is there That Much of a Difference between Them?“ (377–396; Diskussion der Architektur, Ausrichtung Richtung Jerusalem und liturgische Ausstattung sowie die Motivauswahl auf den entdeckten Mosaiken). Der anregende, solide recherchierte Band schließt mit mehreren Registern.
Der Band hätte von einem Beitrag der Apostelgeschichte zu diesem Themenkomplex profitiert, da sie neben vielen Städten auch von dem Weg des Evangeliums in ländlichen Gegenden berichtet. Neben dem Blick auf die antiken Großstädte im östlichen Mittelmeerraum wäre auch zu fragen, welche Bedeutung, und vielleicht auch prägende Kraft, Jerusalem für die Entwicklung des entstehenden Christentums hatte, zumal es Hinweise gibt, dass die Stadt und ihre Gemeinde auch später ein wichtiger Bezugspunkt blieb. Angesichts der religionswissenschaftlichen und religionshistorischen neueren Diskussion zum Ansatz der sog. urban religion (vgl. etwa Asuman Lätzer-Lasar, Emiliano Rubens Urciuoli (Hrsg.), Urban Religion in Late Antiquity, RVV 76, Berlin, Boston: De Gruyter, 2021) hätte man sich einen eigenen Beitrag zu diesem Thema gewünscht.
Prof. Dr. Christoph Stenschke, Biblisch-Theologische Akademie Wiedenest und Department of Biblical and Ancient Studies University of South Africa