Michael Theobald: Der Prozess Jesu
Michael Theobald: Der Prozess Jesu. Geschichte und Theologie der Passionserzählungen, WUNT 486, Tübingen: Mohr Siebeck, 2022, 906 S., € 209,–, ISBN 978-3-16-161610-5
Michael Theobald (Tübingen) beginnt das Mammutwerk mit folgender Feststellung: „Die Neutestamentliche Wissenschaft kennt kaum ein Thema, das seit Jahrzehnten so intensiv und leidenschaftlich behandelt wird wie der Prozess Jesu“ (1). Somit ist für Theobald die Zeit gekommen, „Bilanz zu ziehen“, was „hier geschehen“ soll (Vorwort). Dabei lassen der Untertitel und die ersten Fragen im Vorwort vermuten, dass es Theobald vor allem um die „Geschichte“ des Prozesses Jesu geht. Doch die Antwort von Theobald steht schon am Anfang fest: „Aufschluss über die letzten Tage Jesu versprechen die neutestamentlichen Passions- und Ostererzählungen. Aber sie sind keine historischen Berichte, sondern Glaubenstexte. Bereits die älteste, wohl in den vierziger Jahren nach Jesu Tod in Jerusalem entstandene Erzählung, auf der die Evangelien fußen, ist ein theologisches Konstrukt auf der Basis des Alten Testamentes“ (Vorwort).
Diese Thematik wird unter der Überschrift „Hinführung“ (4–43) weiter erläutert. Dabei wird betont, dass sich die Exegese, wenn sie „die Evangelien auf ihren geschichtlichen Bezug hin überprüft, den diese selbst behaupten, … unter den Bedingungen der Moderne anerkannter wissenschaftstheoretischer Standards der Geschichtswissenschaft zu bedienen hat. Auch für sie gilt das Analogie-Prinzip … Mit einem göttlichen Eingriff in die Geschichte unter Aufhebung von Zweitursachen rechnet sie nicht“ (8). Im Folgenden geht es auch um die Frage, wie weit der „messianische“ Selbstanspruch Jesu reicht (9ff) und wer für den Tod Jesu verantwortlich sei (17ff). Schlussendlich erläutert Theobald nochmals, worum es ihm in der Studie geht: „Die Studie verfolgt ein doppeltes Ziel. Sie analysiert die vier kanonischen Passionserzählungen (PE) jeweils synchron, um ihr literarisches und theologisches Profil wie ihren literargeschichtlichen Zusammenhang zu erhellen. Sodann versucht wie, soweit möglich, ihre Genese bis zu ihrem Ursprung zu verfolgen, dem Archetyp der kanonischen Passionserzählungen. Synchrone und diachrone Fragestellungen werden gemäß dem komplexen Textbefund als sich ergänzende, nicht ausschließende Perspektiven begriffen“ (38).
Der erste Hauptteil der Monografie trägt die Überschrift „Die Quellen. Ihre Beschaffenheit und Herkunft im Horizont antiker Literatur“ (46–212). Dabei geht es u. a. um die Struktur der „vier kanonischen Passionserzählungen“ bzw. der „Passionserzählungen der vier kanonisch gewordenen Evangelien“ (46ff). Theobald führt aus, welche Rolle die „Schrift Israels, die Matrix der Passionserzählungen“, in den entsprechenden Evangelientexten spielt (55ff) – z. B. Ps 22 (63ff), wobei Theobald u. a. auch auf Justin, Dial 97,3 und Dial 106,1f sowie auf Weish 1,16–224 und 4,20–5,23 eingeht. Im Anschluss daran unterscheidet Theobald zwischen „primärer und sekundärer Intention der Passionserzählungen“ (86ff). „Die primäre Intension der Erzählungen ist es, den Kreuzestod Jesu mit sinnstiftendem Bezug zur Hörerschaft christologisch aufzuarbeiten“, während „sekundäre Intensionen … sich erst im Lauf ihrer Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte zeigen bzw. sich an sie heften“ (86).
Unter der Überschrift „Auf dem Weg zu einem integrativen literargenetischen Modell“ werden auf S. 90ff verschiedene Modelle gezeichnet und erläutert. Theobald folgert, dass Lukas und Johannes „auf einer gemeinsamen Passions- und Osterüberlieferung“ fußen, „die sie eingeständig weiterentwickelt haben“ (95). Den Grund für den „Widerspruch zwischen den Synoptikern und Johannes in der Passionschronologie“ sieht Theobald darin, dass „der älteste Evangelist“ (Markus), dem „die beiden anderen Synoptiker“ folgten, „die frühchristliche Paschafeier als Nacht des Gedenkens an den Tod Jesu in seine Passionserzählung zurückprojiziert hat … Lukas, auf narrative Plausibilität bedacht, ist diesen Weg konsequent weitergegangen“ (120; vgl. auch 176, wo „beide Darstellungen“ [von Markus und Johannes] als „theologische Konstrukte“ bezeichnet werden). Es folgen jüdische und pagane Erzählungen über den „Tod berühmter Männer“ aus der Zeit vom 5. Jh. v. Chr. bis zum 2. Jh. n. Chr., die mit den biblischen Darstellungen des Prozesses Jesu verglichen werden (126ff). Dabei geht es auch um griechische Gerichtsprotokolle (145ff).
Der zweite Hauptteil des Werkes trägt die Überschrift „Die älteste Passionserzählung im Spiegel ihrer kanonischen Rezeption“ (213–527). Das Ziel dabei ist „eine Rekonstruktion des Archetyps der kanonischen Passions- und Ostererzählungen (PEG) entsprechend dem Modell, das in Teil I entwickelt wurde“, wobei Theobald betont, dass es einen „legendenfreien“ Bericht „nie gegeben“ habe, und entsprechend geht es ihm auch nicht darum, einen solchen zu erstellen (213). Es folgen ausführliche Vergleiche und Untersuchungen zu den vier Evangelien – angefangen vom Einzug Jesu in Jerusalem –, um festzustellen, wie der Text von PEG gelautet haben könnte.
In einem Exkurs geht Theobald auf die „Bezeichnung der Gegner Jesu in den Passionserzählungen“ ein (267–269). Er stellt fest: „Wenn Matthäus und Johannes Pharisäer den damals im Verfahren gegen Jesu Verantwortlichen hinzurechnen (Mt 27,62; Joh 11,46f.57; 18,3), entspricht dies der Situation nach 70, da jetzt nach und nach ‚die sogenannten Pharisäer die Führungsrolle im Rahmen einer neu aufkeimenden jüdischen Selbstverwaltung‘ übernahmen [so mit Maier, Leidensgeschichte, 282]. Die PEG nennt sie nicht, auch nicht die anderen alten Fassungen der PE (einschließlich Mk und Lk). Im Verfahren gegen Jesus werden sie keine Rolle gespielt haben“ (269). Wenige Seiten später betont Theobald hingegen, dass Johannes „an zweiter Stelle die ‚Pharisäer‘ nennt (11,47.57), die in den kanonischen Passionserzählungen sonst keine Rolle spielen. ‚Selbst im Matthäusevangelium, wo die Pharisäer meist als Hauptgegner Jesu auftreten, kommen sie in der Passionsgeschichte nur ganz am Rande vor (Mt 27,62; vgl. 21,45).“ (274f).
Zu beachten ist dabei, dass es zumindest später in pharisäisch-rabbinischer Tradition ausdrücklich verboten war, „eine Seele aus Israel“ an einen Nichtjuden auszuliefern (vgl. jTer 46b). Somit ist historisch verständlich, warum sich die Pharisäer in Bezug auf die Anklage Jesu vor Pilatus zurückgehalten haben – kein Evangelist bringt etwas anderes zum Ausdruck. Erst nach dem Tod Jesu mischen sie sich wieder in das Geschehen ein (vgl. Mt 27,62ff). Das bedeutet bei weitem nicht, dass sie in dem ganzen Prozess keine Rolle spielten und dass Joh 11,47.57 und Mt 27,62 nicht den historischen Fakten vor 70 n. Chr. entsprechen. Vielmehr spricht das stark für die Glaubwürdigkeit der Evangelienberichte.
In Bezug auf den Prozess Jesu vor dem jüdischen Synhedrion (341ff) stellt Theobald fest, dass Lukas „als Historiker Bedenken trug gegen die von Markus behauptete Versammlungszeit des jüdischen Gremiums in der Nacht“ und die Szene deshalb „neu arrangiert“ habe (359). „Auch bei vergleichbaren Konflikten in der Apostelgeschichte weiß er nur von Sitzungen des Hohen Rats am Morgen. Das entspricht römischer Praxis, aber auch jüdischer, dann nach der Mischna durften Kapitalprozesse nicht des Nachts verhandelt werden“ (ebd.; mit Verweis auf mSanh 4,1 [„Lebensgerichte muss man bei Tag verhandeln und bei Tag entscheiden“] und Seneca, De ira 2,7).
Fakt ist, dass Lk 22,66 (… ἀπήγαγον αὐτὸν εἰς τὸ συνέδριον αὐτῶν) ausdrücklich erwähnt, dass der Prozess Jesu bei Tagesanbruch vom Haus des Hohepriesters – wo nur das kleine Gerichtsgremium von 23 Mitglieder tagen durfte – in das „Rathaus“ – wo das ganze Synhedrion mit allen 71 Mitgliedern tagte – verlegt wurde, was Mt 27,1 („Als es aber Morgen geworden war, hielten alle Hohepriester und Ältesten des Volkes eine Ratsversammlung [συμβούλιον] gegen Jesus, um ihn zu Tode zu bringen“) und Mk 15,1 („Und alsbald/sofort/schnell am frühen Morgen [εὐθὺς πρωΐ] führten die Hohepriester mit den Ältesten und Schriftgelehrten und dem ganzen Synhedrion sogleich eine Ratsversammlung [συμβούλιον] durch, und sie banden Jesus und führten ihn weg und überlieferten ihn dem Pilatus.“) offensichtlich voraussetzen. Von einem gewissen Verhör Jesu im Haus des Hohepriesters ist bereits in Mt 26,59ff und Mk 14,55ff die Rede, während „das große Sanhedrin Israels“ (mit allen 71 Mitgliedern) seine Ratsversammlungen offiziell im „Rathaus“ bzw. laut mMidd 5,3f in der „Quader-Kammer“ auf dem Tempelberg durchführte. Sicher um dem Prozess Jesu den Anstrich des Rechts zu verleihen, wurde er bei Anbruch des Tages dorthin verlegt, zumal Personengerichte nicht nur am Tag durchgeführt werden sollten, sondern auch nur vom gesamten Synhedrion entschieden werden konnten (vgl. mSanh 1,5). Die Tatsache, dass Personen nicht am selben Tag verurteilt und hingerichtet werden durften (vgl. mSanh 4,1), ist sicher auch Grund dafür, dass man eifrig bestrebt war, Jesus durch Pilatus hinrichten zu lassen. Die Evangelienberichte widersprechen sich somit nicht, sondern bestätigen sich vielmehr gegenseitig. Übrigens zeigt besonders Joh 18,13ff, dass der „Hof“ bzw. „Palast“ des Hannas auch derjenige des Kaiphas war, dass Jesus also das Gebäude nicht verlassen hat, als er von Hannas zu Kaiphas geführt wurde. Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um die Villa, die heute als „Wohl-Museum“ bzw. als „Hannas-Palast“ bekannt ist.
Im dritten Hauptteil (529–726) möchte Theobald eine „historische Re-Konstruktion“ der letzten Tage Jesu erstellen. Zuerst geht er dabei auf die rechtshistorischen Hintergründe des Verfahrens ein. Es wird ausgeführt, was es bedeutete, dass Judäa unter römischer Verwaltung und ein „Annex“ der Provinz Syrien war (531ff), wobei auch die Rechtshoheit des Präfekten ein Thema ist (538ff) und ebenso auch Pontius Pilatus als Präfekt von Judäa (548ff) sowie die „Elite von Jerusalem“ als Führungsgremium der Juden (559ff). In Bezug auf die Machtverteilung zwischen Sadduzäer und Pharisäer betont Theobald, dass die Quellen (Josephus, Neues Testament, tannaitische Literatur) „keine gesicherten Aussagen darüber“ erlaubten, „welche Rolle die beiden ‚Parteien‘ spielten“ (574). Die Domäne der Sadduzäer sei Jerusalem gewesen, wo sie nach Josephus „Ämter“ (ἀρχαί) ausübten, und zwar „das Amt des Hohepriesters und nachgeordnete Ämter“ (575). Ausdrücklich wird von Josephus zwar nur Hannas II., Sohn von Hannas I., als Sadduzäer bezeichnet (Ant 20,199), doch nimmt Theobald (sicher mit Recht) an, „dass die Familie insgesamt der sadduzäischen Richtung angehörte (576).
Im Anschluss daran will Theobald feststellen, „was sich historisch-plausibel über die letzten Tage Jesu sagen lässt“ (601ff), wobei er betont, dass es heikel sei, die letzten Tage und Stunden Jesu historisch rekonstruieren zu wollen (601). „Wenn die älteste Fassung der Passionserzählung, die am Ursprung der Evangelien steht (= PEG), zur Grundlage des historischen Diskurses genommen wird, besteht eine gewisse Aussicht auf Erfolg. Der Einwand, dass diese älteste Fassung nichts anderes sei als ein hypothetisches Konstrukt, das aus literar- und überlieferungskritischen Analysen hervorgegangen sei (Teil II), trifft zu. Aber es gibt keinen anderen Weg als den über die PEG. Die Evangelienproduktion, die erst mehr als vierzig Jahre nach Jesu Tod einsetzt, erlaubt keinen unmittelbaren Absprung in die Geschichte“ (601). Und zwar erlaube PEG „dort einen Blick in die historische Welt, wo Differenzen zwischen ‚harten Fakten‘ und Deutungskontexten aufscheinen. ‚Hartes Faktum‘ ist zweifelsohne der gut bezeugte Kreuzestod Jesu selbst“ (ebd.). Ebenso ist für Theobald die „Spannung zwischen ihrer schriftgesättigten Königstheologie und dem sperrigen titulus [die Inschrift am Kreuz, die ausführlich besprochen wird] … deutliches Indiz seiner Historizität“ (604).
Der vierte und letzte Hauptteil (727–797) steht unter dem Thema „Theologische Perspektiven- Geschichte und Theologie“. Dabei wird Hans Joas einleitend mit folgenden Worten zitiert: „‚Das historische Denken‘ ist kein ‚Angriff auf den Glauben‘, sondern der ‚Königsweg‘ zu seiner ‚Relativierung‘“ (727). Entsprechend fällt auch das Ergebnis der Studie aus. „An den Gekreuzigten als Messias Israels und ‚Herrn‘ der Völker zu glauben, bleibt ein Wagnis. Wer es eingeht, weiß, dass Jesu Leben und Sterben auch andere Deutungen zulassen“ (733).
Diese „kurze“ Beschreibung des Inhalts des Mammutwerkes von Michael Theobald stellt einen Versuch dar, dem Werk gerecht zu werden, damit der Leser dieser Rezension einen sachlichen Einblick bekommt. Das Werk stellt ganz sicher eine große Fleißarbeit dar, aber weniger in historischer als vielmehr in „literarkritischer“ Hinsicht. Obwohl das Werk auch an einigen Abschnitten auf außerbiblische historische Quellen eingeht und versucht, diese für die Exegese konstruktiv zu verwerten, sollten diese – wie oben sichtbar wurde – an einigen Stellen doch genauer berücksichtigt werden. Dabei würde dann wohl auch deutlich werden, dass die historische Exegese schlussendlich viel plausibler ist als solche spekulative Deutung, die gewisse Standpunkte (wie die Markuspriorität und die späte Entstehung der neutestamentlichen Evangelien) voraussetzt, welche ihrerseits hinterfragt werden müssten.
Lukas bezieht sich in seinem Evangelium dem Prolog zufolge auf Ereignisse, „die sich unter uns zugetragen haben“ (Lk 1,1). Und er betont, dass er „alles von Anfang an genau/akribisch erforscht“ hat, damit Theophilus „die Zuverlässigkeit/Sicherheit der Dinge“, in denen er unterrichtet worden ist, genauer kennen lernt (Lk 1,3f). Lukas ist somit nach eigener Aussage ein Zeitgenosse – wenn auch nicht Augenzeuge – des Wirkens und Sterbens Jesu, und sein Bericht geht demnach auf Augenzeugenbefragung zurück. Dabei müssen die „theologischen Deutungen“ der Ereignisse nicht als Widerspruch zu ihrer Geschichtlichkeit betrachtet werden. Wenn Paulus z. B. in 1Kor 15,3f betont, dass Jesus „nach den Schriften“ für „unsere Sünden“ gestorben und auferstanden ist, so kam Paulus nicht durch die Schriftforschung zu der Überzeugung, dass Jesus gestorben und auferstanden sei. Bei dem Schriftbezug geht es vielmehr um die Deutung bzw. um die heilsgeschichtliche Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu. Historische Fakten und „theologische“ Deutung gehören also eng zusammen und ergänzen sich gegenseitig und sollten deshalb gerade in der Bibel-Exegese nicht gegeneinander ausgespielt werden. Und warum es der modernen Wissenschaft entsprechen soll, das „übernatürliche“ Wirken Gottes aus der Bibel zu verbannen, bleibt ein Rätsel. Dass eine solche Theologie „sachlich“ sein kann, ist ausgeschlossen.
Jacob Thiessen, Professor für Neues Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel