Simon Dürr: Paul on the Human Vocation
Simon Dürr: Paul on the Human Vocation. Reason Language in Romans an Ancient Philosophical Tradition, BZNW 226, Berlin/Boston: de Gruyter, 2021, 327 S., € 86,17, ISBN 978-3-11-075063-8
Der Schweizer Simon Dürr legt mit dieser (auch OpenAccess zugänglichen) Arbeit die Resultate seiner an der St. Andrews Universität (Schottland) eingereichten Dissertation vor (Supervisor: N. T. Wright). Ausgangspunkt ist die Frage, weshalb Paulus in Röm 12,1 „Sprache der Vernunft“ (konkret den Ausdruck λογικός) verwendet. Tatsächlich zeigt der Überblick über bisherige Verständnisvorschläge (10–13), die den Begriff mit „vernünftig“, „geistlich“, „echt/wahr“, „kommunizierend/sprechend“ (Reichert) oder „von vernünftigen Gedanken geleitet“ (Scott) übersetzen, dass keine Einigkeit darüber besteht, was unter dem „vernünftigen (?) Gottesdienst“ an dieser Stelle gemeint ist. 2018 hatte Scott in seiner Studie 420 Stellen des TLG mit dem Begriff untersucht, und Dürr meint, dass weder ein rein semantischer noch der traditionsgeschichtliche Ansatz weiterführend ist. Vielmehr schlägt er vor, qualitative Parallelstellen genauer zu untersuchen, insbesondere Stellen bei Epiktet (50 – ca. 138 n. Chr.), welche diskursanalytisch aufzeigen, dass mit dem Ausdruck in antiken (Kon)Texten die Idee einer „Berufung des Menschen“ als „vernünftiges (sterbliches) Lebewesen“ ausgesagt wird. Dieses Verständnis passe sehr gut zu Röm 12,1 im Kontext des ganzen Briefes. Das erste Kap. endet mit Anmerkungen zu den verwendeten Begriffen. Insbesondere wird erklärt, dass „Zeichenproduktion“ (engl. sign production) zwar bei U. Eco (Semiotik) entlehnt ist, damit aber in dieser Arbeit „jede menschliche Aktion, Seinsweisen, Beziehungen, Einstellungen, Worte oder gar Gedanken, welche entweder Auslegung eines grösseren Verstehensrahmens oder ein Ausdruck davon sind“ (18) gemeint sei. Dürr meint, dass der Ausdruck „Zeichenproduktion“ für die paulinische Theologie besser als „Ethik“ oder andere Begriffe die menschliche Tätigkeit umschreibe. Anzumerken ist hier, dass die Verwendung von „Vernunft“ (engl. reason) nicht thematisiert ist.
Kap. 2 (24–90) diskutiert im Gespräch mit Scott ausführlicher die Semantik des Wortes λογικός. Der Ausdruck „vernünftiges Lebewesen“ (ζῷον λογικόν) ist bereits vor Paulus weit verbreitet (urspr. va. bei den Stoikern) und wird sehr oft verwendet, wenn es um den Platz des Menschen – seine Rolle oder Berufung – im Kosmos geht. Dürr meint aufgrund einer Stelle bei Dio Chrysostomus (Or. 36), dass es plausibel sei, dass dieses Verständnis des Menschen als „vernünftiges (sterbliches) Wesen“ Teil des kulturellen Wissens der Welt auch des Paulus und seiner Leser war. – In Kap. 3 (91–133) referiert Dürr eine Menge von Stellen von der frühen griech. Literatur bis zu den Stoikern, die die Bedeutung des Menschen, seines Verstands und insbesondere seiner Rolle in der Welt thematisieren. Die Ausstattung des Menschen mit Verstand gehört in der griech.-röm. philosophischen Tradition zu den zentralen Merkmalen des Menschseins und unterscheidet ihn von anderen Lebewesen.
Eine Stelle des Stoikers Epiktet – Epiktet 1.16.19–21 – wird in Kap. 4 (134–175) besonders ausführlich in ihrem Kontext behandelt. Zentral ist dabei die Aussage in 20g-21a als nach Dürr wichtigster Parallele zu Röm 12,1: „Nun aber, ich bin ein λογικός (Wesen). Und ich muss Gott lobsingen. Das ist mein Werk…“ (21e endet mit: „…und ich ermahne (παρακαλῶ) = lade euch alle ein, mir darin zu folgen.“). – Die hier zu findende, zweiteilige Grundstruktur „Erkenntnis seiner selbst/die Wahrheit (über das Menschsein) sehen darauf angemessen (mit Zeichenproduktion) antworten“ ist verbreitet in antiken Texten, die über die Bedeutung und spezifische Berufung des Menschen im Kosmos sprechen. Dürr findet diese Grundaussage als Strukturmuster nun auch im Römerbrief als einem „Brief über das Menschsein“ (Kap. 5, 176–229). Und zwar in dem für den ersten Teil des Röm zentralen Abschnitt 5,12–21 (s. 5,17), aber auch zu Beginn des Briefes in Röm 1,18–32 (Verfall der wahren Menschlichkeit und impliziert die trad.-philosophische Struktur der Berufung des Menschen). Röm 6 kann gelesen werden als Ausführung über die neue Identität in Christus und die dazu gehörende Berufung (ua. in 6,13 mit παρίσταναι ausgedrückt). Und Röm 8,5–8.17–30 thematisiert die Rolle des Geistes für echtes Menschsein und den kosmischen Horizont der Berufung des Menschen.
In Kap. 6 (230–266) gibt Dürr schließlich auf diesem Hintergrund einer antiken Grundaussage über den Menschen eine neue Erklärung für den Gebrauch von „Sprache der Vernunft“ durch Paulus in Röm 12,1. Dabei ist entscheidend, dass Epiktet 1,16 als wichtigste Parallele für den Gebrauch von λογικός gesehen wird und zwar in dem erarbeiteten Verständnis, dass dort grundlegend von dem wahren Menschsein und der Berufung des Menschen die Rede ist. Die Syntax von 12,1 (1a ist Aufforderung zu einer Handlung, 1b beschreibt die Handlung, 1c ist Kommentar zur Beschreibung der Handlung in 1b) wird exegetisch begründet (m. E. richtig und nachvollziehbar). Die Hingabe des Leibes als lebendiges Opfer (1b) greift Röm 6 auf und ist in erster Linie metaphorisch gemeint, will also nicht zwingend etwas über einen „wahren Kult“ oä. aussagen. Und die dazu gehörende, kommentierende Aussage in 1c über einen λογικὴ λατρεία versteht Dürr innerhalb des Konzepts der „menschlichen Berufung“, wie sie in der griech.-röm. philosophischen Tradition zu finden sei. Man könnte Röm 12,1 daher paraphrasieren mit „Ich fordere euch auf, euren (befreiten) Leib zu gebrauchen, um Zeichen (der neuen Schöpfung, der Guten Nachricht, der im Messias Jesus offenbarten δικαιοσύνη) hervorzubringen, was auch eure wahrhafte menschliche Berufung ist“ (235). So verstanden würde λατρεία hier von einem „Gottesdienst“ für Gott im Sinne einer „Berufung“ sprechen, was auch in einer Aussage des Sokrates (berichtet bei Plato, Apol. 20d-23c) der Fall ist. Nach Dürr zeigen auch die übrigen paulinischen Stellen mit dem Wortstamm λατρ- (Röm 1,9.25; 9,4; Phil 3,3; 2Tim 1,3 wird wohl aus Zweifel an der Echtheit nicht erwähnt), dass damit nicht nur der Gottesdienst im engeren Sinn gemeint ist und das Wort bedeutungsoffen sei für einen das ganze Leben umfassenden „Gottesdienst“ (Berufung). Das Wort λογικός deutet in dieser Sicht auf die Ausstattung des Menschen mit Vernunft, welche den Menschen auszeichnet und ihm dadurch seine spezifische Rolle (Berufung) in der Welt gibt. Grammatikalisch bedeutet das aber auch, dass das Adjektiv λογικός das nomen actionis λατρεία hier in Röm 21,1c attributiv modifiziert und Dürr vorschlägt, dass λογικός/vernünftig auf das (typische) Subjekt der Handlung λατρεία/Gottesdienst weist. Den Vernunftbegabten (= Menschen, da dies ihr spez. Kennzeichen ist) ziemt es sich, dass sie gemäss ihrer Berufung ihr ganzes Leben als „Gottesdienst“ verstehen und leben. Dürr weist darauf hin, dass diese grammatikalische Zuordnung von Adjektiv und Nomen (Adj. weist auf Subj. des nomen actionis) bisher von keinem Kommentator vorgeschlagen wurde (257). Er nennt als vergleichbares Bsp. eine Stelle bei Diogenes Laertius (DL 7.51) und geht auch auf den Einwand ein, das Possessivpronomen ὑμῶν enthalte bereits das Subjekt. Schliesslich findet er in Röm 12,2 Bestätigung des Verständnisvorschlags für 12,1, wobei die beiden Imperative lediglich formal Passiv seien und die „Erneuerung des νοῦς“ mit einem „durchdenken der eigenen neuen Identität“, „umformen ihres Denkens“ oder auch „aneignen des neuen Verständnisses von Gott“ zu tun habe. Das δοκιμάζειν in 2c meint so ein „Urteilsvermögen aufgrund der Berufung“ (265). Die Arbeit schließt (Kap. 7, 267–292) mit einer kurzen Einbettung des Befunds zu Röm 12,1–2 in den Kontext von Röm 12–15 und (Kap. 8, 293–298) einer Zusammenfassung.
Die insgesamt anregende und solide Arbeit lässt mich doch mit einigen Bauchschmerzen zurück. Die Ausgangsfrage ist relevant und die gewählte Methodik solide und nachvollziehbar. Formal gibt es wenig zu bemängeln (wenige Schreibfehler; ab und zu ist erkennbar, dass der Autor kein native english speaker ist; störend sind mehrere Fußnoten auf der falschen Seite). Ich bin kein Experte für antike Texte oder gar die Stoiker, aber mir scheint die Aufarbeitung der antiken Texte mit dem Begriff λογικός und die Einbettung in einen offenbar typischen anthropologischen Topos gut und kompetent gelungen. Die zentrale Epiktetstelle als Parallele für Röm 12,1 wird von Kommentatoren oft angeführt und die Neubewertung durch Dürr ist bedenkenswert und insbesondere ihre Einbettung in den grösseren Kontext einer traditionellen Aussage über den Menschen wichtig. Auch die Möglichkeit einer Anspielung darauf mit dem Ausdruck λογικός bei Paulus kann nicht ausgeschlossen werden, steht aber m. E. auf dünnen Beinen. Erkenntnisse der Framesemantik und auch die Kriterien für Intertextualität hätten hier vielleicht noch eine höhere Plausibilität zeigen können. Der größte Mangel – und damit verbunden meine Fragezeichen – hängt mit dem Ungleichgewicht zwischen der Darstellung und dem ausführlichen Referieren der außerbiblischen antiken Texte und den strukturellen Vergleichen mit Röm 1–9 (Kap. 5) auf fast 200 Seiten gegenüber der exegetischen Arbeit an der Zentralstelle Röm 12,1–2 auf knapp 30 Seiten, davon 2 ½ Seiten für 12,2, zusammen. Allerdings hinterlässt nicht der Umfang, sondern die exegetische Qualität meine Fragezeichen: Das beginnt damit, dass auch für die ntl. Texte als (zwar neuste) Grammatik einzig die Cambridge Grammar of Classical Greek (2019) verwendet und zitiert wird. Von den neueren deutschen Kommentaren fehlt neben Haacker (ThHNT 6, 20063) va. Schnabel (HTA Bd. 2 zu Röm 6–16, 2016; mit beinahe 30 Seiten zu Röm 12,1–2 (zudem sein Art. Lives That Speak: ἡ λογικὴ λατρεία in Romans 12:1 [2018 in seinem Sammelband in WUNT 406]). Das grösste Fragezeichen entsteht aber bei der „Passgenauigkeit“ des Verstehensvorschlags für die Formulierung in Röm 12,1. Zu der bereits erwähnten unsicheren Plausibilität traditionsgeschichtlicher Abhängigkeit, kommt die Tatsache, dass auf semantischer Ebene lediglich dieses eine Wort in dem Vers direkt mit den entsprechenden Formulierungen in der griech.-röm. philosophischen Tradition übereinstimmt. Zudem „passt“ der Gedankengang nur dann, wenn eine bisher nie in Betracht gezogene Syntax (Verhältnis Adj. zum nomen actionis) angenommen wird. Vor allem aber bleibe ich gegenüber dem Vorschlag zurückhaltend, weil mit diesem Verständnis von λογικός die Rolle der menschlichen Vernunft, des Verstands, des Denkens und des denkerischen Erkennens an der Schnittstelle „von Indikativ zu Imperativ“ einen Platz einnimmt, den ich insbesondere in dem ein Stück weit parallel stehenden Vers Röm 12,2 keinesfalls sehen kann. Meine eigene Arbeit zur Formulierung „Erneuerung des νοῦς“ (Buchegger, Erneuerung des Menschen, TANZ 40, 2003) nimmt ernst, dass ἀνακαίνωσις ein Neologismus und theol. Konzentratwort des Paulus ist, dass die beiden Imperative nicht zufällig im Präs. und „umgestalten“ ein Passiv ist und dass νοῦς hier – aufgrund der atl. Stellen zum Neuen Bund – wie in der LXX für das hebr. „Herz“ steht und als anthropologisches Schaltzentrum das Denken, Wollen und Handeln umfasst. Der „grosse Verstehensrahmen“ für Röm 12,2 und damit wohl auch für 12,1 ist m. E. in erster Linie das Alte Testament und konkret das Neue des Neuen Bundes. Davon findet sich bei Dürr nichts. Ganz anders wird daher sein Verständnis von 12,2: Er versteht in Röm 12,2b νοῦς im Sinne des menschlichen Verstandes, seiner Vernunft (engl. reason, s. z. B. 92). Auch bei Paulus sei die Berufung des Menschen begründet in seiner spezifisch menschlichen Fähigkeit zu denken und vernünftig zu urteilen (211). Wie erwähnt, wird so „die Erneuerung des νοῦς“ zu „einem Prozess der tieferen Aneignung des neuen Verständnisses von Gott, das (nun) verfügbar geworden ist, von der neuen Schöpfung, die im Tod und der Auferstehung des Messias gründet“ (265). Zwar hat Dürr recht, dass bei Paulus (und überhaupt im NT) die Aufforderungen zum Handeln mehr als irgendwie auf die Theologie folgende „Ethik“ ist. Die Verbindung geschieht aber nicht, oder nicht nur, aufgrund menschlicher Einsicht, von Erkenntnis oder gar „Wissen“ mit Hilfe seines gottgegebenen Verstandes, sondern ist Teil eines viel umfassenderen, geistgewirkten Neuheits- und Erneuerungsprozesses, der den ganzen Menschen ergreift und umgestaltet in das Bild des Gottessohnes (Röm 8,29). Damit habe ich allerdings noch keinen wirklich befriedigenden oder besseren Vorschlag für die Bedeutung von λογικός (λατρεία) in Röm 12,1. Ich meine daher, dass trotz der hilfreichen Arbeit von Dürr hierzu noch nicht das letzte Wort gesprochen ist.
Pfr. Dr. Jürg Buchegger-Müller, Pfarrer Freie Evangelische Gemeinde Wetzikon (Schweiz)