Christian Volkmar Witt: Lutherische „Orthodoxie“ als historisches Problem
Christian Volkmar Witt: Lutherische „Orthodoxie“ als historisches Problem. Leitidee, Konstruktion und Gegenbegriff von Gottfried Arnold bis Ernst Troeltsch, Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte in Mainz. Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte 264, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, Hb., 297 S., € 70,–, ISBN 978-3-525-50194-9
Ob im kirchengeschichtlichen Unterricht oder Lehrbuch, noch immer ist „altprotestantische“ oder „lutherische Orthodoxie“ die übliche Bezeichnung für jene Phase der nachreformatorischen protestantischen Kirchen- und Theologiegeschichte, von der sich Pietismus und Aufklärung abgrenzen. Christian V. Witt, Privatdozent an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Mainz und Heisenberg-Stipendiat, hinterfragt nun diese historiographische Kategorisierung in einer für den an der Kirchengeschichtsschreibung interessierten Leser instruktiven Studie. Witt verbindet dabei methodisch Begriffsgeschichte und institutionstheoretische Überlegungen und zeigt anhand der Analyse wirkungsgeschichtlich bedeutsamer historiographischer Entwürfe, angefangen von Gottfried Arnold bis zu Ernst Troeltsch, die Entwicklung eines Konzepts von Orthodoxie im Spannungsfeld von Rechtgläubigkeits- und historischer Periodenbezeichnung. Nebenbei zeichnet der Verf. auch die Entwicklung einer kritischen, wissenschaftlichen Kirchengeschichtsschreibung nach.
Die Studie ist klar gegliedert in sieben Teile, wobei das erste Kapitel der methodisch-theoretischen Einführung dient, das letzte dem Fazit und weiterführenden Überlegungen. Die Arbeit ist sorgfältig redigiert, die Analyse und Interpretation der ausgewählten Quellenschriften liest sich ausgesprochen gut, und didaktisch überlegt bietet der Verf. dem Leser immer wieder einen „Zwischenstand“. Allein das erste Kapitel (11–44) ist in seiner Fachsprache für den mit Theorien der Geschichts- und Kulturwissenschaften weniger vertrauten Leser nicht leicht zugänglich, wenn auch verständlich ist, dass diese Ausführungen der fachwissenschaftlichen Verortung dienen. Für das Verständnis der folgenden Untersuchung wichtig ist, dass der Verf. mit dem begrifflichen Instrumentarium von „Leitidee, Konstruktion und Gegenbegriff“ (so auch der Untertitel der Studie) die religiöse Leitidee „Orthodoxie“ untersucht als eine Identifikations- und zugleich Abgrenzungskategorie (zur Heterodoxie), „um Aufkommen, Etablierung, Begründung und Entwicklung der wissenschaftssprachlichen Rede von ‚Orthodoxie‘ im Rahmen der historischen Darstellung des frühneuzeitlichen Luthertums zu beleuchten“ (42).
Um die Entwicklung und Transformation von „Orthodoxie“ zu einer negativ konnotierten Bezeichnung für eine Gruppe von Theologen und deren Lehre nachzuzeichnen, trifft der Verf. in den folgenden fünf Kapiteln (II–VI) eine Auswahl aus prominenten Werken der protestantischen Kirchengeschichtsschreibung vom späten 17. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert und stellt diese in chronologischer Reihenfolge vor, wobei er bei Gottfried Arnold beginnt. Denn in der Unpartheyischen Kirchen- und Ketzer-Historie des Pietisten Arnold erfährt die Leitidee Orthodoxie eine Umwertung, indem Arnold „die von den Groß- und Konfessionskirchen Verfolgten und Verketzerten zu den eigentlichen Nachfolgern Christi“ (51f.) erklärt und damit die bisherige Wahrnehmung umkehrt: „Die von Anbeginn an geschichtlich existente und durch erleuchtete Historiographie identifizierbar gemachte wahre Orthodoxie ans Licht zu bringen, als deren Träger gerade die vermeintlich Heterodoxen zu stehen kommen, ist somit das maßgebliche Programm des zu diesem Zweck unparteiischen – im Sinne von überkirchlichen – Geschichtsschreibers“ (62). Arnold behält das konträre Begriffspaar Orthodoxie/Heterodoxie als darstellungsleitende Kategorie seiner Kirchengeschichte bei, aber er historisiert „Orthodoxie“ auch und versteht sie als eine pejorative historiographische Kategorie. Obwohl Arnolds Geschichtsschreibung zeitgenössisch für heftigen Widerspruch sorgte, war sein Ansatz so einflussreich, dass die nachfolgenden Kirchengeschichtsdarstellungen des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts das Konzept von „Orthodoxie“ entweder in Anlehnung an oder – häufiger – in Abgrenzung von Arnold entfalteten.
Für das 18. Jahrhundert zeigt der Verf. dies in Kapitel III (73–112) an vier Autoren, darunter Johann Lorenz von Mosheim. Mosheim (Ketzergeschichte, 1746) und sein Schüler Johann Matthias Schroeckh (Christliche Kirchengeschichte, 1772) verzichten in Abgrenzung zu Arnold bewusst auf Kategorisierungen wie Orthodoxie und Heterodoxie. Sie behalten die Leitidee einer Orthodoxie aber bei, während der Aufklärungstheologe Johann Salomo Semler „keinen positiven Begriff von lehrmäßig gebundener Orthodoxie“ (110) mehr kennt. Mit dem Verzicht auf die Kategorie Orthodoxie ringen die Theologen um eine wissenschaftliche Darstellung der Kirchengeschichte, in die der eigene, religiös und konfessionell gebundene Wahrheitsbegriff nicht mehr einfließen soll. „Es scheint demnach im 18. Jahrhundert ein waches Bewusstsein dafür zu geben, dass ‚Orthodoxie‘ ohne Wertung […] schlicht nicht zu haben ist“ (115).
Die weitere Entwicklung des Konzepts Orthodoxie zeichnet der Verf. in den Kapiteln IV (Vom 18. ins 19. Jahrhundert: Ludwig Timotheus Spittler und Gottlieb Jakob Planck; 113–146), V (Das 19. Jahrhundert: Karl von Hase, Ferdinand Christian Baur und August Tholuck; 147–202) und VI (Vom 19. ins 20. Jahrhundert: Ernst Troeltsch, 203–250) anhand der Quellentexte nach. An dieser Stelle können nur einzelne Aspekte hervorgehoben werden: So ist es der Göttinger Theologe Ludwig Timotheus Spittler, der in seinem Grundriß der Geschichte der christlichen Kirche (1782) den Begriff der (lutherischen) Orthodoxie als Gegenbegriff zum Pietismus verwendet, wenn er über den Konflikt Speners mit den „Orthodoxen“ schreibt. Die Professionalisierung der Kirchengeschichtsschreibung im 18. Jahrhundert führte dann dazu, dass einerseits die religiöse Leitidee Orthodoxie im Dienste einer neutralen, wissenschaftlichen Darstellung nicht mehr wahrnehmungsleitend ist. Andererseits etabliert sich die Rede von der lutherischen Orthodoxie als eine Bezeichnung für protestantische Theologen des späten 16. und 17. Jahrhunderts, die durch „ängstlichen Dogmatismus, zänkischen Bekenntnispositivismus und geradezu manische Streitsucht“ (150) auffallen. Dieses Verständnis verfestigt sich in den kirchengeschichtlichen Darstellungen des 19. Jahrhunderts, etwa bei Karl von Hase oder Ferdinand Christian Baur. Auch bei Ernst Troeltsch „bleiben die dunklen Züge der altbösen Feindin von Pietismus und Aufklärung bestimmend“ und ebenso der Eindruck von „Erstarrung, Verfall, Herrschsucht, Streitlust, Dekadenz und Lebensferne“ (266). Die nun als historiographische Kategorie etablierte „lutherische Orthodoxie“ erfährt erst im 20. Jahrhundert eine positivere Deutung.
In Kapitel VII (251–282) bietet der Verf. abschließend weiterführende Überlegungen (ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis (283–295) sowie ein Personenregister (297) folgen noch). Angesichts der Ergebnisse seiner Studie fragt er, „in welcher Weise der Begriff ‚Orthodoxie‘ als historiographische Kategorie […] überhaupt Verwendung finden kann oder soll“ (273). Witt schlägt vor, in der Kirchen- und Theologiegeschichte zunächst von einem „frühneuzeitlichen Luthertum“ (281) zu sprechen. Folgt man diesem (nach der Lektüre überzeugenden) Vorschlag, so hätte freilich der Verzicht auf das Konzept der lutherischen Orthodoxie Konsequenzen für die Definition von Pietismus und Aufklärung. Der Verf. spricht dies kurz an, und der Leser wird (wie überhaupt durch diese lesenswerte und gelungene Studie) angeregt, hier weiterzudenken.
Dr. Ulrike Treusch, Professorin für Historische Theologie an der Freien Theologischen Hochschule Gießen