Hartmut Traub: Der Denker und sein Glaube
Hartmut Traub: Der Denker und sein Glaube. Fichte und der Pietismus oder: Über die theologischen Grundlagen der Wissenschaftslehre, SuE II,61, Stuttgart-Bad Cannstatt 2020: Frommann-Holzboog, 2020, geb., 658 S., € 128,–, ISBN 978-3-7728-2883-6
Hartmut Traub, Honorarprofessor der Alanus-Hochschule, ist durch zahlreiche wegweisende Arbeiten sowohl in historisch-philologischer als auch systematischer Perspektive zum deutschen Idealismus und insbesondere zu Fichte hervorgetreten. Gemäß Fichtes Selbstaussage: „Die Eindrücke der ersten Erziehung sind unaustilgbar“ präsentiert dieser Band die theologischen Anfänge des großen Denkers, lange vor dem Atheismusstreit und der prägnanten „Grundlegung aus dem Ich“ in der ersten Wissenschaftslehre von 1794. Vorgestellt werden so gleichsam die „Prima inquirienda“ Fichtes.
Die Texte und Konstellationen, die Traub präsent macht, datieren sämtlich aus der Zeit, bevor Fichte im Alter von 28 Jahren erstmals mit Kant und der Transzendentalphilosophie in Berührung kam. Die Grundlagen waren seinerzeit bereits gelegt.
In seiner Spätphilosophie nimmt Fichte seit 1804 diesen Faden wieder auf. Wie konsistent die Einheit des Denkwegs ist, zeigt Traub prägnant: „Fichte, der Philosoph des lebendigen Denkens war ein Glaubender. Und als Glaubender war Fichte ein starker Denker“ (427).
Eindrücklich wird so sichtbar, dass am Anfang nicht einfach die Furcht vor Determinismus und Nihilismus stand, sondern das Ethos der protestantischen Freimut.
Mit bewundernswerter Detailgenauigkeit, dabei in kristallklarem verständlichem Stil, rekonstruiert Traub die Realien von Fichtes Herkunft und früher Bildung in Rammenau. Bekanntlich fiel die hohe Begabung des jungen Fichte auf, als er dem Landesherrn die Sonntagspredigt wortwörtlich aufsagen konnte. Traub gräbt in der Kindheits- und Jugendgeschichte. Er zeigt, dass Fichtes frühe Bildung weitgehend vom Vater geprägt war. Der Schulalltag wird in den Kontext des Schulwesens der Zeit eingetragen: Im damaligen Sachsen spielte der Pietismus eine maßgebliche Rolle. Es ist wesentlich, die Lehrwerke (Rambach, Lösecken) (73ff) zu kennen, mit denen Fichte konfrontiert war; wobei Fichte nach eigenen schriftlichen Zeugnissen vor allem von Rambach und dessen heilsgeschichtlicher theologischer Schau geprägt war. Im Bildungskonzept lag die gleichmäßige Ausbildung von Herz und Verstand, womit ein gleichgewichtiges Bild von Freiheit und Determiniertheit verbunden war.
Ein zweiter Lebenskreis führt in den Umkreis von Siebeneichen im Haus derer von Miltitz. Hinsichtlich der Faktenlage bleiben einige Leerstellen. Doch aus einer weitgreifenden Erhebung der Kontexte kann erschlossen werden, dass Fichte dort mit dem Pietismus Zinzendorfscher Prägung in Berührung kam. Auch eine evangelische Mystik in Jacob Böhmescher Tradition lernte er auf diese Weise kennen. Und obwohl Fichte der Überzeugung war, dass der selbstdenkende Philosoph notwendigerweise Protestant sein müsse, kam er durch den weiteren Bildungskreis mit der konfessionellen Vielheit, mit Protestanten und Katholiken, Reformierten und Lutheranern in Berührung.
Traub rekonstruiert liebevoll auch die geistig-geistlichen Physiognomien der Pfarrer, mit denen der junge Fichte Kontakt hatte. Die Dinndorf, Nestler, Wagner, die man sonst übersehen würde. Man muss sich den jungen Fichte auch als Predigthörer vorstellen, ähnlich wie die vorsokratischen Philosophen nach Nietzsche Zuseher der antiken Tragödie sind.
In Schulpforta, der Elitebildungsanstalt Sachsens, deren Zöglinge von Klopstock bis Nietzsche Weltruf erlangten, weitet sich der Horizont noch einmal beträchtlich. Der Ort übt selbst durch seinen Zauber eine indirekte Lehre aus, das Kloster fasziniert ihn. Verschiedene Gymnasiallehrer, die eigentlichen Ordinarien, prägen den jungen Fichte: Er wird Famulus beim Mathematiker Schmidt (204), einem von Crusius geprägten Bengelianer, analysiert die Konfessionsgeschichte im Licht der Bibel: Die Typologie des johanneischen oder paulinischen Christentums wird ihm zum Leitfaden. Sie kehrt später bei Schelling und Hans Urs von Balthasar wieder. Am neologischen, bibelkritischen Protestantismus übt Fichte harsche Kritik. Dafür war er, was man nicht übersehen darf, künftig nicht mehr empfänglich. So formuliert er in einem frühen Text: „Was ist denn die ganze moderne, die Bibel zu ihrer flachen Vernunft bekehrende Theologie anders, als die …Geringschätzung des orthodoxen Lehrbegriffs, und aufgeben die Heiligkeit des Sinnes“ (224).
Den von der Lutherischen Orthodoxie geschmähten „Schwärmern“ konnte Fichte dagegen einiges abgewinnen.
Eine Studienzeit in Jena, Leipzig und Wittenberg schließt sich an. Über Ernst Platner lernte er in Leipzig den Einspruch von Crusius gegen die in der Wolffischen Schulphilosophie als ausnahmslos behauptete Gültigkeit des Satzes vom Grund kennen: die Verteidigung der Freiheit des Willens. In Wittenberg wurde er mit der deutschen Popularphilosophie von Franz Volkmar Reinhard und Gotthold Schocher vertraut, die in der Tradition von Crusius standen. Schochers „ganzheitliche Lehrmethode“ stärkte in Fichte die Tendenz zu einem ersten, vorkantischen Systembegriff. Hier ist nicht weniger grundgelegt als Fichtes Rehabilitation von Begriff und Sache der transzendentalen Einbildungskraft als höchster Denkform.
Aus Schochers grammatikalischen Überlegungen erwuchs ihm die Unterscheidung einer genetisierenden, verbalisierenden Denkform gegenüber dem faktischen substantivierenden Denkmodus. Die hohe Sensibilität für Sprache, die weit mehr ist als nur ein Transportmittel für den Gedanken, erwarb sich Fichte wohl in dieser Zeit.
Besonderes Gewicht in Traubs Darstellung liegt auf der Ausarbeitung der „Theologia dogmatica“ nach den Thesen von D. Petzold. An den Leipziger Rektor wandte sich Fichte in einer offensichtlichen Krise seiner frühen Laufbahn. Die Finanzierung durch Frau von Miltitz lief aus, er suchte nach einer neuen tragfähigen Anstellung und beabsichtigte offensichtlich, sich von der Theologie ab- und der Jurisprudenz zuzuwenden. Auch innere Gründe sprachen für diese weitgreifenden Überlegungen: Fichtes Theologieverständnis stand quer zum Zeitgeist, eben weil er dem planen Rationalismus der Neologen ebenso fremd gegenüberstand wie einer denkfernen Orthodoxie. Viel spricht dafür, dass die „Theologia dogmatica“ in diesem Kontext entstanden ist, auch wenn sich nicht vollständige philologische Gewissheit erreichen lässt. In Aneignung und Anverwandlung der Vorlesung Petzolds gelingt Fichte weit mehr als eine bloße Rezeptionsleistung. Traub liest sie konsequent in Kenntnis des gesamten späteren Religionsdenkens Fichte als „Theologia et philosophia in nuce“. Dies ist vielleicht leicht überzeichnet, insgesamt aber durch Nachweise gestützt und überzeugend.
Glauben und Denken wuchsen im Horizont des Kollegs des verehrten Lehrers zusammen. Traub zieht von der kommentierten Vorlesungsnachschrift die Verbindungslinie zu Fichtes erster religionsphilosophischer Schrift „Versuch einer Critik aller Offenbarung“ von 1792, die den Atheismusstreit auslöste. Seinerzeit hatte Fichte dann bereits eingehend Kant studiert. Doch die leitende Argumentation besteht darin, dass die Kongruenz zwischen dem Vorbild Jesu und dem Menschen als seinem Nachbild durch den lebendigen Geist Gottes hergestellt wird. Der Schriftbeweis allein kann diese Kongruenz in einer theologisch disparaten Situation nicht mehre tragen. Fichte lässt Jesus Christus sagen: „Diese Lehre ist nicht mein, sondern des Vaters, der mich gesandt hat: glaubet nicht mir, glaubet dem Vater, der von mir zeuget“ (514, in Bezug auf Joh 14,24).
Dass Fichte affirmativ formulieren kann: „Wirklicher Glaube, welcher nichts anderes ist, als die Wissenschaftslehre selbst“, ist in diesem Verständnis der auf der geschehenen Auferstehung beruhenden Präsenz des Auferstandenen für den Glauben grundgelegt.
Aufgrund des ausgebreiteten Materials arbeitet Traub konsequent auch die Differenzen zwischen Kants und Fichtes Glaubensverständnis heraus. Geht es Kant primär um die Unterscheidung und funktionale Übersetzung und die Grenzmarkierung, so Fichte um die Durchdringung beider in einem transrationalen, transempirischen Verständnishorizont. Das Kreuz und die Auferstehung müssen dabei gleichermaßen beglaubigt und zusammengedacht werden.
Ich gestehe, dass mich selten ein gelehrtes Werk der jüngeren Zeit so beeindruckt und vielfach geistig bereichert hat. Was Traub aus komplexen Archivquellen ans Licht bringt, kann eine Inspirationsquelle für evangelisch-evangelikales Glaubens-Wissen und Selbstverständnis im 21. Jahrhundert sein. Indem er die Materialien viel breiter anlegt als die konstellationsanalytische Schule Dieter Henrichs und seiner Epigonen, schafft Traub einen Zugriff aus geistesgeschichtlich-interdisziplinärer Perspektive, der für Theologen und Philosophen, für Theorie und Praxis der Apologetik gleichermaßen großen Ertrag bringt. Und: Dieses Buch ist mit Leidenschaft und Nüchternheit geschrieben.
Prof. Dr. Harald Seubert, Ordentlicher Professor für Philosophie, Religions- und Missionswissenschaft an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel