Hansgünter Ludewig: Mein Leben sei ein Wandern
Hansgünter Ludewig: Mein Leben sei ein Wandern. Die geistliche Biografie Gerhard Tersteegens, Gießen: Brunnen, 2019, geb., 544 S., € 48,–, ISBN 978-3-7655-9112-9
Hansgünter Ludewig war als promovierter Pfarrer Dozent am Missionsseminar in Hermannsburg, als Pastor unter anderem in Lübeck, Braunschweig und Wolfenbüttel und als persönlicher Referent von Bischof Ulrich Wilckens in Lübeck tätig. Im Ruhestand beschäftigt er sich weiterhin mit dem Herzensgebet im Pietismus und fördert kommunitäres Leben und Einkehrtagungen zu geistlichen Themen. Im Jahr 2005 veröffentlichte Ludewig in der Reihe „Geistlich leben“ im Brunnen-Verlag Gießen ein erstes Taschenbuch zum Herzensgebet im Leben von Gerhard Tersteegen (Gottes Gegenwart erleben, ISBN 3-7655-5451-0). In diesem geistlichen Wegweiser entwickelt der Autor in Form eines Briefwechsels mit seinem Freund Jürgen Fröchling Themen und Probleme, die sich in der Praxis des Herzensgebets ergeben.
Ludewig bekennt in dem Taschenbuch, dass er mit dem knappen Jesusgebet der Ostkirche Schwierigkeiten hatte (2005, 11). Dann entdeckte er aber während seines Tübinger Theologiestudiums für sich das Thema Gelassenheit und von Madame Guyon die Schrift „Kurzes und sehr leichtes Mittel zu beten“ (2005, 16, 18). Tersteegen verwirklicht sein eremitisches Leben nicht wie Radikalpietisten in der Einsamkeit des Waldes von Berleburg oder Germantown (Pennsylvania), sondern in der Stadt (2005, 34). Auch bei großem Zulauf nach der Mülheimer Erweckung um Wilhelm Hoffmann und in gut besuchten Versammlungen bleibt er der menschenscheue, geistliche Einzelgänger, der Gleichgesinnte anzieht (2005, 76f). Von Tersteegens geistlichem Leben geht bis heute eine bleibende Wirkung aus, die ihn schon zu seiner Zeit von konkurrierenden Bewegungen wie Philadelphia, den Herrnhutern, Wiedertäufern, Theosophen, und Separatisten unterscheidet (2005, 82f). Auch Querelen mit den verfassten Kirchen können nicht verhindern, dass sich das Herzensgebet in Konflikten, in Belastungssituationen und beim Ordnen des Alltags bewährt (8. Kap.).
„Mein Leben sei ein Wandern“ ist nun die große geistliche Biografie über Gerhard Tersteegen (1697–1769), die Ludewig zum 250. Todestag des großen christlichen Glaubensvorbilds 2019 herausgegeben hat. Wie im Taschenbuch von 2005 ist für den Vf. das Herzensgebet der Schlüssel zum Verständnis von Tersteegens geistlicher Biografie (31f). Ludewigs umfangreiches Werk belegt eindrucksvoll, dass es im Leben des christlichen Mystikers noch immer einiges zu entdecken gibt. In umfangreichen Recherchen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und in anderen Bibliotheken hat der Ruhestandspastor anonym erschienene Schriften und Übersetzungen von Tersteegen ausfindig gemacht und in sein neu verfasstes Bild des Lebenslaufs von Tersteegen integriert (30f). Neben den existierenden Tersteegen-Biografien sind die Briefe, seine namentlich und anonym veröffentlichten Werke und Gedichte Quellen für die vorliegende Darstellung (29f). Besonderes Augenmerk legt Ludewig auf Tersteegens Anleitungen, mit denen Christen das Gebet einüben können (33f). Ludewigs Darstellung ist trotz ihres beachtlichen Umfangs gut lesbar. Die in sechzehn Kapitel eingeteilten 476 Textseiten werden durch die 91 beigegebenen historischen Abbildungen anschaulich.
Schon Pfarrer Wilhelm Hoffmann, zu dessen Schülerkreis T. gehört, praktiziert das Herzensgebet: „Doch mußt du jederzeit am meisten und hauptsächlich die Augen deiner Seele hineinkehren zu Gott, der in deiner Seele gegenwärtig ist“ (77). Erste Zugänge zu dieser Gebetsweise findet er in den Schriften von Madame Guyon und Gregor Lopez. In Experimenten mit dem Herzensgebet (Kap. IV) versucht Tersteegen, das Ideal eines Eremiten zu leben (101f). Übungen des inwendigen Gebets gehen einher mit kontinuierlicher Verleugnung des Geschaffenen und des Eigenen (131). Nach seiner Blutsverschreibung fühlt er sich zur Ehelosigkeit berufen (144), er wagt es nach diesem Gründonnerstag im Jahr 1724, seine Eremitenzelle zu verlassen.
Auf der „nächsten Stufe des Herzensgebets“ (191) lebt er in seinen Jahren des Aufbruchs 1727 bis 1734 aktiv und kontemplativ zugleich (Kap. VII). Nun gibt es mehrere „Freunde Gottes“, die experimentell gemeinsames Leben in der Pilgerhütte Otterbeck pflegen (225, vgl. Kap. VIII, 235ff). Von 1740 an wird seine erwecklich-seelsorgerliche Arbeit durch ein Konventikel- und Predigtverbot behindert (300ff).
Ludewig stellt in den folgenden Kapiteln Tersteegens Leben in den Zusammenhang lokaler und regionaler Erweckungen in Barmen, im Bergischen Land, Holland, Rheydt und 1750 in Mülheim (Kap. X–XI, vgl. 334f, 339f, 340f). Zwar endet 1744 das Experiment der „Pilgerhütte“ (319–323). Aber Tersteegens Arbeit wächst, sodass sich bis zu 600 Menschen, die nicht nur aus seiner Region kommen (396f), in seinem Haus versammeln (359). Es wird unumgänglich, das Konventikelverbot nicht einzuhalten (348). Die lokale Erweckung dauert vier Jahre an (405).
Trotz labiler Gesundheit erreicht Tersteegen ein verhältnismäßig hohes Alter (473, Kap. XVI). Besonders seine letzten Lebensjahre sind von einem Zustand der inneren Dunkelheit geprägt (476). Die meisten seiner Manuskripte bleiben ungedruckt. (457)
Hansgünter Ludewigs Darstellung von Tersteegens Lebensgang nach seiner geistlichen Seite ist aus enormen Forschungsanstrengungen entstanden. Eine starke Anverwandlung des Autors an sein Vorbild verhindert allerdings, dass Tersteegens mystisches Glaubensleben auch kritisch gesehen wird. So sind für seine Frömmigkeit die Heilsmittel Taufe und Abendmahl („solches tut“, Lk 22,19) kaum bis gar nicht relevant. (Dagegen spielt die Eucharistiefeier bei den Mystikern der Ostkirche eine tragende Rolle.) Das Vaterunser als Lehrgebet Jesu für die Frömmigkeit seiner Jünger (Lk 11,1) hat – so der Anschein – keine Relevanz. Warum lehrt Jesus das Vaterunser, wenn für die Christen eigentlich das Herzensgebet wichtig ist? Das Bibellesen als Bestandteil des Tagesablaufs wird zwar erwähnt (148f, 233, 254), andererseits scheint nach Ludewigs Darstellung das Bibelstudium keine erwähnenswerte Dimension von Tersteegens geistlichem Leben gewesen zu sein. Tersteegens Frömmigkeit führt ihn nicht missionarisch in die Landeskirche seiner Zeit hinein, sondern aus ihr heraus, wie ein Zitat von Goebel illustriert: „Er zog sich daher [um 1724] gänzlich von der Kirche, ihrer Predigt und ihren Gnadenmitteln zurück, weil er in seinem Gewissen Bedenken trug, dieselben mit offenbaren Weltkindern und Gottlosen zu gebrauchen, ging von da an nie mehr zum heiligen Abendmahle und – wie es scheint, erst in späteren Jahren wieder – nur selten und nur ausnahmsweise in die Kirche … (Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen evangelischen Kirche, Bd. 3, 1860, ND Gießen 1992, 307). Der persönliche Eindruck des Rezensenten ist, dass diese kritischen Punkte Tersteegen in einem Seitenstrom evangelischer Frömmigkeit positionieren. Diese gab es zwar ähnlich schon in der Alten Kirche, damals als innerkirchliche Erneuerungsbewegung, sie wurde aber von den Reformatoren zurecht nicht aufgenommen.
Pfarrer Dr. Jochen Eber, Steinen