Systematische Theologie

Andrea Schiff / Hans-Ulrich Dallmann: Ethik in der Pflege

Andrea Schiff / Hans-Ulrich Dallmann: Ethik in der Pflege, Pflege studieren 1, München: Ernst Reinhardt Verlag, 2021, Pb., 240 S., € 24,90, ISBN 978-3-8252-5587-9


Das vorliegende Buch begründet die neue Lehrbuchreihe „Pflege studieren“. Den ersten Band verfassten die Kölner Dozentin für Pflegewissenschaft, A. Schiff, und der Ludwigshafener Ethiker H.-U. Dallmann. Mit Grundlagen (Menschenwürde, Autonomie, Leiblichkeit, religiöse Deutungsmuster …) und „Dimensionen und Kontexte der Pflege“ (15) wie Verantwortung, Migration, Intensivpflege oder Demenz haben sie ihr Werk in zwei Hauptteile gegliedert.

In der Ethik geht es nicht einfach um pflegerisches Handlungswissen, sondern grundlegender um Lebensführung: „Der Unterschied zwischen Alltag und Beruf ist nicht grundsätzlicher Natur“ (17). Dies gilt im Blick auf die Pflegekräfte wie auf die Organisationen, die ethische Leitbilder verabschieden.

Aufgabe der Ethik in der Pflege sei das Fragen nach den Gründen des Handelns und Verhaltens. Dazu braucht es ethische Kompetenz von wahrnehmen, bewerten, schlussfolgern und handeln. Es bedarf einer Grundhaltung, in der sich die Verfasser an den Entwurf des Sozialethikers Andreas Lob-Hüdepohl anschließen: Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Assistenz und Anwaltlichkeit.

Formal ist das Lehrbuch gut aufgebaut: Jedes Kapitel beginnt mit einer grafisch vorangestellten Zusammenfassung und endet mit kurzen Wiederholungsfragen. Am Ende des Buches wird auf einen erweiterten Online-Bereich verwiesen. Verschiedene Schlagworte („Lebensführung“, „Ethik“ oder „Verantwortung“) werden in eingefärbten Kästen definiert oder ihre Herkunft erläutert. Einzelne Begriffe, die gesellschaftlich manchmal etwas vereinfacht-pauschal gebraucht werden, wie z. B. Autonomie, ordnen die Verf. in den wichtigen Kontext (hier: der Beziehungen) sowie in bestehende Spannungsfelder (hier: gegenpositionelle Sicht des Patienten; Fürsorge und Schutz) ein. Das gilt auch für andere Themenfelder wie beispielsweise die Frage nach der Pflege in Situationen, in denen gegen oder zumindest ohne Willen des zu Pflegenden gehandelt wird. Hier werden hilfreiche Prüffragen gestellt. Um die notwendige und teils schwerfällige Theorie möglichst einfach in die Praxis zu übertragen, werden die Abschnitte durch zahlreiche Fallbeispiele aus dem Pflegealltag aufgelockert, z. B.: „Frau Turgut … arbeitet als Pflegefachkraft…“ (42). Es folgt die Situationsbeschreibung und daraus hervorgehende Fragestellung. Die Verf. stellen Orientierungsfragen anhand der Personalpronomen: reflexiv (1. Pers.), gemeinsamer Raum der Verantwortung (2. Pers.), Sachebene (3. Pers.). Beispiel: Eine Mutter erhält für ihr ungeborenes Kind die pränatale Prognose Trisomie 21. „Bin ich in der Lage, das Kind auszutragen?“ (1. Pers.), „Wie denkt meine Partnerin darüber und wird sich unsere Beziehung verändern?“ (2. Pers.), „Ist ein Schwangerschaftsabbruch überhaupt vertretbar?“ (3. Pers.). Solche Beispiele helfen in der Tat. Bei diesem stolpert man jedoch darüber, dass die Mutter keinen Mann/Vater des Kindes hat (und in die Überlegungen einbezieht!), sondern ihre Partnerin/„Co-Mutter“ (21). Dadurch werden m. E. eher ethische Fragen aufgeworfen statt beantwortet (z. B. Mitspracherecht des biol. Vaters). Andere Beispiele sind hier deutlich mehr gelungen und alltagsnäher. Eine letzte formale Anmerkung: Die Verf. entschieden sich für eine geschlechtergerechte Schreibweise. Ob dies (auch im Blick auf den Lesefluss) unausweichlich ist, mag man differenziert beurteilen, man beachte beispielsweise folgenden Satzauszug: „…Perspektiven von Betroffenen auf der einen und Spezialistinnen und Spezialisten wie Psychiater*innen und Psychologinnen und Psychologen auf der anderen Seite…“ (213). Wenn man sich dafür entscheidet, sollte es m. E. nach einer einheitlichen Schreibweise geschehen.

Nun ein paar inhaltliche Streiflichter: In „Dimensionen menschlicher Existenz“ (ab S. 58) geht es u. a. um „Leiblichkeit“, „Kranksein“, „Identität“ und „Menschenwürde“. In den vorgestellten Theorien wird zwischen Leib (eigene Wahrnehmung) und Körper ([medizinische] Sicht von außen) unterschieden. Durch eine „phänomenologische“ Perspektive soll das dualistische Verständnis (Seele und Leib) des Menschen überwunden werden. Mir stellt sich die Frage, ob es nicht nur verlagert wird. Dem Anliegen stimme ich zu: Pflege soll nicht „den“ Patienten behandeln (distanzierend/klassifizierend), sondern auch „aus der Perspektive“ des Patienten. Das Person-Sein definieren die Autoren als Beziehungsbegriff (Kommunikation, Name…). Insofern sei „strittig“ (73), ob das Person-Sein bereits dem ungeborenen Menschen zukommt oder erst dann, „wenn eine Mutter mit dem ungeborenen Kind in Formen leiblicher Kommunikation eintreten kann“ (73). Mag dies eine gesellschaftlich-diskutierte Meinung sein, erwarte ich in einem Ethikbuch eine Antwort, die (mindestens!) auch den Blick auf das Lebensrecht des Ungeborenen wendet. Erfreulicherweise wird später im Rahmen der Risikoschwangerschaft, Fehlgeburt und Schwangerschaftsabbruch (wenn auch eine seltsam anmutende Aneinanderreihung) darauf hingewiesen, dass jede zeitliche Setzung (Wann ist der Mensch ein Mensch) willkürlich ist, da es sich bei der Entstehung eines Menschen um einen kontinuierlichen Prozess handelt.

Im Abschnitt über Menschenwürde kommen die Autoren auch auf das christliche Menschenbild zu sprechen. Mich beschleicht jedoch der Eindruck, dass es ihnen „nicht ganz liegt“ und ihrem Verständnis nach relativiert oder zumindest eingegrenzt werden sollte. So wird die Gottebenbildlichkeit als Begründung der Würde des Menschen genannt, gefolgt von der Aussage, es seien allerdings die Kirchen gewesen, die aufgrund ihres negativen Menschenbildes (Mensch als Sünder) die Durchsetzung der Menschenrechte bekämpft hätten. Das wirkt dann doch sehr platt und undifferenziert und steht zudem ohne Belege da. Gerade in einem Ethik- und Pflegebuch, dessen Mitautorin an einer konfessionellen Hochschule unterrichtet, hätte man durchaus auf die historische Entwicklung und Institutionalisierung von Krankenhäusern, Altenpflege, Behinderteneinrichtungen oder Armenhäuser hinweisen können. Unzählige entstanden durch „christliche Hände“, die im Gegenüber ein von Gott geschaffenes Ebenbild Gottes sahen und deswegen aus der Überzeugung handelten: Jeder hat eine unantastbare Menschenwürde! Eine solche Überzeugung vermisse ich im vorliegenden Abschnitt.

Bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit stellt sich schnell die Frage nach dem „Warum?“, nach der Deutung des Sinns dahinter, evtl. nach der Schuldfrage. Hier kommt auch die Religion zur Sprache. Sie bearbeite diese Fragen, indem sie innerweltliches Geschehen auf eine Dimension beziehe, die der Welt entzogen ist (Immanenz und Transzendenz). Hier weisen die Verf. darauf hin, dass Rituale eine wichtige Rolle spielen und deswegen „in Einrichtungen des Gesundheitswesens Räume und Zeiten zur Verfügung gestellt werden“ (92) sollten, in denen diese gelebt werden können. Entgegen der überwiegenden gesellschaftlichen Tendenz, den Tod lieber auszuklammern, ermutigen die Autoren dankenswerterweise dazu, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen.

Für den praktischen Pflegealltag nennen die Verfasser vier ethische Prinzipien als Strukturhelfer: Nicht-Schaden, Fürsorge, Autonomie und Gerechtigkeit. Diese Grundsätze bilden einen ethischen Reflexionsrahmen der Pflege. Die einzelnen Werte werden beschrieben und ihre Zusammenhänge erklärt. Sie sensibilisieren gut für die besondere Situation der Pflege, in der die Pflegenden den Pflegebedürftigen stets „überlegen“ scheinen (professionelle Berufskleidung trifft den „auf Hilfe angewiesenen“) und in die Privatsphäre eindringen (Pyjama, körperliche Nähe bis zu Intimpflege).

Gut, sensibilisierend und praxisnah gehen die Autoren auf verschiedene spezifische Kontexte der Pflege ein, z. B. Notfall- und Intensivpflege, Häusliche Pflege, die spezielle Herausforderung von Demenz, Pflege im Kindes- und Jugendalter oder Palliativsituationen. Wie kann bei der Notwendigkeit schnellen Handelns in Notsituationen ethisch gut entschieden werden? Wie kann Angehörigen eines sterbenden Menschen ermöglicht werden, ihn würdig und persönlich zu begleiten (Duft, Musik, ablenkende Monitore abhängen…). Was hilft Risikoschwangeren oder Frauen mit drohender/nach Fehlgeburt, die Situation zu verarbeiten (präpartale Elternbetreuung, Besuch auf Neointensivstation…). Wie kann Menschen mit Demenz in „ihrer Welt“ begegnet werden, ohne „umherzulügen“? Freilich sind Situationen individuell. Einfache, pauschale Antworten sind unmöglich. Aber es regt angehende Pflegefachkräfte zum Nachdenken (und hoffentlich Handeln) an. Es gibt Situationen, bei denen erst im Nachhinein klar wird, ob das Handeln richtig/gut war. Umso wichtiger – da ist den Autoren ausnahmslos zuzustimmen – sind Supervisions- und Gesprächsangebote für Pflegekräfte, um mit spezifischen Begleiterscheinungen/Folgen (Schuldgefühle, Abschiedsschmerz, Umgang mit Leid…) umgehen zu können, aber auch, um für eine grundsätzlich gute Nähe-Distanz-Regulierung (Burn- oder Cool-Out) zu sorgen.

In der Summe liefern die Autoren ein Werk mit viel gutem Hintergrundwissen, Reflexions- und Handlungsmöglichkeiten, intensiv recherchiert. Teilweise ist es etwas „sperrig“ geschrieben und stellt einfach „Meinung A“ und „Meinung B“ gegenüber, ohne eine klare Orientierung zu geben. Genau das jedoch wünsche ich mir von einem Ethikbuch für angehende Pflegekräfte.


Michael Schwantge, Gemeinschaftspastor in Oppenheim