Systematische Theologie

Lukas Ohly: Ethische Begriffe in biblischer Perspektive

Lukas Ohly: Ethische Begriffe in biblischer Perspektive, Tübingen: Narr Francke Attempto, 2022, Pb., 300 S., € 23,90, ISBN 978-3-8252-5809-2


Kann man für heutige ethische Fragen beispielsweise im Blick auf Freiheit und Selbstbestimmung, Politik und Kirche, Krieg und Frieden, Flucht und Migration, Eigentum und Güterverteilung, Gerechtigkeit und Toleranz, Lebensschutz und Fürsorge auf die Bibel zurückgreifen?

Der Autor, Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, ist überzeugt: Ja! Zwar sind für ihn die zehn Gebote von selbstbestimmten Menschen verfasst, die inhaltlich miteinander übereinkamen (Rückbezug auf Dtn 30,14: „in deinem Munde und deinem Herzen“). Auch die Bergpredigt ist nach Ansicht des Verf. „nur eine Stilisierung des Matthäusevangeliums“, bei deren Aussagen „man nicht einmal sicher sein“ könne, ob sie Jesus wirklich gesprochen hat (11). Doch die Bibel beinhalte religiöse Erfahrungen und fungiere als „Ideengeberin“ (14). „Dieses Buch macht sich zur Aufgabe, die ethischen Verbindlichkeiten der Bibel zu entdecken, die einer ethischen Überprüfung standhalten“ (12). Dieses Schriftverständnis ist universitär gang und gäbe. Es hinterlässt in mir aber auch einen Geruch der Hybris des modernen Menschen, sich und seine Überprüfungsmethoden zum Maßstab zu machen und so der Bibel habhaft zu werden. Nichtsdestotrotz, so der Verf., soll „die Orientierungskraft biblischer Texte selbst zur Entfaltung kommen“ (13).

Er gliedert sein Buch in drei Teile: 1. Begriffe zu Grundbegriffen der Ethik, 2. Sozialethische Begriffe und schließlich 3. Bedingungen des Lebens. Strukturell und formal geht er einheitlich vor: kurze Kapitel, in denen er zunächst eine Skizze des aktuellen Diskurses zeichnet, indem er der Frage nachgeht, warum das Thema überhaupt eine ethische Frage/Debatte ist. Es folgt ein biblischer Textabschnitt, jeweils in der Lutherübersetzung abgedruckt. Der Verf., der neben seiner Professur auch evangelischer Gemeindepfarrer ist, begrenzt sich auf je einen Grundlagentext, erwähnt jedoch am Kapitelende mögliche Alternativtexte. Literaturhinweise zur Vertiefung mit kurzer Inhaltsbeschreibung runden die Abschnitte ab. Lesefreundlichkeit ist also garantiert.

Zunächst vier kurze Einzeleinblicke: Wertvoll und nachdenkenswert sind Textauswahl und -ausführung zur Frage nach dem wissenschaftlichen Arbeiten in religiösen Angelegenheiten. Nachvollziehbarerweise können hier meist keine Hypothesen aufgestellt und dann durch Versuchsreihen verifiziert werden. Der Verf. wählt Dtn 18,20–22 als Grundlage: Was von Gott ist, wird „werden“. „Wird“ es nicht, ist es nicht von Gott. Es baut zum einen auf Bestehendem auf (Vertrauen) und kann zudem Unerwartetes (Neues) bringen. Solange eine Deutung Gott nicht in (m)einen „Denkkasten“ sperrt, kann man in dieser Aussage die Frage nach der Bewährung verschiedener Positionen sehen. Was be-wahr-heitet sich: im Blick auf das ursprüngliche Ziel Gottes mit dem Menschen? Was bewährt sich im Blick auf die ethische Fragestellung? Wo führt sie hin?

Wie „plural“ dürfen, sollen, müssen wir sein? Am Beispiel der Begegnung von Jesus mit der Frau am Jakobsbrunnen erläutert der Verf. dies: Zwei Verwandte, aber doch irgendwie auch unterschiedliche Religionen begegnen sich. Während Jesus „zänkisch“ (37) auftritt, schafft der Geist Gottes eine Verbindung, die sogar dazu führt, dass Jesus noch ein paar Tage dort bleibt: gelebtes Miteinander trotz unterschiedlicher Standpunkte. „Nicht der Konsens führt zu Gemeinschaften, sondern der Geist, der sie verbindet, auch wenn sie im Dissens liegen“ (38). Ein wertvoller Satz, wenn wir ihn in unseren Gemeinden anwenden (Gottesdienstgestaltung, Umgang mit Corona…). Wir müssen nicht immer einer Meinung sein. Aber Jesus muss die Mitte bleiben. Für weiterführende Fragen, die schnell Grundsätze des Welt- und Gottesbilds berühren, stößt dieses Konzept (der Geist schafft Gemeinschaft) sicher an seine Grenzen, so auch in Joh 4. Ungeachtet des Keils, der hier vom Verf. zwischen Jesus und Geist getrieben wird – die Gemeinschaft entsteht nicht einfach im Aufrechterhalten verschiedener Standpunkte, sondern durch die (fundamentale!) Erkenntnis der Frau von Jesus als Messias (Joh 4,42). Pluralismus im Sinne eines friedlichen Nebeneinanders ist oft angebracht. Doch ein – vereinfacht formuliertes „Der Geist in allem, deswegen alle miteinander“ ist hier sicher nicht herauszulesen.

Bemerkenswert sind die Ausführungen zu verschiedenen Facetten der Freiheit. Wir haben sie nicht einfach, sondern sie ist uns geschenkt (Exodus). Nicht als Besitz, sondern als Talent, um es einzusetzen und damit ist uns auch etwas zugemutet (Gleichnis der anvertrauten Talente). Als Geschenk ist Freiheit verbindlich – gebunden an Gott, wie Gal 5 zeigt. „Wenn eine Person frei ist, kann sie machen, was sie will. Wenn sie aber zur Freiheit befreit ist, dann soll das, was sie machen will, auch die Freiheit bewahren. Und damit kann sie nicht mehr einfach nur machen, was sie will“ (48), sondern orientiert sich an Gott.

Dem Theologen gelingt eine oft überraschende Textauswahl, die herausfordert, aber auch bereichert. Er eröffnet wertvolle neue Aspekte und Blickwinkel. So bedeutet z. B. Nächstenliebe nicht nur, mich als Handelnden zu sehen, sondern auch als das „Opfer“, dem vom „Samariter“ geholfen wird (168). Im weiteren Verlauf der Ausführungen zu „Liebe“ geht es darum, sich so die Liebe Gottes „gefallen“ zu lassen und Beziehung mit ihm einzugehen (174). Oder es findet sich mit Hinweis auf 1. Kor 8 die Erkenntnis, dass auch der Glaubensstarke den Glaubensschwachen zum Erkennen benötigt und deswegen nicht einfach der Stärkere ist (191f). Insofern liegt hier ein „Pool“ an erfrischender Inspiration vor. Irritierend, beinahe verstörend sind die Ausführungen des Verf. zum Schutz ungeborenen Lebens. Die Berufung Jeremias im Mutterleib (Jer 1,4ff) könne nicht pauschal auf alle Menschen angewendet werden – hier kann man noch zustimmen. Oft werde Vorsehung Gottes erst später sichtbar. Auch ein verstorbenes Kind könne seine Eltern im Rückblick „treffen, ergreifen und beeinflussen“, sei also immer „anwesend“ (202). Abtreibungen sind tragisch, doch: „Das ungeborene menschliche Leben schützt sich … selbst, nämlich durch seine Anwesenheit. Es verliert seine Macht nicht, wenn Frauen auf ihre Rechte dringen. Beides besteht vielmehr zusammen, Frauenrechte und die Macht der Anwesenheit des getöteten ungeborenen Lebens“ (204).

In anderen Bereichen gibt der Autor hilfreiche Orientierung. Beispielsweise klärt er das landläufige Missverständnis auf, Toleranz bedeute, die Meinung oder das Verhalten des anderen gut zu finden oder zu fördern. Dementgegen gilt: „Toleranz beschreibt eine Haltung, Positionen und Praktiken zuzulassen, die man ablehnt. Wer Toleranz übt, muss … keine Pluralistin sein…“ (146). Mit Lk 16,10–13 erinnert der Verf. an einen wertvollen Grundgedanken im privaten wie gewerblichen Vermögens-/Finanzbereich: Besitz und Wachstum sollten nicht das Höchste sein, dem man dient, sondern zum „Geringsten [gehören], dem man treu ist“ (142).

Es gibt aber auch einige Gedanken, bei denen für mich der Orientierungsgewinn unklar bleibt, weil sich nahezu gegensätzliche Positionen begründen lassen. Warum? Mein Eindruck ist, der Autor tendiert dazu, geistliche Hintergründe in zwischenmenschlichen/sozialen Aspekten aufgehen zu lassen: So beziehe sich Jesu Weinen über Jerusalem (Lk 19,41–48) „zunächst nur [auf] die … soziale Situation“ der Stadt (93). Gott zu sehen, geschehe anhand 1Joh 3,1–6 im Sehen des anderen Menschen (23) und im Blick auf 1Kor 6 – Leib als Tempel des Heiligen Geistes – in der Begegnung mit uns selbst, z. B. beim Sport (158). Dies ist vielleicht eine Grundschwäche „neuerer“ Theologie bis in kirchliche Lehre und Gottesdienste hinein. Zum anderen ist klare Orientierung schwierig mit der Annahme, dass die in der Bibel vermittelten Gebote, Richtlinien und Werte nicht „gesetzt“, sondern menschengemacht seien. Selbst Gott könne das „Gute“ nicht einfach für sich beanspruchen, „es entsteht zwischen den Lebewesen“ (61) und nur, wenn sie es nachvollziehen können und danach handeln. Daraus schließt der Autor: „Was dem Leben dient, weiß vielmehr jeder Mensch selbst. Wir alle können selbst bestimmen, welche Ordnungen für das Leben gut sind“ (72), und an anderer Stelle: „Was wir Menschen vereinbaren, das bekommt ein heiliges Gewicht wie die Worte Gottes“ (80). Richtig ist, dass die Gebote Gottes nur gute Frucht bringen, wenn man nach ihnen handelt. Doch selbst, wenn alle anders handeln würden, ist meine Überzeugung: Die Gebote sind und bleiben gut (spiegeln sie doch das Wesen Gottes wider), das vom Geist inspirierte Wort Gottes ist die Bibel (2Tim 3,16), und das Gute ist vom Guten – nämlich von Gott – „gesetzt“ (vgl. Mi 6,8).


Michael Schwantge, Gemeinschaftspastor in Oppenheim