Wolfgang Ratzmann: Andacht verstehen und gestalten
Wolfgang Ratzmann: Andacht verstehen und gestalten, gemeinsam gottesdienst gestalten (ggg) 34, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2022, geb., 280 S., € 26,–, ISBN 978-3-374-07073-2
Andacht als „die kleine Schwester des Gottesdienstes“ steht im Mittelpunkt des Werkes von Wolfgang Ratzmann.Der emeritierte Professor für Praktische Theologie an der Universität in Leipzig forschte Jahrzehnte in den Bereichen Liturgiewissenschaft, Gemeindeaufbau und Gemeindepädagogik und war Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD.
In einer einfachen Struktur wird entsprechend des Titels in zwei Teilen Grundlegung und Praxisanregung vollzogen. Der erste Teil lädt ein, sich neben dem Erfassen des Begriffs und der Bedeutung von „Andacht“ auch auf eine geschichtliche Reise und Reflexion zu begeben, um zum Abschluss die heutige Situation soziologisch und theologisch zu sichten. Im Zeichen einer Transformation des Religiösen zwischen Säkularisierung und Re-Spiritualisierung in individueller Form reflektiert der Autor heutige Anknüpfungspunkte. Das gelingt in guter, kritischer Weise. Im zweiten Teil werden nach der Einführung zur persönlichen Andacht auch Aspekte gemeinsamer Andachten für Gruppen konkretisiert. Dabei werden vor allem hier Darlegungen einer früheren Arbeit (1999, „Der kleine Gottesdienst im Alltag“) erkennbar integriert. Neben Rahmenbedingungen finden sich Gestaltungselemente, Ideen und Formen und eine Aktualisierung bzgl. der Pandemiesituation. Durchgängig heben sich Ergänzungen und Beispiele im Textfluss durch eine kleinere Schriftgröße ab. Ein Abkürzungsverzeichnis und ein nach Quellen, Historie und Systematik / Praxis geordnetes Literaturverzeichnis runden den Band ab und regen zur Weiterarbeit an. In seiner Darlegung kommt der Autor von der Grundentscheidung her, dass sich christliche Frömmigkeit (synonym zu Spiritualität, kritisch reflektiert) vielgestaltig zeigen muss, da sich dies auch kirchengeschichtlich nachweisen lässt, wie seine Geschichte der Andacht mit guten Beispielen belegt. Zur Profilierung und Abgrenzung formuliert der Autor von der Zielbestimmung her zentrale Begriffspaare (136), die den Kern evangelischer Spiritualität rahmen. Die praktische Bandbreite zeigt sich u. a. bei musikalischen Andachten und dem Plädoyer, sich als Gemeinde die Wahrheiten der Schrift singend anzueignen (81). Bereits die geschichtlichen Ausführungen bieten praktische Aspekte und die pointierten Beispiele helfen zu einer Anschauung der damaligen Verhältnisse. Die im zweiten Teil exemplarisch vorgestellten acht Andachtstypen erweisen sich als eher klassisch und haben durch die Ergänzung von u. a. digitalen Formaten anregenden Charakter.
Manchem mag der landeskirchliche Fokus lediglich mit Brücken in den ökumenischen Raum zu eng gefasst sein; für andere bietet gerade dieser Blick sehr interessante Vergleichspunkte. Die eingefügten Exkurse und Beispiele bieten u. a. den Vorteil, auch den Kontext des damaligen Zeitgeschehens anschaulich zu erfassen und Beispiele sehr konkret nachzulesen. Nachteilig könnten sich die längeren Ausführungen im Exkurs auswirken, die Hauptlinie nicht aus dem Blick zu verlieren. Den Charme des Formats „Andacht“ weiß der Autor dadurch zu vermitteln, dass er die Flexibilität und Offenheit in den Vordergrund stellt und zum Experimentierraum herausfordert. Dabei plädiert er für eine Bezogenheit von Andacht im Alltag auf den Gottesdienst, damit nicht ein Gegeneinander entsteht und die Privatandacht oder Hausandacht den Gottesdienst ersetzt – eine wichtige aktuelle Anfrage im Kontext der Pandemie. Andacht ist Ausdruck der eigenen Gottesbeziehung und soll Eindruck auf den Alltag der Menschen heute hinterlassen – ganz im Sinne einer guten Resonanz. Hierzu bietet diese praktisch-theologische Darstellung gut fundierte reformatorische Grundlagen, hilfreiche Praxiseinblicke und aktualisierte und kritisch reflektierte Anregungen in ausgewogener Beurteilung.
Joachim Klein, Rektor (komm.) / Studienleiter am Theologischen Seminar Adelshofen