Altes Testament

André Tolksdorf: Die רוח als Perspektive für ein neues Leben

André Tolksdorf: Die רוח als Perspektive für ein neues Leben. Eine Studie zu Hes 36 und 37 als Kern des Hesekiel-Buches, Bibelstudien 30, Berlin: Lit, 2021, Pb., 350 S., € 49,90, ISBN 978-3-643-14867-4


Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die Publikation einer Dissertation, die der Verf. an der Protestantischen Theologischen Universität Amsterdam/Groningen unter Eep Talstra begonnen und unter Klaas Spronk zum Abschluss gebracht hat. Die Hauptthese der Arbeit ist, dass die Ruach (Geist, Wind, Atem) im Ezechielbuch (und von da aus auch in gesamtbiblischer Sicht) als Perspektive für ein neues Leben fungieren kann, wobei Ez 36 und 37 als Schlüsseltexte gesehen werden, die eine Antwort auf die negative Geschichtsdarstellung, wie sie besonders in Ez 20 zum Ausdruck kommt, geben.

Die These wird in zwölf Kapiteln entfaltet. Das einleitende Kapitel (I) gibt einen Forschungsüberblick über Leseweisen des Gesamtbuches und positioniert sich im Anschluss an das holistische Modell dahingehend, dass das Ezechielbuch als Ganzes zusammenhängt und eine Einheit bildet. Kapitel II setzt sich mit dem textkritischen Befund auseinander, insbesondere mit dem vorhexaplaischen Papyrus 967, in dem die Passage 36,23bβ-38 (also gerade die Ruach-Passage) fehlt und die Kapitel 38 und 39 vor Kapitel 37 platziert sind. Nicht so sehr aus Gründen der Textkritik, sondern mehr aus Gründen der Lesestrategie entscheidet sich der Verf., dem Masoretischen Text den Vorzug zu geben, da die Auslassung der genannten Passage und die Kapitelumstellung der Botschaft des Hesekiel-Buches die Mitte nehmen würde.

Kapitel III befasst sich mit der Buchentstehung und folgt dabei durchgehend den Datierungsangaben des Buches mit Annahme von zwei Wirkphasen (vor und nach der Zerstörung Jerusalems). Beide beinhalten Perspektiven, die wichtig sind für die Wiederherstellung Israels. In Kapitel IV folgt eine Strukturanalyse, wobei als wichtigste Strukturmerkmale die Datierungen, die Wortereignisformeln und „die Hand des Herrn“ gesehen werden. Insgesamt folgt der Verf. einer Zweiteilung (Gericht und Heil), wobei etwas überraschend die Völkersprüche, die in Kapitel III der ersten Wirkphase zugerechnet werden, hier nun dem zweiten Teil (das Gericht über die Völker als Heil für Israel) zugeordnet werden.

In Kapitel V werden alle Ruach-Vorkommen des Ezechielbuches aufgelistet und den deutschen Übersetzungsmöglichkeiten „Wind“, „Geist“, „Odem“, „Seite“ zugeordnet. Trotz dieser Zuordnungen wird im Fazit betont, dass das Wirken der Ruach nie als ein von Jhwh losgelöstes, eigenständiges Handeln verstanden wird und immer auf Vermittlung von Jhwh-Erkenntnis abzielt. Kapitel VI nimmt sodann als Kernkapitel der ersten Buchhälfte Kapitel 20 mit seiner pessimistischen Geschichtsdarstellung in den Blick. Besondere Aufmerksamkeit wird der Spitzenaussage Gottes gewidmet, dass er Israel Gebote gegeben habe, die nicht gut sind und Gesetze, durch die sie kein Leben haben konnten (20,25). Gemeint seien damit nicht die göttlichen Gesetze, sondern die heidnischen Gesetze, denen sich Israel im Götzendienst hingab.

Die folgenden beiden Kapitel, VII und VIII, bieten eine Exegese von Ez 36 und 37. Für Ez 36 wird im Vergleich mit Dtn 30 insbesondere betont, dass zum neuen Herzen auch die Ruach kommen muss. Ez 37 nimmt in seiner Vision der durch die Ruach belebten Totengebeine diese Verheißung auf. Die Zweiteilung von Ez 37 (1–14 und 15–28) nimmt die Gesamtstruktur des Buches auf, wobei die Vision der Totengebeine dem Gerichtsteil, die messianische Hirtenverheißung dem Heilsteil entspricht. Dabei ist es die Ruach, die den Wandel vom ersten zum zweiten Teil durch die Gabe neuen Lebens bewirkt. Der Erwartung des davidischen Hirten im Ezechielbuch widmet sich Kapitel IX. Die Gabe von neuem Herz und neuer Ruach verbinden sich mit dem Kommen dieses Hirten.

Es folgen zwei Kapitel, die die herausgearbeitete Heilsbotschaft gesamtbiblisch einordnen: Kapitel X tut dies im Rahmen alttestamentlicher Theologie, wobei einige alttestamentliche Parallelstellen (Ps 137; Klgld 5,15–22; Ps 51,12–14; Joel 2,25–35; 4,20–21; Jer 31,31–34; Ps 147,19–20) in Bezug zum Ezechielbuch gesetzt werden. Die Auswahlkriterien sind unklar. So hätte sich etwa für die Verbindung von Ruach-Gabe und Davidsverheißung auch Jes 11 angeboten. Kapitel XI nimmt den neutestamentlichen Kontext in den Blick. Die Verbindung von Wasser und Geist aus Ez 36 wird in Joh 3 aufgenommen, die Gräberöffnung aus Ez 37 in Mt 27,51–53. Die Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn nimmt nicht nur Dan 7 auf, sondern auch das Ezechielbuch, was z. B. daran deutlich wird, dass Jesus wie Ezechiel (je nach Deutung von Ez 1,1) im dreißigsten Jahr zu wirken beginnt. Jesus bringt als Davidsnachkomme letztlich in Erfüllung der Verheißungen das neue Herz und den neuen Geist und erfüllt das Gesetz. Kapitel XII fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen. Ein positiv zu würdigendes Charakteristikum dieser Studie ist die große theologische Ernsthaftigkeit, mit der nach der (auch für uns!) bleibenden und wirksamen Botschaft des Ezechielbuches in einem gesamtbiblischen Kontext gefragt wird. Dabei begegnet man immer wieder überraschenden Formulierungen und gehaltvollen Einsichten, die zum Weiterdenken anregen. Als Hauptschwäche würde ich (neben dem ungenügenden Lektorat des Buches) eine weithin fehlende methodische Transparenz nennen. Man wird von Einem zum Nächsten geführt, oft ohne klar zu verstehen, weshalb welche Auswahl und welches Urteil so und nicht anders getroffen wird. Um ein kleines Beispiel von großer Tragweite zu nennen: Die Aufteilung der Ruach-Vorkommen in verschiedene Deutungen wird ohne Diskussion präsentiert. So wird ohne weitere Begründung 2,2 („da kam Geist in mich und stellte mich auf meine Füße) der Bedeutung „Geist“, 37,10 („da kam Odem in sie … und sie stellten sich auf ihre Füße“) der Bedeutung „Odem“ zugeschrieben. Aufgrund dieser Kategorisierung wird der Bezug zwischen der Berufung Ezechiels und der Auferweckung Israels nicht gesehen und für die Auslegung folglich auch nicht fruchtbar gemacht. Hier wäre mit klarerer Methodik zur Bedeutung der Ruach im Ezechielbuch noch einiges mehr zu entdecken gewesen (z. B. auch zum Verhältnis von Ruach und Gesetz).


Prof. Dr. Benjamin Kilchör, Staatsunabhängige Theologische Hochschule Basel