Altes Testament

Jörg Jeremias: Nahum

Jörg Jeremias: Nahum, BKAT XIV/5,1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, geb., 226 S., € 69,–, ISBN 978-3-7887-3369-8


Mit diesem Band legt Jeremias eine Auseinandersetzung mit dem Nahumbuch vor, die von einer traditions- und redaktionskritischen Perspektive geprägt ist und einer synchronen Lektüre nur wenig abgewinnen kann. Für Entwürfe, die Spannungen im Buch wahrnehmen, ohne sie (redaktions-)kritisch auszuwerten, bleiben oft nur problematisierende Aussagen übrig wie „Für die kritische Sicht der gegenwärtigen deutschsprachigen Forschung (unter Einschluss von B. Renaud und J. Nogalski) ist eine solche harmonisierende Betrachtung des Nahumbuches nicht möglich.“ (12). Jeremias redaktionskritische Analyse des Buches folgt dabei den Überlegungen: „Für alle hat die Botschaft des älteren Propheten primär politischen Charakter besessen, während die aktualisierenden späteren Texte primär theologische Intention verfolgen; sie sind deshalb den älteren Texten als hermeneutischer Schlüssel vorangestellt worden.“ (ebd.). So verwundert es nicht, dass man nach vertiefenden oder weiterführenden Auseinandersetzungen mit synchronen Perspektiven in der Regel vergeblich sucht. Eine solche geschieht hier und da, aber es entsteht der Eindruck, dass synchron für Jeremias vor allem (oder ausschließlich?) harmonisierend gedacht werden kann. Die Komplexität (und Vielfalt) von synchronen Perspektiven wird in diesem Kommentar nicht sichtbar.

Jeremias Kommentierung ist getragen von vielen wertvollen Beobachtungen und Überlegungen, so beispielsweise von dem Hinweis auf königliches Handeln „wie eine Flut“ in assyrischer Literatur oder der Rede von Flut in königlichen Vasallenverträgen (86), die der Kommentierung von 1,8 beigegeben werden. Gleiches gilt für die Bemerkung, dass in der Hebräischen Bibel kein Adjektiv für „rachsüchtig“ oder „zornig“ zu finden ist; vielmehr ist von Handlungen „im Zorn“ oder einem Üben von Rache die Rede (63). Ebenso die Unterscheidung von nach innen gerichteten Gefühlen und nach außen gerichteten Emotionen (64, Anm. 20) regt zu weiteren Überlegungen an. Die Vielzahl und Vielfalt solcher Beobachtungen und Hinweise lassen die Lektüre des Kommentars immer wieder zum Gewinn werden und bieten viele Möglichkeiten an, am und mit dem biblischen Text weiterzudenken. Gleichzeitig mag man es immer wieder bedauern, dass im Kommentartext selbst in der Regel diese Vertiefungen und Weiterführungen nicht zu finden sind, was aber angesichts der vorliegenden Seitenzahl nicht verwundern sollte. So ist unter anderem bedauerlich, dass keine weiteren Möglichkeiten zum Verständnis eines unvollständigen Akrostichons diskutiert werden (18). Manche weichenstellende Aussage (wie z. B. 58) wirkt apodiktisch, ist aber zum einen der erwiesenen Kompetenz des Verfassers und seiner zahlreichen Veröffentlichungen zu den kleinen Propheten oder auch zu Fragen der AT-Theologie geschuldet. Zum anderen begrenzt Jeremias die Kommentierung des Nahumbuches damit mit allen Beigaben auf 226 Seiten, was den vorliegenden Band zu einem guten Gegenüber von Heinz-Josef Fabrys Beitrag in der Reihe Herders Theologischer Kommentar zum AT macht.

Die Reflexion zu Nahum als Teil des Zwölfprophetenbuches wird auf den Seiten 35–38 recht knapp behandelt, was wohl nicht nur dem Umfang der Kommentierung geschuldet ist, sondern auch der Fokussierung auf den „eigentlichen“ Text in Nahum. Dennoch wäre hier zu fragen, ob in der Kommentierung von 1,3 nicht auch Wesentliches aus dem Blick gerät, wenn weder der Micha-Schluss noch 1,7f eine so grundlegende Aussage verhindern können wie „Aus dem Bekenntnis in Ex 34,6f ist also trotz bewusster sprachlicher Übereinstimmung in Nah 1,3a eine nahezu konträre Aussage über Gott geworden.“ (73). Eine bewusste sprachliche Übereinstimmung provoziert, ja verlangt m. E. eine Lektüre von Nah 1 zusammen mit Ex 34,6f, womit die Rede von einer konträren Aussage über Gott noch einmal zu diskutieren wäre, insbesondere auch weil Jeremias selbst die Spannung beschreibt, die sich aus „Gottes ‚Langsamkeit zum Zorn‘“ (ebd.) gegenüber den Feinden ergibt.

Es mag für einige Leserinnen und Leser von besonderem Interesse sein, dass Jeremias diesen Kommentar einige Jahrzehnte nach der Abfassung seiner Habilitationsschrift vorlegt, in der er sich auch mit Nahum beschäftigt hat und bisweilen zu anderen Ergebnissen kommt. Er hat „damals gemeint, dass es neben prophetischen Worten gegen Assyrien auch Worte gegen Israel enthalten habe, die zusammen redaktionell gegen die neue Besatzungsmacht der Babylonier gerichtet worden seien. Solche Worte gegen Israel habe ich nach Ablauf der vielen Jahrzehnte nicht mehr zu finden vermocht.“ (7). Es wäre sicherlich noch einmal interessant, darüber auf verschiedenen Ebenen ins Gespräch zu kommen. So lenkt Jeremias beispielsweise die Aufmerksamkeit auf eine Unterscheidung in Nahum 1: „Der Abschlussteil V. 7f dagegen teilt die betroffenen Menschen in zwei Gruppen ein: In Nominalsätzen bietet er den auf Gott Vertrauenden Rettung an, in imperfektischen Verbalsätzen mit Zukunftsaspekt kündigt er prophetisch Gottes Feinden Vernichtung an.“ (53) und kommt m. E. zu der angemessenen Schlussfolgerung, „dass die nicht näher charakterisierten ‚Feinde Gottes‘ nicht nur in Gestalt mächtiger Fremdvölker existieren, sondern auch innerhalb Israels vorauszusetzen sind.“ (60). Das verlangt m. E. nach weiterführenden theologischen Überlegungen, die sich nicht nur damit beschäftigen, wie sich diese Beobachtung und Schlussfolgerung in das Buch oder in das Zwölfprophetenbuch fügt. Vielmehr sollte das auch noch einmal die Lektüre des Nahumbuches selbst beleuchten. Mit dieser Teilung in zwei Gruppen an prominenter Stelle, also im eröffnenden Hymnus, und mit der Herausforderung, die Adressaten in den folgenden Versen präzise zu bestimmen, steht wohl nicht nur die Frage im Raum, ob es Worte gegen Israel im Buch gibt (wie auch immer dann auch die Formulierung „Worte gegen Israel“ gefüllt wird). Vielmehr geht es auch um die Frage, ob eine „klassische“ Sicht, wie sie auch bei Jeremias zum Ausdruck kommt, vielfach undifferenziert diesen Versen und daher auch dem Buch angemessen ist, nämlich der Gedanke, dass diese Verse (vor allem oder ausschließlich) als Hilfe für ein notleidendes Volk als Ermutigung dient, da JHWH die Not wenden wird. Dieser Kommentar erweist sich als wertvoller Gesprächspartner. Es ist ein Kommentar, den man neben und mit Fabrys Kommentar zu Nahum in die Hand nehmen sollte, wenn man sich mit dem Buch oder einzelnen Versen im Buch beschäftigt. Besonders wertvoll sind (wie immer in der BKAT-Reihe) die ausführlichen Anmerkungen zum Text.


Heiko Wenzel, Ph.D. (Wheaton), Akademie für Kirche und Gesellschaft, Wien