Klaus Haacker: Zeugnis und Zeitgeschichte
Klaus Haacker: Zeugnis und Zeitgeschichte. Studien zum lukanischen Werk, BWANT 235, Stuttgart: Kohlhammer, 2022, kt., 244 S., € 69,–, ISBN 978-3-17-041646-8
Prof. em. Dr. Klaus Haacker war seit 1975 bis zu seiner Emeritierung 2007 Professor für Neues Testament und seine Umwelt an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Die Beschäftigung mit der Thematik des Aufsatzbands geht bis ins dritte Semester (1963) seiner eigenen Studienzeit zurück, als er für ein Seminar seines späteren Doktorvaters (Gustav Stählin) ein zusammenfassendes Protokoll erstellen musste. Hier fanden für Haacker erste Weichenstellungen statt, die seine Arbeit in diesem Forschungsbereich prägen sollten (7).
Der Verfasser hat 2019 einen Kommentar zur Apostelgeschichte in der ThKNT Reihe vorgelegt. Die meisten Beiträge im vorliegenden Band sind aus der Not entstanden, dass die Kommentierung 400 Seiten nicht wesentlich überschreiten sollte und somit nicht genügend Seiten zur Verfügung standen, um alle Exkurse und Diskussionen einzubringen (8). In Zeugnis und Zeitgeschichte hat der Verfasser diese nachgereicht und mit einigen zuvor erschienen Beiträgen zum Thema ergänzt. Somit setzt sich der Band aus acht neuen und sechs älteren Aufsätzen zusammen. Da die älteren Aufsätze manchen schon bekannt sein dürften, werde ich in dieser Rezension nur auf die neuen Beiträge eingehen.
Im eröffnenden Kapitel mit dem Titel „Zur Einstimmung: Wozu ist die Apostelgeschichte gut?“ stellt sich Haacker der Frage, welche Informationen aus dem Urchristentum exklusiv in der Apostelgeschichte überliefert sind. Hier kommen besonders Elemente der Paulusbiographie zur Sprache, aber auch Fragen wie die nach dem Verhältnis der Apostelgeschichte zum Galaterbrief.
Ein sehr kurzer Beitrag zum „Schlüsselwort ‚Zeugnis‘“ begründet die prominente Position des Wortes im Titel des Buches. Vom offenen Prozess des Paulus am Ende der Apostelgeschichte und anderen Beobachtungen leitet Haacker die These ab, dass es sich bei dem zweiten Teil des lukanischen Doppelwerks auch im juristischen Sinne um ein Zeugnis handle. Die Apostelgeschichte solle demnach als eine Art Fürsprecher für Paulus vor dem römischen Gericht wirken. In den anderen neu für den Band verfassten Beiträgen wird diese These durch weitere Argumente untermauert und im letzten Beitrag auch leicht modifiziert. So bespricht Haacker im Kapitel „Jesusgeschichte und ‚Apostelgeschichte‘ im Kontext der Zeitgeschichte“ die verschiedenen Interaktionen zwischen dem Urchristentum und den Machthabern und argumentiert beispielsweise zur Gallio-Episode, dass Lukas hier Gallios Entscheidung, die Anklage gegen Paulus als innerjüdischen Disput abzutun (Apg 18,14–15), womöglich als Lösung für den Prozess in Rom propagiere (51). Die Unschuld des Paulus erkennen auch Agrippa II. und Berenike (Apg 26,30–32), die als lebende Zeugen befragt werden könnten (59).
Unter der Überschrift „Schicksalsjahr 44 n. Chr.? Die Krise unter Agrippa I. (Apg 12)“ fasst Haacker seine Auseinandersetzung mit einer älteren literarkritischen These zusammen. Nach dieser These handelt es sich bei Jerusalemreisen des Paulus und Barnabas in Apg 11/12 einerseits und Apg 15 andererseits um ein und dieselbe Reise, die in verschiedenen Quellen unterschiedlich überliefert und von Lukas nicht als identisch erkannt wurde. Wenn demnach das in Kapitel 15 berichtete Treffen in Jerusalem zeitlich vor der Ermordung des Zebedaiden Jakobus durch Herodes Agrippa I. stattfand, dann könnte es sich bei dem Redner in Apg 15,13–21 um diesen Jakobus und nicht, wie sonst angenommen, um den Herrenbruder handeln. Dafür spreche nach Haacker auch die Autorität, welche die Rede auf die Versammlung, deren Beschluss und Brief (Apg 15,22–29) auslöst.
Eine Reihe von geographischen Fragen werden im Kapitel „Geographische Probleme im lukanischen Werk“ meist äußerst prägnant diskutiert. Auch hier kann man die Charakteristik der Beiträge besser nachvollziehen, wenn man sie als Exkurse zu geographischen Fragen innerhalb eines Kommentars versteht.
Weiter beschäftigt sich Haacker mit dem „Respekt vor den Göttern der Anderen“ in der jüdischen Diasporatheologie, der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen. Besonders wird hier die Vokabel εἴδωλον und ihr Gebrauch im Gegensatz zur Rede vom „lebendigen Gott“ in 1Thess 1,9 diskutiert.
Nach einigen älteren Aufsätzen zu den Reden der Apostelgeschichte greift Haacker in einem Beitrag mit dem Titel „Licht aus Athen auf Lukas, Ad Theophilum? Zur Thukydides-Rezeption in der Acta-Forschung“ die sprachlichen Herausforderungen des sogenannten Redensatzes von Thukydides auf. Der Beitrag basiert auf einem 2020 in der Zeitschrift Gymnasium erschienenen Aufsatz des Verfassers. Sein Fazit lautet, dass Thukydides „den voluntativen Gehalt von Reden kennen oder erfahren konnte, aber dessen sprachliche Gestaltung (das Wie [hōs] des eipeín) nach seinem Ermessen abgefasst hat“ (210, Hervorhebungen im Original). Dass dieser Satz des Thukydides häufig fälschlicherweise rein fiktional gedeutet wurde, ist nach Haacker nicht Licht, sondern Schatten, der von dort auf die Reden der Apostelgeschichte gefallen ist.
Den letzten Beitrag widmet Haacker den ersten Versen des Lukasevangeliums: „Der Prolog zum lukanischen Werk (Lk 1,1–4) – neu gelesen“. In der ersten Fußnote erklärt der Verfasser, dass sich die Formulierung „neu gelesen“ auch auf sein eigenes bisheriges Verständnis beziehe, denn die Überlegungen seien erst bei der mehrmaligen Lektüre des Kommentars für die Drucklegung entstanden und deshalb noch nicht Grundlage desselben. Im Beitrag greift Haacker die These auf, dass παρακολουθέω in Lk 1,3 nicht „recherchieren“, sondern „miterleben“ meint und die Augenzeugenschaft des Lukas andeutet. Das müsste sich nach Haacker allerdings nicht auf das Lukasevangelium beziehen, wenn man Lk 1,1–4 als Prolog für das zweiteilige Gesamtwerk verstehen und darin zwischen den Aussagen zum ersten Teil (Lk 1,2: Evangelium) und zum zweiten Teil (Lk 1,3: Apostelgeschichte) unterscheiden würde (217). Als mögliches historisches Szenario schlägt Haacker vor, dass es sich bei der Apostelgeschichte um eine Richtigstellung gegenüber gefährlichen Gerüchten handle, die einem jüdisch-römischen Fürsprecher am Hof als Grundlage für den Prozess des Paulus dienen solle. Der Aufsatzband deckt eine große Breite an Themen und Ansätzen ab. Sprachliche Tiefenbohrungen und beachtliche Detailanalysen stehen hier neben allgemein verständlichen Einführungen, geographische Exkurse neben Überlegungen zum Bild der Kirchen in der Öffentlichkeit der Gegenwart. Die Leserinnen und Leser werden somit auf mehreren Ebenen informiert und herausgefordert, die dargelegten Beobachtungen und Thesen zum lukanischen Werk ebenso breit zu verarbeiten. Obwohl nicht alle Interpretationen in den Beiträgen ausführlich begründet werden und daher wohl auch nicht alle Auslegerinnen und Ausleger sofort überzeugen werden, versteht es der Autor hervorragend, prägnant in die Fragestellungen einzuführen und mögliche Lösungsansätze zu skizzieren und häufig auch detailliert zu begründen. Gerade als Ergänzung zur Lektüre des oben genannten Kommentars ist der Aufsatzband deshalb sehr zu empfehlen.
Dr. Daniel Gleich, Dozent für Neues Testament, Theologisches Seminar St. Chrischona