Altes Testament

Hermann Spieckermann: Psalmen

Hermann Spieckermann: Psalmen. Band 1: Psalm 1–49 ,ATD 14, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2023, Ln., XX+473 S., € 99,–, ISBN 978-3-525-51646-1


Der emeritierte Göttinger Alttestamentler (Vf.) legt hiermit den ersten Band seines Kommentars zu den Psalmen vor. Damit sind zwei deutschsprachige Psalmenkommentare zum ersten Drittel der Psalmen jüngst erschienen: Dieter Böhler beschließt die dreibändige Psalmenkommentierung in der Reihe „Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament“ (HThKAT), Spieckermanns eröffnet die Neubearbeitung der Psalmen in der traditionsreichen Reihe „Das Alte Testament Deutsch“ (ATD) und löst die zweibändige Auslegung von Artur Weiser ab, die vor über 70 (!) Jahren erschienen ist.

Die Einleitung bietet Angaben zu den Psalmen und deren Einordnung (Textüberlieferung, Genre, Analogien in Israels Umwelt, Forschungsgeschichte etc.). Dabei werden Einsichten und Gewichtungen des Vf.s erkennbar. Die gut 90 Seiten umfassende Einleitung ist – nach einer Literaturliste – in 8 Kapitel unterteilt. Mir ist bisher kein Psalmenkommentar in die Hand gekommen, der mit derart grundsätzlichen und theologisch tiefgründigen Ausführungen über das Beten beginnt – ein Juwel in diesem Band. Vf. sieht in „Hymnen und Gebeten“ die Grundkategorien im AT wie in den Israel umgebenden Kulturräumen, deren Literatur dargestellt wird. Als die biblischen Psalmen prägende Vorstellung nennt er die „Hochschätzung des göttlichen und irdischen Königtums und des gedeihlichen Zusammenwirkens von Jhwh und König zugunsten von Volk und Land und einem jeden, der die Gottesnähe sucht“ (23). Es folgt eine Auslegeordnung der Bezeichnungen für die Psalmen. Danach werden Sachverhalte zu den Textzeugen (DSS, MT, LXX) erörtert. Hierbei fällt auf, dass Vf. – m. E. zu Recht – die neuen Trends, welche die Betonung der Qumranhandschriften mit einer Relativierung des Stellenwerts des masoretischen Textes und einer generellen „Fluidität“ antik-jüdischer Textüberlieferung verbinden, nicht teilt. Die Psalmenfragmente vom Toten Meer vermögen das Zustandekommen des MT aber kaum zu erhellen. Ein größeres Gewicht räumt er der LXX ein und sieht eine hohe Konvergenz von vormasoretisch hebräischer und griechischer Texttradition. Das Kapitel über die Psalmenforschung beginnt mit Gunkel und Mowinckel und schließt mit Hossfeld/Zenger. Dabei werden zwei eigene Profile gesteckt: zum einen mit der Aussage, dass Vf. „kaum Gebrauch vom formgeschichtlichen Zugang in der Weise Gunkels und seiner Nachfolger“ (41) mache, zum andern, dass „von den redaktions- und kompositionsgeschichtlichen Einsichten der Psalmenforschung“ (41) Gebrauch gemacht wird. Kurz gefasst: Redaktionsgeschichte und Theologie (Textstadien/Endfassung), nicht aber Gattungsgeschichte. Die Textformen werden gleichwohl erwähnt: von den Hymnen (nach Vf. die größte Gruppe im Psalter) über die Bitt- und Klagegebete sowie die Dank- und Vertrauensgebete bis zu den Lehrpsalmen (v. a. Akrosticha). Unter der Rubrik „Der Psalter im Werden“ kommen die Überschriften, der musikalische Vortrag und die Teilsammlungen zur Sprache. Die erste Davidsammlung (Ps 3–41*) ist gemäß Vf. die älteste im Psalmenbuch. Die Hypothese der Zweiteiligkeit des Psalters in einen messianischen (Ps 2–89) und einen theokratischen Psalter (Ps 90–150) teilt Spieckermann nicht. Der Psalter hat im Bereich des 5. Teilbuchs mehrere provisorische, später weitergeführte Abschlüsse gehabt (Ps 112; 119; 136; 150); ähnliches gilt für die erste Davidsammlung (Ps 24; 35; 37). Was deren Subgliederung betrifft, hält er eine Konfiguration Ps 15–24 für obsolet. Dagegen geht er neben dem doppelten Eingang (Ps 1–2) von einer Kleingruppe Ps 3–7 sowie den Psalmclustern Ps 20–29 und Ps 30–34 aus. Die diachrone und synchrone Kontur dieser Gruppierungen bleiben jedoch blass. Ps 149 ist der jüngste Text im Psalter; eine doppelte Inclusio (Ps 1–2|149–150) ist eher Wunsch als Wirklichkeit. Hat die Einleitung mit Überlegungen zum Gebet begonnen, so endet sie mit einer skizzierten Theologie der Psalmen und des Psalters. Das letzte wie das erste Kapitel gehören zum Besten dieses Werks.

Die Einzelauslegung der ersten 49 Psalmen macht den Hauptumfang des Kommentarbandes aus. Sie geht den folgenden sechs Schritten entlang: 1. Überschrift zum Psalm, 2. Übersetzung (strukturiert nach Zeilen und Strophen, spätere Textstufen in eckigen Klammern, Angaben zur Textüberlieferung sowie zur Begrifflichkeit) und 3. Literaturangaben. Die eigentliche Auslegung erfolgt danach im Dreischritt: 4. Kontext, 5. Komposition (Form, Gliederung, Fortschreibungen, literargeschichtliche Einordnung) und 6. Kommentar (exegetische Fragen, theologische Kontur – in der letzten Fußnote wird auf die Rezeption des Psalms hingewiesen). Ich greife exemplarisch die ersten drei Psalmen heraus und beschränke mich auf wenige Stichworte:

Ps 1: Dreiteilige Struktur: V. 1a–2b.3a–4b.5a–6b (3c und 5ab sind spätere Erweiterungen); frühnachexilisch komponiert als Eröffnungspsalm von Ps 1–41 (ohne Ps 2, dieser kommt später dazu); Jhwh ist „kundiger Wegbegleiter allein für die, die er die Gerechten nennt: die Liebhaber seiner Tora. Beide hat er zuerst geliebt“ (100).

Ps 2: Vierteilige Struktur: V. 1a–3b.4a–6b.7a–9b.10a–12d (sekundär sind: 2c, 7a, 12a und 12d); verschiedene Wachstumsstufen, vorliegende Gestalt als Ergänzung zu Ps 1 für die Eröffnung der Psalmensammlung Ps 2–89 nachexilisch erschaffen.

Ps 3: Vierteilig (nach Überschrift in 1): V. 2a–3b.4a–5b.6a–7b.8a–9b (9ab als kollektive Ausweitung ist sekundär); Ps 3 eröffnet die erste Davidsammlung (Ps 3–41) und zugleich Ps 3–7 als deren erste Gruppe.

Bereits bei den ersten drei Psalmen manifestiert sich eine dezidiert redaktionsgeschichtliche Sichtweise (Ps 2,12a.d und Ps 3,9 werden öfters redaktionell „verdächtigt“, die übrigen Verse dagegen kaum). Nur wenige Psalmen (z. B. Ps 11; 15; 23; 30 und überraschenderweise Ps 27, der meist redaktionell-komposit beurteilt wird) werden vom Vf. als einheitlich beurteilt. Dieser Befund tut der Tatsache freilich kaum Abbruch, da die exegetische und theologische Kommentierung meist gehaltvoll und gewinnbringend und dem Verstehen der einzelnen Psalmen dienlich ist.

Kommen wir zu einer abschließenden Beurteilung: Der Einleitungsteil ist dicht und die Ausführungen kenntnisreich, mit teils überraschenden Einsichten. Die theologischen Rahmenteile der Einleitung sind ausgezeichnet, und ähnliches gilt für die gehaltvolle Ausschöpfung der Psalmeninhalte. Von den drei „K“ überzeugt der „Kommentar“ am meisten, am wenigsten der „Kontext“. Vf. vertritt eine nicht recht durchschaubare Position zwischen Psalmexegese und Psalterexegese und zwischen Diachronie und Synchronie: Klein- und Teilgruppen werden angenommen, aber ohne Konsistenz und wesentlichen Ertrag. Bei der „Komposition“ kommt die redaktionsgeschichtlich geprägte Sichtweise der „Göttinger Schule“ zum Tragen (Beispiele wurden genannt). Gewisse Annahmen sind nachvollziehbar oder jedenfalls diskutierbar, andere nicht, vieles bleibt (zu) unsicher.

Die Krone dieses Kommentars ist die Theologie, sowohl die Einführung als auch die Kommentierung betreffend. Auf dem Buchumschlag steht: „Der Kommentar will allen eine Hilfe sein, denen die Psalmen kostbar sind und die verstehend und betend von ihnen Gebrauch machen wollen.“ Mögen die (zwei?) Folgebände von Spieckermanns Psalmenauslegung in der ATD-Reihe bald erscheinen und der genannten Absicht dienen.


Beat Weber, Pfr. Dr. theol., Basel; Research Associate am Department of Ancient and Modern Languages and Cultures, Universität Pretoria, Südafrika