Neues Testament

Ulrich Mell / Michael Tilly: Der 1. Thessalonicherbrief und die frühe Völkermission des Paulus

Ulrich Mell / Michael Tilly: Der 1. Thessalonicherbrief und die frühe Völkermission des Paulus, WUNT 479, Tübingen: Mohr Siebeck, 2022, 627 S., € 164,–, ISBN 978-3-16-160690-8


Dieser Sammelband, der „auf ein interdisziplinäres und interkonfessionelles Symposium“ zurückgeht, „das vom 24. bis zum 26. März 2017 in Tübingen zum Thema ‚Der frühe Paulus‘ veranstaltet wurde“ (Vorwort), enthält 22 Aufsätze von 22 verschiedenen Autoren. Es würde zu weit führen, wenn man jeden einzelnen Beitrag ausführlich besprechen wollte. Darum soll im Folgenden lediglich kurz dargelegt werden, worum es jeweils geht.

In der Regel vergleichen die Autoren einen oder mehrere Aspekte des 1. Thessalonicherbriefs mit demselben Thema in einem oder mehreren „späteren“ unumstrittenen Paulusbrief(en). Dabei steht die Frage im Zentrum, ob sich Paulus in seinem theologischen Denken „entwickelt“ habe – was allerdings mit dem Titel nicht angedeutet wird. Voraussetzung dabei ist insgesamt, dass der 1. Thessalonicherbrief das erste erhaltene Schreiben des Apostels Paulus sei. Wenn der 1. Thessalonicherbrief dabei allgemein um 50 n. Chr. datiert wird, so kann man sich diesbezüglich auf einen breiten Konsens berufen.

Der Galaterbrief wird dabei grundsätzlich später datiert. Selbst Dieter Sänger, der in einem früheren ausführlichen Aufsatz die Argumente gegen die südgalatische Empfängerschaft und gegen die Frühdatierung gründlich widerlegt hat, spricht sich gegen eine „extreme Frühdatierung des Galaterbriefs“ aus (468), auch wenn er sich in dieser Hinsicht grundsätzlich differenzierter äußert als die übrigen Autoren. Es gibt jedoch wichtige Gründe dafür, den Galaterbrief als frühesten Brief des Apostels Paulus im Neuen Testament zu betrachten. Dann ist die Ausgangslage zur Beurteilung einer möglichen „Entwicklung“ im theologischen Denken des Apostels natürlich eine andere.

Die Beiträge des Bandes sind in fünf Themenbereiche eingeteilt: I. Zugänge zum „frühen“ Paulus; II. Zu den Anfängen der frühen paulinischen Völkermission; III. Kontexte des 1. Thessalonicherbriefes; IV. Der 1. Thessalonicherbrief als Zeugnis der frühen Völkermission des Paulus; V. Kontinuität und Diskontinuität reflektiert am 1. Thessalonicherbrief.

I. Zugänge zum „frühen“ Paulus

Michael Theobald: Kohärenz und Kontingenz. Zur Frage nach einer Periodisierung der Lebensgeschichte des Paulus und den Kriterien ihrer Beantwortung (1–13). Theobald geht auf die Problematik der „Periodisierung“ der Paulustheologie ein. Dabei erwähnt er u. a., dass solche, „die hartnäckig an der Authentizität der ‚Patoralbriefe‘ festhalten, … aus ihnen ein Wirken des Apostels zwischen einer ersten und zweiten römischen Gefangenschaft mit gravierenden Folgen für sein angebliches theologisches ‚Spätwerk‘“ konstruierten (2). Anschließend geht Theobald anhand von fünf Themen (u. a. die Rechtfertigungslehre) auf die Frage nach Kohärenz und Kontingenz in den Paulusbriefen ein (7–10). Schlussendlich wird in sieben Punkten gefolgert, was diesbezüglich zu beachten sei (10–12), bevor ein Anhang eine Übersicht darüber gibt, wo Themen des Römerbriefs in den anderen unumstrittenen Paulusbriefen angesprochen werden (12f).

Eckart David Schmidt: Gibt es Neues zur Frage nach Authentizität und Datierung des 1. Thessalonicherbriefs? (15–43). Schmidt geht zuerst relativ ausführlich auf die breit vertretene Datierung des 1. Thessalonicherbriefs um 50 n. Chr. ein (15–20), bevor er die Kritik von Gerd Lüdemann mit seiner Frühdatierung um 41 n. Chr. darlegt (20–28). Anschließend geht es um die Annahme in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass es sich beim 1. Thessalonicherbrief um ein pseudepigraphisches Schreiben handle (29–37), und um die Position von Marlene Crüsemann am Ende des 20. Jahrhunderts (37–42).

Markus Öhler: Paulus und Antiochien (45–68). In diesem Beitrag geht es um den in Gal 2,11ff. erwähnten Streit in Antiochia, der nach Öhler „die ganze Versammlung der Christusgläubigen in Antiochien“ betraf und infolge dessen der Apostel „nicht mehr in die Gemeinde“ gekommen sei und sich „mit ihr anscheinend auch nicht mehr verbunden“ gefühlt habe (45). Im Anschluss daran datiert Öhler den Konflikt auf das Jahr 52 n. Chr., und der Empfängerkreis des Galaterbriefs wird in den südgalatischen Gemeinden gefunden (51), und noch später wird die Problematik in Antiochia, die zum Apostelkonzil führte, in „den späten 40er Jahren, wahrscheinlich um 47 n. Chr.“ datiert (62). Zu beachten wäre allerdings, dass die Problematik, um die es in Gal 2,11ff. geht, erst zum Apostelkonzil in Jerusalem führte (vgl. Apg 15,1f.24). Und auch danach hatte Paulus der Apostelgeschichte zufolge weiterhin Kontakt zur Gemeinde von Antiochia. Im letzten Teil des Aufsatzes geht Öhler u. a. auf die Auseinandersetzung zwischen Barnabas und Paulus nach Apg 15,36-39 ein, die „deutlich vor dem antiochischen Konflikt anzusetzen ist“, obwohl Lukas Öhler zufolge „diesen Konflikt auf die Zeit unmittelbar nach dem Apostelkonvent“ ansetzt (64).

II. Zu den Anfängen der frühen paulinischen Völkermission

Babett Edelmann-Singer: Paulus, die thessalonische Gemeinde und ihr hellenistisch-römisches Umfeld. Das Konzept einer Dichotomie und seine Probleme (69–91). Edelmann-Singer will das „Konzept einer Dichotomie“, wonach in der Mitte des 1. Jh. n. Chr. eine in sich geschlossene christliche Welt einer „dem Vernehmen nach wiederum sehr homogen gedachte ‚heidnische‘ Umwelt“ gegenübersteht, hinterfragen (69). Edelmann-Singer geht auf die römische Provinz Makedonien (70–73) sowie auf die Stadt Thessaloniki (70–77) und den 1. Thessalonicherbrief „im Kontext von Reich, Provinz und Polis“ (77–86) ein. Dann wird die Frage gestellt, ob es überhaupt eine gemeinsame semantische Grundlage zwischen Paulus, der als „jüdischer Apostel“ bezeichnet wird, und den Gläubigen in Thessaloniki, „deren heidnische oder jüdische Hintergründe umstritten sind“ (88f), gegeben habe (87–91). Dass die Thematik nicht übergangen wird, ist sicher richtig, doch beachtet Edelmann-Singer m. E. zu wenig, dass Paulus nicht nur in einer „heidnischen“ Stadt aufgewachsen ist, sondern offensichtlich auch eine breite „heidnische“ Bildung besaß, wie in seinen Briefen wiederholt deutlich wird.

Marlis Gielen: Kephas – Jakobus – Barnabas. Drei frühchristliche Führungspersönlichkeiten und ihr Verhältnis zu Paulus im „Rückspiegel“ des Galaterbriefs und des 1. Korintherbriefs (92–131). Kephas, Jakobus und Barnabas werden dabei „im ‚Rückspiegel‘ des Galaterbriefes“ (97–119) und „im ‚Rückspiegel‘ des 1. Korintherbriefes“ (120–130) behandelt. Dabei wird von einer Datierung des Galaterbriefs „einige Monate nach dem 1. Korintherbrief“ (im Herbst 55 n. Chr.) ausgegangen (97, Anm. 18). Ein Fazit ist, „dass Paulus diese drei urchristlichen Persönlichkeiten auch nach dem antiochenischen Zwischenfall weiterhin hochschätzte und nicht vergessen hatte“ (131).

Ulrich Fellmeth: Die Mobilität des frühen Paulus (133–144). Fellmeth geht zuerst auf das Reisen im 1. Jahrhundert n. Chr. ein (133–136) und anschließend auf die Mobilität des „frühen Paulus“ und „die genutzten Routen“ (136–144). Es werden dabei auch verschiedene Karten eingefügt, welche die damaligen Straßenverhältnisse aufzeigen – so z. B. die Karte auf S. 141 mit den Hauptstraßen in Kleinasien als Auszug aus Wittke/Olshausen/Szydlak, Historischer Atlas der antiken Welt, 2012.

Monika Schuol: Paulus, seine Reisen und seine Briefe im Licht des römischen Transport- und Nachrichtenwesens (145–154). Schuol beschreibt die Routen der paulinischen Missionsreisen (145–151). Im Anschluss daran geht es um die Übermittlung der Paulusbriefe „im Kontext der antiken Nachrichtenübermittlung“ (151–154). Sie schlussfolgert: „Sowohl Paulus‘ Wahl der Reisewege und der Transportmittel als auch die Beförderung seiner Briefe durch Personen seines Vertrauens fügen sich gut in die Reisegewohnheiten und die Praxis der Nachrichtenübermittlung der frühen Kaiserzeit ein“ (154).

Ulrich Mell: Zur Strategie der frühen Völkermission des Paulus (155–178). Mell versucht nach eigenen Worten die Angaben des 1. Thessalonicherbriefs über den Verlauf des Apostels in Griechenland „zu erheben, um anschließend in einer Auswertung zu fragen, unter welchen pragmatischen Bedingungen Paulus seine frühe Völkermission nach dem Verlassen von Antiochia durchführte“ (155). Der Brief, der in Korinth geschrieben worden sei, stelle einen Strategiewechsel des Apostels dar, wobei Mell vor allem von 1Thess 5,27 ausgeht, wonach der Brief in der ganzen Gemeinde gelesen werden soll (175). Aus dieser „bewussten Entscheidung für eine Neuausrichtung der paulinischen Mission“ sei der Brief entstanden (177).

Bernhard Mutschler: Silvanus/Silas und Timotheus als Mitarbeiter des Paulus. Eine Spurensuche in der Apostelgeschichte und im 1. Thessalonicherbrief (179–227). Mutschler geht zuerst auf Silas in der Apostelgeschichte – der mit dem „paulinischen Silvanus“ identifiziert wird (179) – ein (180–195) und dann auf Timotheus in der Apostelgeschichte (195–204), bevor es um Silvanus und Timotheus im 1. Thessalonicherbrief geht (204–227) – mit einem „Seitenblick“ u. a. auf Apg 17,1–10 (213ff.).

III. Kontexte des 1. Thessalonicherbriefs

Hermann Lichtenberger: Licht, Finsternis und Prädestination in 1Thess 5,4–11 und Qumran (229–243). Einleitend wird mit Heinz-Wolfgang Kuhn betont, dass kein anderer Paulusbrief näher zu Qumran stehe als 1Thess 5,4–9 (229). Anschließend wird 1Thess 5,4–11 zuerst im paulinischen Kontext untersucht (229–236), bevor es um „Licht, Finsternis und Prädestination in Texten von Qumran“ geht (236–242). Abschließend wird betont: „Eine Abhängigkeit der Qumrantexte von Paulus ist noch unwahrscheinlicher als die des Paulus von Qumran“ (242). Eine genauere Antwort auf die Parallelen wird nicht gegeben.

Gert J. Steyn: Tropen und Topoi. Rhetorische Ausgestaltungen im Corpus Philonis und im 1. Thessalonicherbrief (245–268). Steyn verweist auf die Bedeutung der Liebe zu Gott, der Liebe zur Tugend und der Liebe zu den Menschen bei Philo (prob 83), wobei betont wird, dass Philo „einen interessanten Einblick in den Einfluss der jüdischen Schulbildung“ gebe (246). Anschließend geht es um die Frage nach der Herkunft der „rhetorischen Kompetenz des Paulus“ (246f). Steyn geht besonders auf jüdische Parallelen zu Philo und Paulus ein und zieht daraus Schlussfolgerungen (249ff). Am Schluss werden Parallelen und Unterschiede zwischen Philo und Paulus in Bezug auf verschiedene „rhetorische topoi“ (256–266) und in einer Zusammenfassung (266f) dargelegt.

IV. Der 1. Thessalonicherbrief als Zeugnis der frühen Völkermission des Paulus

Gudrun Guttenberger: Das erzählte Ich. Beobachtungen zur Erzählung des Aufenthalts des Paulus in Thessaloniki (269–290). Es geht in diesem Beitrag um die 1. Person Plural (270–275) und die 1. Person Singular (275–281) im 1. Thessalonicherbrief. Nach Guttenberger tritt Paulus als „Ich-Erzähler … in 1Thess 2,18; 3,5 aus der Verborgenheit im Missionsteam heraus, als diejenige Figur, die den persönlichen, durch räumlich-körperliche Anwesenheit ausgezeichneten Kontakt besonders wünscht und unter seinem Fehlen besonders leidet“ (277). Umgekehrt wird das „erzählte Wir, in dem sich der Ich-Erzähler mit den beiden genannten Ausnahmen birgt, … vor allem betend gezeigt“ (279). Im Anschluss daran geht es um den Gründungsaufenthalt des Paulus in Thessaloniki (281–285) und die Abwesenheit des Paulus von der Gemeinde (285–288). Im Fazit wird u. a. die Annahme geäußert, dass Paulus es als Fehler gesehen haben könnte, „Thessaloniki nach kurzer Wirkungszeit zu verlassen“ (290).

Matthias Konradt: „Um Gott zu gefallen“ (1Thess 4,1). Paulus’ ethischer Ansatz in 1Thess 4,1–12 und die Kontroverse um den „frühen Paulus“ (291–310). Konradt untersucht vor allem den Zusammenhang zwischen der Erwartung der Wiederkunft Jesu und der Aufforderung zum Leben in der Heiligung im 1. Thessalonicherbrief im Vergleich zum „späteren Paulus“. Dabei betont er, dass Paulus die Heiligung in 1Thess 4 „nicht unter die Adiaphora zählt“, und im Vergleich zu anderen Paulusbriefen werde deutlich, dass „die pneumatologische Dimension der Ethik bereits im 1. Thessalonicherbrief zutage tritt“ (298). Auch lasse sich im Vergleich zwischen 1Kor 5–7 und 1Thess 4,3–5 „kein Wandel der sexualethischen Position von Paulus registrieren“ (305).

Friedrich Wilhelm Horn: Gut und Böse als Maßstab der Ethik (311–323). Horn kommt in seiner Untersuchung u. a. zum Schluss, dass das Tun des Guten in den frühen Paulusbriefen „eine wesentliche Zielbestimmung des christlichen Handelns“ sei (322) – und zwar als eine „eschatologische Ausrichtung“ (315) – und das gut und schlecht bzw. böse „nicht als Oberbegriffe für eine Orientierung an den Geboten, der Liebe, den Worten des Kyrios, dem Willen Gottes u. a. verwendet“ werden. „Gut steht als ein grundlegender Wert und als ein Ziel für sich“ (323).

Andreas Lindemann: Und was kommt danach? Die Auferstehung der Toten nach 1Thess 4,13–18 und 1Kor 15 (325–363). Lindemann vergleicht 1Thess 4,13–18 mit 1Kor 15,1–58. Während einige Unterschiede (z. B. die Länge der Texte; 358f) betont werden, folgert Lindemann: „In beiden Briefen setzt Paulus voraus, gegenwärtig lebende Menschen würden die Parusie erleben“ (360). Auf 1Kor 6,14, wonach Gott, der „den Herrn auferweckt hat“, „auch uns durch seine Macht auferwecken“ wird, geht Lindemann allerdings nicht ein (vgl. 344, Anm. 124, wo die Stelle erwähnt, aber nicht weiter beachtet wird). Wenn Paulus in 1Kor 15,50 betont, dass „Fleisch und Blut die Gottesherrschaft nicht erben“ können, so ist für Lindemann damit eine Entrückung im Sinn von 1Thess 4,15 ausgeschlossen (353). Warum, wird jedoch nicht gesagt.

Christof Landmesser: Was ist präsentische Eschatologie nach dem 1. Thessalonicherbrief? Zur Ambiguität christlicher Existenz in der Theologie des Paulus (365–381). Landmesser betont, indem er von 1Thess 4,13–18 ausgeht, dass die „futurische Eschatologie … notwendig eine präsentische Dimension“ habe (366). Ähnliches erkennt Landmesser z. B. in 1Thess 5,9f (371ff). Und er schlussfolgert: „Jede eschatologische Äußerung des Paulus in diesem Brief hat hinsichtlich ihrer Pragmatik eine präsentische Dimension“ (378f). Die Grundlage dafür liegt demnach „im Tod und in der Auferweckung des Gottessohnes“ (379).

Udo Schnelle: Der Paulus des 1. Thessalonicherbriefes (383–405). Unter der Überschrift „Methodik und Befund“ betont Schnelle einleitend, dass sich die Theologie der Paulusbriefe zunächst allein aus dem ergibt, „was im Brief steht“. In 10 Punkten fasst Schnelle daraufhin die Inhalte des 1. Thessalonicherbriefs zusammen und ergänzt diese anschließend mit „verwandten Themen“ im gleichen Brief (387f). Folgend geht es dann um die „Vorgeschichte“, nämlich um „Damaskus, den Apostelkonvent und vorpaulinische Traditionen“ (389–396) und um die „Nachgeschichte“ in den zwei Korintherbriefen (396–400). In dieser „Nachgeschichte“ geht es u. a. um die Rechtfertigung in 1Kor 4,4 und 6,11. Schnelle spricht diesbezüglich von einer „Gerechtmachung“, die „effektiven Sinn“ hat, denn „der Getaufte ist durch die Taufe gerecht, seine Sünde ist getilgt“ (397). So sagt es Paulus allerdings nicht. Vielmehr wird der Mensch durch Jesus Christus und seinen Tod „gerecht gemacht“, indem er an Jesus Christus gläubig wird, wozu dann auch die Taufe gehört. Abschließend behandelt Schnelle den 1. Thessalonicherbrief „als Zeugnis frühpaulinischer Theologie“ (400–405). Dabei formuliert er folgende These: „Die Vielzahl der Besonderheiten und damit die Gesamtheit des Befundes rechtfertigen es, den 1. Thessalonicherbrief als Zeugnis frühpaulinischer Theologie im sachlichen wie im zeitlichen Sinn zu klassifizieren“ (404).

V. Kontinuität und Diskontinuität reflektiert am 1. Thessalonicherbrief

Oda Wischmeyer: Εὐαγγέλιον im 1. Thessalonicherbrief und im Philipperbrief. Gibt es eine Entwicklung des Begriffs bei Paulus? (407–421). Wischmeyer geht nach einer Einführung auf „Datierungsfragen und Biographie des Paulus“ ein (410–418), bevor sie den Begriff „Evangelium“ im 1. Thessalonicherbrief (415–418) und im Philipperbrief (418–420) untersucht. Abschließend wird betont, dass „wir“ in Bezug auf den Gebrauch des Begriffs „Evangelium“ bei Paulus, der „seine eigene Mission in allen ihren Aspekten“ beschreibt, „eine große Bedeutungskonstanz während der gesamten uns überlieferten paulinischen Korrespondenz“ finden (421). Den Unterschied zum Philipperbrief sieht Wischmeyer vor allem darin, dass Paulus den „Konflikt mit der römischen Staatsmacht“ um 50/51 n. Chr. „so wohl noch nicht gesehen“ habe (421).

Stefan Schreiber: Die Glaubwürdigkeit des Apostels und die Frage des Unterhalts. 1Thess 2,1–12 im Vergleich mit Texten aus den Korintherbriefen (423–444). Schreiber beschreibt zuerst die „gute Erinnerung an Paulus in 1Thess 2,1–12“ (423–428), und anschließend geht er auf das „Beispiel des Paulus in 1Kor 9,3–18“ (428–434) sowie auf die „Reaktion des Paulus auf Vorwürfe in 2Kor 11,7–11; 12,13–18“ (434–440) ein. In der „Auswertung“ (440–444) wird das Ergebnis in vier Punkten zusammengefasst. Dabei wird u. a. festgestellt, dass die „Komplexität der Gesprächssituationen … vom 1. Thessalonicherbrief bis zum 2. Korintherbrief“ zunimmt (441).

Markus Tiwald: Kontinuität und Wandel im Schriftgebrauch des Paulus. Schriftverwendung im 1. Thessalonicherbrief im Vergleich mit Texten aus dem Römerbrief (445–460). Nach einer allgemeinen Einführung zum „Schriftgebrauch bei Paulus“ (446–448) zeigt Tiwald in einem „statistischen Überblick“ (448–451) auf, wie oft in den unumstrittenen Paulusbriefen die Begriffe „Schrift“ (γραφή) bzw. „schreiben“ (γράφω) in direkten und indirekten Schriftzitaten verwendet werden (448f). Anschließend vergleicht er die „Anspielungen“ auf das Alte Testament im 1. Thessalonicherbrief (451–456) mit den „Wandlungen im Schriftgebrauch“ im Vergleich zu Röm 9–11 (451–460). Obwohl Tiwald dabei „eindeutig eine Veränderung im Schriftgebrauch des Paulus“ erkennt, betont er andererseits, dass sich „gerade hier auch eine gewisse Kohärenz im Denken des Paulus feststellen“ lasse (460). Es wäre jedoch zu beachten, dass Paulus auch z. B. im späteren Philipperbrief das Alte Testament nicht zitiert und sich direkt auch nicht daran anlehnt.

Dieter Sänger: Paulus und sein Blick auf Israel. Vom 1. Thessalonicherbrief über den Galater- zum Römerbrief (461–490). Sänger geht u. a. auf die Entstehung und Chronologie der paulinischen Briefe ein (467–472). Zuerst wird dabei auf die Frage nach Empfängerschaft und Datierung des Galaterbriefs behandelt, wobei verschiedene Positionen dargelegt werden (467f). Sänger untersucht die „Israelperspektive im 1. Thessalonicherbrief“ (472–478), dann „Israel und die Völker im Galaterbrief“ (478–483) und „Die Antwort im Römerbrief“ (483–487). Unter der Überschrift „Ergebnisse“ (488–490) wird die Frage gestellt, ob bei Paulus diesbezüglich „substantielle Wandlungen“ feststellbar seien (488). Die Antwort lautet: „Ja und Nein. Nein, weil Paulus von einer Linie nicht abweicht: Allein der Christusglaube hat soteriologische Effizienz“ (488). Andererseits sieht Sänger eine „substantielle Wandlung“ von 1Thess 2,16 bis zum Römerbrief (489), wobei jedoch zu beachten ist, dass Paulus in 1Thess 2,16 von „Juden“ spricht – und dabei offensichtlich führende Juden meint –, während es in Röm 9–11 um die Frage nach der bleibenden Erwählung Israels (!) geht.

Eve-Marie Becker: Der frühe Briefeschreiber Paulus als alternder Mann. Vom 1. Thessalonicherbrief zum Philipperbrief (491–505). Becker fragt zuerst, warum Paulus nicht früher Briefe geschrieben habe (491–493). Die Antwort wird darin gefunden, dass das Briefschreiben bei antiken Autoren vor allem „als Alterswerk“ erkannt wird (493–497). Daraus wird gefolgert, dass auch Paulus erst als „alternder Paulus“ angefangen hat, Briefe zu schreiben (497f), bevor auf „Lebensdauer und Lebensalter in der antiken Welt“ eingegangen wird (499–501). Es folgt ein Vergleich zwischen dem 1. Thessalonicherbrief und dem Philipperbrief (501–504). Zusammenfassend wird dann betont, dass zwischen den zwei Briefen „ein weiterer Schritt in die wohl letzte Lebensstufe des Apostels zu erkennen“ sei, und zwar mit einem Hinweis auf Phlm 9 (und Phil 1,7ff), wo Paulus sich als „alten Mann“ bezeichnet, aber in Wirklichkeit das Greisenalter erreicht habe, was im 1. Thessalonicherbrief noch nicht der Fall sei (505). Die verschiedenen Aufsätze enthalten einige hilfreiche Aspekte, einiges erscheint jedoch „gezwungen“, indem nach einer „Entwicklung“ bei Paulus gesucht wird. Ein „Systemfehler“ ist m. E. vor allem, dass der Galaterbrief wiederholt als Beleg für einen „späteren Paulus“ dient.


Dr. Jacob Thiessen, Professor für Neues Testament an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel