Historische Theologie

Karsten Schmidtke: Jonathan Edwards

Karsten Schmidtke: Jonathan Edwards. Sein Verständnis von Sündenerkenntnis, Eine theologische Einordnung, Nürnberg: VTR, 2022, Pb., 414 S., € 39,80, ISBN 978-3-95776-143-9


Mit dieser gelehrten Untersuchung wurde der Verfasser 2019 unter der Fachbegleitung von Christof Sauer an der University of South Africa (UNISA) promoviert, nachdem er zuvor 15 Jahre lang als baptistischer Gemeindepastor in Deutschland gearbeitet hatte. Heute ist er in zwei Missionswerken als Gastdozent tätig und arbeitet als freier Trau- und Trauerredner sowie als Musiker.

Die Untersuchung widmet sich dem großen nordamerikanischen Erweckungstheologen und -prediger Jonathan Edwards (1703–1758). Dieser hat als puritanischer und kongregationalistischer Gemeindepastor zusammen mit dem methodistischen Evangelisten George Whitefield das später sog. Great Awakening (1740–42) geprägt und damit den Erweckungsgedanken bis heute in der amerikanischen Frömmigkeit verankert. Obwohl seine Schriften einen wichtigen Bezugspunkt nordamerikanischer Theologie darstellen, wurde Edwards in Deutschland vergleichsweise wenig beachtet. Dass er aber heute bei vielen Evangelikalen diesseits und jenseits des Atlantiks auf Interesse stößt, zeigt u. a. die hier zu besprechende Untersuchung. Das Thema „Sündenerkenntnis“, auf das sich der Verfasser bei Edwards konzentriert, ist nicht allein von historischer oder systematisch-theologischer Bedeutung, sondern auch praktisch-theologisch relevant, wehren sich doch heute viele Christen wie Nichtchristen gegen die negativen Gefühle, die sie beim Stichwort „Sünde“ beschleichen.

Der Verfasser will mit seiner Untersuchung zwei Forschungsfragen beantworten: „Was bedeutete Sündenerkenntnis im Denken Jonathan Edwards’? Was verbanden seine Zeitgenossen mit dem Begriff?“ (21). Der erste Hauptteil (mit 70 Seiten) ist der Beantwortung der ersten Frage gewidmet, der zweite Hauptteil (mit 138 Seiten) der Beantwortung der zweiten Frage. Der dritte Hauptteil (mit 127 Seiten) geht über diese Fragen hinaus und fragt nach den Wurzeln von Edwards’ philosophischem und theologischem Denken. Mit diesen Überlegungen schließt der Verfasser seine Untersuchung ab.

Bei Edwards’ Begriff von Sündenerkenntnis unterscheidet der Verfasser (leider ohne hinreichende Begründung) zwischen „philosophischen Voraussetzungen“ und „theologischen Grundlagen“. Zu den philosophischen Voraussetzungen rechnet er den sog. „Herzenssinn“ des Menschen, der zugleich eine „einfache Idee“ im Sinne John Lockes sein soll, sowie überraschenderweise auch die vom Heiligen Geist gewirkte „Erleuchtung“ des Menschen, obwohl letztere doch wohl eher eine theologische als eine philosophische Kategorie ist. Zu den theologischen Grundlagen zählt der Verfasser (in dieser Reihenfolge!) die reformierte Föderaltheologie (die Edwards übrigens nationalistisch zuspitzt, indem er die Puritaner in Nordamerika „God’s own people“ nennt), die calvinistische Erwählungslehre, die puritanische Präparationslehre (derzufolge der Heilige Geist Menschen durch Weckung von Sündenerkenntnis auf die Bekehrung vorbereitet), die Lehre, dass das biblische Gesetz zur Sündenerkenntnis führt, sowie Edwards’ Rhetorik, die auf Stimulation von Gefühlen zielt.

Im zweiten Hauptteil vergleicht der Verfasser Edwards’ Philosophie und Theologie der Sündenerkenntnis mit Personen aus seinem Umfeld, wobei er gewissermaßen einen zeitlichen Kreis um Edwards und das Great Awakening schlägt und darin 16 Autoren versammelt, die in persönlicher oder sachlicher Nähe zu Edwards standen. Dazu rechnet er nicht nur Edwards’ Großvater S. Stoddard (1643–1729) und Edwards’ Enkel T. Dwight (1757–1817), sondern auch Theologen und Prediger wie N. L. Graf von Zinzendorf, J. Wesley, Ch. G. Finney und Ch. H. Spurgeon. Diese Autoren befragt er nach den drei philosophischen und den fünf theologischen Überzeugungen, die er bei Edwards gefunden hat. Das Ergebnis des Vergleichs lautet wenig überraschend, dass sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede feststellen lassen.

Interessanter ist der dritte Hauptteil. Der Verfasser greift hier auf Augustinus, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, Johannes Calvin, die altreformierten Theologen François Turrettini (der Verfasser schreibt immer Francisco Turretino) und Petrus van Mastricht, die Cambridge Platonists sowie die Philosophen Alexander Richardson, John Locke, George Berkeley und Nicholas Malebranche zurück. Bei einer solchen Menge an Vergleichsgrößen kann der Verfasser kaum in die Tiefe gehen. Dementsprechend endet die Untersuchung zu den „philosophischen“ Begriffen mit dem Ergebnis, „dass es schon vor Jonathan Edwards viele Denker gab, die sowohl eine Illuminations-, als auch eine Sinnes- und Ideenlehre vertreten haben“ (304). Der Vergleich der „theologischen“ Konzepte deckt erneut sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede auf. Als Ergebnis dieses Hauptteils hält der Verfasser fest, „dass das Verständnis von Sündenerkenntnis bei Jonathan Edwards letztlich auf den philosophischen Voraussetzungen der vorreformatorischen Zeit und den theologischen Grundlagen der Reformation beruht“ (367). Für das Vorreformatorische steht vor allem Augustinus. In seiner „Bilanz“ führt der Verfasser noch weitere Vergleiche durch. So wird dort Edwards’ Bekehrungsverständnis mit zahlreichen Konversions- und Emotionstheorien von heute verglichen – mit dem Ergebnis, dass einige Theorien zu ihm passen, andere wieder nicht.

Im Fazit des Verfassers steht als wesentliches Ergebnis der Untersuchung: „Sündenerkenntnis geschieht [bei Edwards] letztlich als Illumination durch das Wirken des Heiligen Geistes und durch das Vergleichen des Menschen mit dem Gesetz Gottes“ (365). Das klingt, als sei Sündenerkenntnis eine Erleuchtung, die durch das Handeln Gottes und das Handeln des Menschen zustande kommt. Andererseits soll Edwards aber gelehrt haben, dass die Bekehrung des Sünders allein Gottes Handeln sei. Aber vielleicht will der Verfasser gar nicht sagen, dass der Mensch sich selbst mit dem göttlichen Gesetz vergleicht, sondern dass Gott den Menschen an seinem Gesetz misst und ihn deshalb verurteilen muss. Dann würde die Sündenerkenntnis durch ein zweifaches göttliches Wirken zustande kommen, nämlich durch den Geist und durch das Gesetz. Daraus entstünde dann die Frage, welches der spezifische Beitrag des Geistes und welches der des Gesetzes ist, bzw. ob der Heilige Geist neben oder durch das Gesetz die Sündenerkenntnis wirkt. Und warum kommt Sündenerkenntnis aus dem Gesetz und nicht aus dem Evangelium? Wie also bestimmt Edwards das Verhältnis von Gesetz und Evangelium sowie von Wort und Geist Gottes? Diese Fragen werden leider gar nicht oder nur oberflächlich behandelt. Lesevergnügen bereitet die Arbeit nicht. Dazu ist der Stil zu hölzern und redundant, und die Methodik wird allzu mechanisch angewandt. Inhaltlich dominiert die Materialdarbietung, die sich stark auf den Begriffsgebrauch konzentriert und mit zahlreichen Bezügen auf Sekundärliteratur verbunden ist. Obwohl man in der Menge des Stoffs nur schwer das Wesentliche entdecken kann, ist die Materialfülle doch auch der Grund, warum man das Buch nicht ohne Nutzen liest, und warum es in wissenschaftlichen Bibliotheken nicht fehlen sollte. Wenn man sich vom Verfasser etwas wünschen dürfte, dann eine Untersuchung zum Bekehrungsverständnis, in der er die Linien vom Puritanismus bis heute zieht. Die Voraussetzungen dafür hätte er, und für das Verständnis erwecklicher Frömmigkeit in Deutschland (speziell in den Freikirchen) wäre damit viel gewonnen.


Professor Dr. Uwe Swarat, Berlin