Christopher Spehr / Harry Oelke (Hg.): Das Eisenacher ‚Entjudungsinstitut‘
Christopher Spehr / Harry Oelke (Hg.): Das Eisenacher ‚Entjudungsinstitut‘. Kirche und Antisemitismus in der NS-Zeit, Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen 82, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, geb., 395 S., € 39,–, ISBN 978-3-525-55797-6
Der Rezensent kam zum ersten Mal 2006 mit dem Thema „Entjudungsinstitut“ in Berührung. „Da soll es eine Einrichtung gegeben haben“ – „deutsch-christlich bearbeitetes Neues Testament“ – „ganz schrecklich“ und ähnlich lauteten damals die ersten Kommentare. Fünfzehn Jahre später zeigt dieser Aufsatzband die Fortschritte in der Erforschung dieses höchst problematischen Instituts, das man wie andere peinliche Auswüchse der Nazi-orientierten Kirche und Gesellschaft in der Nachkriegszeit sehr schnell vergessen und verschwiegen hat.
Die siebzehn Aufsätze können hier auf dem für Buchbesprechungen vorgesehenen Raum nicht adäquat besprochen werden. Aber der Eindruck, den die Beiträge hinterlassen, wird hoffentlich viele zur weiteren Vertiefung des wichtigen Themas ermutigen!
Alle Essays gehen auf eine Tagung über das Eisenacher „Entjudungsinstitut“ im September 2019 zurück, 80 Jahre nach dessen Gründung kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs (Vorwort, 9f; Einführung, 13). Die beiden Herausgeber Christopher Spehr und Harry Oelke skizzieren die Horizonte des Themas in Wissenschaft und Landeskirche bzw. vor Ort in Eisenach. Ein neues Miteinander von Christen und Juden sowie die Zusammenarbeit von Kirchengeschichtlern und Antisemitismusforschern eröffnet ein fruchtbares Feld für weitere interdisziplinäre Untersuchungen (Einführung, 13–26).
Im 1. Teil der Sammlung beleuchten vier Autoren Vorgeschichte und Kontexte der Eisenacher „Entjudungs“-Programmatik (37–116). Uwe Puschner gibt kenntnisreich einen Überblick über völkische Bewegungen und ihre Weltanschauung, neuheidnische, germanische und deutschchristliche Vorstellungen und Gruppierungen in der langen Jahrhundertwende (39–64). Wolfgang Benz stellt Houston Stewart Chamberlain und andere Protagonisten des Antisemitismus im 20. Jahrhundert vor (65–81). Vor und neben dem Eisenacher Institut gab es drei weitere „Forschungseinrichtungen“ mit eindeutig antisemitischer Zielsetzung (78). Thomas Martin Schneider widmet sich mit den „Deutschen Christen“ und ihrer „Rassentheologie“ der Kirchenpartei, die den meisten Theologen durch den Kirchenkampf als gegnerische Position zur Bekennenden Kirche bekannt ist (83–98). Schneider deutet die DC als „moderne Bewegung mit konservativen Zügen“ (92), die trotz volksmissionarischem Interesse Theologie und Bekenntnis vernachlässigt und die Politik in den Vordergrund gerückt habe (87). In seinem Beitrag über „Judenforschung“ im „Dritten Reich“ stellt Dirk Rupnow „Institutionen, Konzepte und Dynamiken einer NS-Musterwissenschaft“ zusammen (99–116). Institute, universitäre Lehraufträge und wissenschaftliche Forschungsarbeiten konnten sich in der kurzen Zeit ihrer Existenz kaum etablieren und haben eher divergente Forschungswege beschritten (106f).
Im 2. Teil „Das ,Entjudungsinstitut‘“ (117–222) beschäftigt sich zunächst Christian Wiese mit dem jüdischen geistigen Widerstand gegen die Antisemitismusforschung, besonders am Beispiel von Leo Baeck und Rafael Straus (119–154). In einem weiteren Beitrag fasst Oliver Arnhold die Grundgedanken des „Kampfes für die Entjudung des religiösen Lebens“ zusammen (155–176). Aufgabe des Instituts sollte vorrangig sein, die nationalsozialistische Weltanschauung theologisch zu legitimieren und eine „judenfreie“ Theologie und Kirche zu schaffen (vgl. 163). Die bereitwillige Mitarbeit zahlreicher Theologen und Kirchenmänner belegt nach Arnhold u. a., „dass die Theologie als geisteswissenschaftliche Disziplin besonders ideologieanfällig und instrumentalisierbar ist“ (ebd.). Im Gegensatz zu dieser Anbiederung kirchlicher Kreise an NS-Ideologie stand wachsendes Desinteresse und verstärkte Ablehnung der Kirchen in führenden Kreisen der NS-Partei (167).
Matthias Morgenstern stellt im folgenden Aufsatz Walter Grundmann als Schüler des Tübinger Neutestamentlers und Judaisten Gerhard Kittel dar (177–195). Siegfried Hermle geht der Frage nach, wie die bekennende Kirche das „Entjudungsinstitut“ wahrgenommen hat (197–222). Starken Wirkungen der Institutsarbeit in Thüringen stehen zurückhaltend-abwägende bis kritische Stellungnahmen aus den im „Lutherrat“ zusammengeschlossenen drei „intakten“ lutherischen Landeskirchen in Bayern, Hannover und Württemberg und aus Bruderräten deutschchristlich dominierter lutherischer Kirchen gegenüber (201). Die Beurteilungen durch das organisierte Luthertum zeigen, „dass einerseits im Blick auf die generelle Aufgabenstellung des Instituts allenfalls eine vorsichtige Distanzierung erfolgte, während andererseits dessen konkrete Arbeitsergebnisse eine klare Zurückweisung erfuhren“ (203–204).
Der dritte Teil enthält vier Fallstudien (223–266), von denen sich nur zwei direkt mit dem Eisenacher „Entjudungsinstitut“ beschäftigen. Als erste referiert Mirjam Loos über die Redewendung „jüdisch bolschewistische Weltgefahr“ im deutschsprachigen Protestantismus (225–233). Als nächster beschreibt Dirk Schuster, wie in den Arbeiten des Eisenacher Instituts Religionswissenschaft instrumentalisiert wurde (235–243).
Die dritte Autorin, Elisabeth Lorenz, hat eine ausführliche Dissertation über das deutsch-christliche Neue Testament „Die Botschaft Gottes“ vorgelegt. In ihrem Beitrag zum vorliegenden Aufsatzband untersucht sie, wie durch Rezeption und Redaktion von neutestamentlichen Aussagen in der „Botschaft Gottes“ ein deutsch-christliches Jesusbild konstruiert wurde (245–256). Schließlich begibt sich Rebecca Scherf auf die Suche nach Spuren des aus Brasilien zurückgekehrten Auslandspfarrers Erich B., der während des Dritten Reiches in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert war und aufgrund erfolglos verlaufener Bewerbung in Deutschland nach Lateinamerika zurückkehrte (257–266).
Der vierte Teil ist dem Thema „Wirkungen und Aufarbeitung“ gewidmet (267–386). Michael Weise sammelt und analysiert in seinem Aufsatz Stellungnahmen und Rechtfertigungsversuche ehemaliger Institutsmitarbeiter (H. Ermisch, H. Dungs, A. von Ungern-Sternberg, H.-E. Eisenhuth, W. Kretzschmar) in der späteren SBZ (269–286). Herbert von Hintzensterns spätere Deutung der Institutsarbeit ist Gegenstand eines Beitrags von Jochen Birkenmeier (287–304). Stephan Linck stellt dar, wie lutherische Kirchen in Norddeutschland mit ihrer NS-Vergangenheit und mit Antisemitismus umgingen (305–329).
Der Überblicksartikel von Susannah Heschel zur Historographie des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ (331–357) müsste sachlich eigentlich den ganzen Aufsatzband eröffnen. Deshalb sei dem Leser zumindest empfohlen, diesen Beitrag an den Anfang seiner Lektüre zu stellen. Der letzte Beitrag des Buchs stammt aus der Feder von Veronika Albrecht-Birkner, die über verschiedene Sichtweisen des Verhältnisses von Christentum und Judentum in DDR und BRD nach dem Zweiten Weltkrieg referiert (359–385). Der Sammelband ist eine praktische Zusammenstellung unterschiedlicher Wege der Forschung zur theologisch fragwürdigen Arbeit des Eisenacher „Entjudungsinstituts“. Ein angemessener Verkaufspreis ermöglich es auch den am Thema interessierten Studierenden, das Buch zu erwerben. Nachdenklich macht die theologiegeschichtliche Überlegung, dass die fehlgeleitete Hermeneutik und Exegese deutsch-christlicher Kreise nur ein Beispiel des generellen Problems einer von gesellschaftlichen und politischen Interessen ausgehenden Theologie darstellt. In dieser Hinsicht gäbe es seit den 1960er Jahren in den Landeskirchen einiges aufzuarbeiten.
Pfarrer Dr. Jochen Eber, Steinen